Die politische Lage in der EU stellt sich heute sehr diffus dar. Unsicherheit hat sich breit gemacht, auch das Gefühl, dass die Dinge sich radikal ändern könnten – auch wenn wir nicht genau wissen, in welche Richtung.
Von Andreas Thomsen*
Zentral ist die kombinierte Schulden-, Finanz- und Währungskrise. Es war und ist tatsächlich eine Krise mit sehr vielen unterschiedlichen Erscheinungen und Phänomenen. Aber eines hat sich gezeigt: Der Euro als gemeinsame Währung funktioniert nicht, so wie er angelegt ist. Oder genauer: Er funktioniert nur für bestimmte Kreise, nur für ausgewählte EU-Länder, nur für bestimmte Industrien.
Als der Euro ins Wackeln geriet, da wurden die betroffenen Länder unter sehr harte Auflagen gestellt. Griechenland wurde praktisch zwangsverwaltet. Und den Regierungen in Berlin, Paris und Brüssel fiel nichts anderes ein, als tief in die neoliberale Werkzeugkiste zu greifen: Schuldenabbau, Privatisierungen, harte und brutale Austeritätspolitik, durchgesetzt unverhohlener Erpressung.
Die Krise ist vorerst in ihren deutlichsten Erscheinungen überwunden. Doch die Arbeitslosigkeit in Spanien, in Italien und in Griechenland ist höher denn je, die Sozialsysteme dieser Staaten wurden einschneidend beschädigt. Und die Regierungen dieser Länder haben keinen Handlungsspielraum, um die Konjunktur wieder ins Laufen zu bringen. Eine Reihe Regierungen in der EU rufen nach Reformen der Grundlagen der EU, nach einem Ende der Austeritätspolitik und nach einer Vertiefung, ja nach einer Vollendung der Währungsunion. Das von Macron liberal regierte Frankreich, das rechtsradikal regierte Italien, das links regierte Griechenland, Spanien, Portugal und einige weitere wollen das. Sie stoßen in Brüssel und Berlin auf Granit.
Vielleicht gibt es eine Beobachtung, die wir in vielen Ländern, auf vielen Kontinenten machen können: Der Neoliberalismus mit all seinen ökonomischen Dogmen hat seinen Rückhalt, seine Legitimation verloren. Und doch sind die Dogmen des Neoliberalismus nach wie vor politisch beherrschend, sie sind nach wie vor das Mittel der Wahl der politischen und ökonomischen Eliten. Der Neoliberalismus ist eine ökonomische Ideologie, die es ermöglicht, sehr schnell und sehr umfangreich von unten nach oben und von öffentlich zu privat umzuverteilen.
Das war in den 1980er und 90er Jahren noch nicht so deutlich erkennbar. Heute liegt es klar auf der Hand. Und diese Eindeutigkeit ist es, die die neoliberale Politik nun in Schwierigkeiten bringt. Für eine geraume Weile, und ganz besonders in den 2000er Jahren war es die politische Linke, die die Dogmen des Neoliberalismus in Frage stellte. Und sie kritisiert ihn ja immer noch.
In Europa wurde das neoliberale Projekt von konservativen, liberalen und ganz besonders auch sozialdemokratischen Parteien getragen und umgesetzt. Spätestens mit der Eurokrise, in der der neoliberale Kapitalismus ja wirklich ganz deutlich zeigte, dass er eben nicht Wohlstand für alle schaffen kann, in der der Charakter dieser Politik ganz deutlich wurde, ereignete sich – zeitversetzt – ein politisches Erdbeben in den Ländern der Europäischen Union.
Die sozialdemokratischen Parteien verloren beinahe jeden Massenrückhalt. Die ehemalige starke Regierungspartei in Griechenland, die PASOK, wurde zum Synonym. „PASOKisierung“ ist heute ein geläufiger Begriff. Die PASOK kämpft heute darum, überhaupt noch Parlamentssitze zu erringen. Die französischen Sozialist*innen haben heute den Status einer Kleinpartei, die Parteizentrale in Paris wurde verkauft. Die niederländische Partei der Arbeit ist ebenso zusammengebrochen. In Spanien, in Deutschland oder in Skandinavien behaupten sich sozialdemokratische Parteien, allerdings auf deutlich niedrigerem Niveau. Zwischenzeitliche singuläre Erfolge können den Trend nicht wirklich verdecken.
Und aus Parteien, die teils schon existierten, teils neu gegründet wurden, ist eine politische Bewegung entstanden, die den neoliberalen Konsens in Frage stellt, dem „Volkszorn“, wenn man das so nennen will, eine Stimme verleiht, uralte Ressentiments aufruft und besondere Rücksichtslosigkeit als politisches Leitbild formuliert. Ich glaube, ich kann heute kaum mehr als zwei Länder in der Europäischen Union nennen, in der die Rechtspopulisten keine politisch bedeutsame Rolle spielen.
Die Rechtspopulisten haben in den Ländern ein unterschiedliches Auftreten, teilweise unterscheiden sie sich auch in einigen Inhalten, auch in der Radikalität, aber sie haben eine erkennbar ähnliche Strategie und im Kern haben sie die gleichen Inhalte. Bei den nun anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament könnten die Rechtspopulisten, Rechtsradikalen, Ultrakonservativen – wie man sie auch nennen will – zweitstärkste, möglicherweise auch stärkste Kraft werden.
Drei Thesen
1. Die Rechtspopulisten formulieren rückwärtsgewandte Kritik an Neoliberalismus, Globalisierung und Individualisierung. Damit haben sie formal Gemeinsamkeiten mit den italienischen und deutschen Faschisten bzw. Nationalsozialisten der 1920er und 30er Jahre. Diese setzten der arbeitsteiligen und sozial mobileren Industriegesellschaft der Moderne das Bild der „nicht entfremdeten“ Volksgemeinschaft, des Ständestaates, an der jeder und jede seinen Platz habe, entgegen. Den Rechtspopulisten gelingt es nun, das Bild einer sozial ausgeglichenen aber geschlossenen Gesellschaft als Ideal zu entwerfen und populär zu machen. Für die traditionelle Wählerschaft der Sozialdemokratie kann dies eine verführerisch vereinfachte Erzählung sein.
2. Deswegen sind alle rechtspopulistischen Parteien dreierlei: Sie sind nationalistisch, anti-feministisch und rassistisch. Das ist der Kern ihrer Politik. Auch wenn sie in verschiedenen Fragen abweichende Haltungen haben, diese Kernpunkte werden sie immer in der Fahne tragen. Sie müssen nationalistisch sein, da sie eine – im Zweifel leidende – Volkseinheit konstruieren müssen, die eben durch die Globalisierung bedroht ist. Sie müssen rassistisch sein, weil eine Volkseinheit sowohl nach außen, als auch nach innen abgegrenzt sein muss. Natürlich wollen sie ja auch nicht über Klassen reden, sie reden über Völker und verwischen die tatsächlichen Trennlinien. Und sie müssen anti-feministisch sein. Das müssen sie nicht nur deswegen, weil eben angeblich „alle an ihren Platz“ gehören, sondern vor allem, weil die Individualisierung von Lebensentwürfen, von Berufswegen, sexuellen Ausrichtungen usw. für sie der deutlichste lebensweltliche Ausdruck dafür ist, dass das, was sie als alte Ordnung verstehen, bedroht oder verloren sei. Natürlich geht es um Privilegien. Privilegien der Deutschen gegenüber den Syrern, Privilegien der Weißen gegenüber den Schwarzen, Privilegien der heterosexuellen Männer gegenüber Frauen, Schwulen, Lesben und was sie sonst noch alles stört. Die Basis der europäischen rechtspopulistischen Parteien besteht in der großen Mehrheit aus: Weißen, nicht-migrantischen Männern. Übrigens schon auffällig einer bestimmten Altersgruppe ab etwa 45 bis 70. Das ist in Westdeutschland die Gruppe, die den Wohlfahrtsstaat noch, den Krieg aber nicht mehr erlebt hat.
3. Die europäischen Rechtspopulisten setzen auf Massenbasis durch demokratischen Zuspruch. Ihre historischen Vorbilder, die italienischen und deutschen Faschisten und Nationalsozialisten waren nicht nur überzeugte Antidemokraten, sie machten daraus auch keinen Hehl und erledigten die Demokratie, sobald sie dazu in der Lage waren. Sie verfügten aber auch über organisatorische Massenbasis, es war die Zeit der, noch von der Arbeiterbewegung inspirierten Massenorganisationen. Die Rechtspopulisten bauen keine stabile organisatorische Massenbasis mehr auf. Ich bin überzeugt, die Rechtspopulisten in Europa lieben die Demokratie nicht, aber sie nutzen sie, sie deformieren und sie instrumentalisieren sie. Und obwohl sie die Demokratie angreifen und beschädigen, sobald sie regieren: Bislang hat keine mir bekannt rechtspopulistische Regierung dieses Typs die Demokratie abgeschafft. Faschismus mit demokratischem Antlitz, könnte man sagen.
Und was machen die Linken?
Die Frage der Gegenstrategien ist die Schwierigste. Und man kann sicher sagen: Die Europäische Linke befindet sich in intensiven Diskussionen darüber. Eine Lösung hat sie nicht und die Frage ist sehr offen. Ich glaube aber, es gäbe gute Anhaltspunkte, wenn man sich ansieht, wie einige linke politische Parteien in Europa agieren. Wenn es wahr ist, dass die Rechtspopulisten die Kritik des Neoliberalismus rückwärtsgewandt formulieren, dann werden sie darin immer besser sein als die Linke. Denn die Basis dieser Kritik sind Lügen, Vereinfachungen und Ressentiments.
In diesen Chor darf die Linke nicht einstimmen. Linke Kritik am Neoliberalismus wird also Individualisierung nicht in Frage stellen, sondern ihre Potentiale hervorheben und sie mit Solidarität verknüpfen. Linke Kritik an der Globalisierung kann auch nicht dazu führen, dass wir unsere Grenzen schließen, Migration beenden (die sowieso nicht zu beenden ist), sondern dass wir das ungehinderte Fließen und Wirtschaften des Kapitals beenden. Alle Staaten müssen daran interessiert sein.
Also sollte sich die Linke als dritter Pol neben der Ultrarechten und den Neoliberalen aufstellen und die eigene Kritik an der Barbarei des Neoliberalismus nicht von den Barbaren von rechts inspirieren lassen. Dabei ist es dann wichtig, eben jene Kräfte zu verbinden, die die Rechtspopulisten auseinandertreiben und spalten wollen.
Das Beispiel Kalabrien
In Kalabrien, im Süden Italiens, sind in den letzten Jahren zwei riesige Zeltstädte entstanden. Es leben dort migrantische Landarbeiter*innen, die meisten von ihnen aus Afrika. Sie sind illegal in Italien und haben also praktisch keine Rechte. Die Bedrohung der Abschiebung ist ständig präsent. Sie arbeiten zu Hungerlöhnen in der dortigen Landwirtschaft. Die dort ansässige Mafia und natürlich die Produzenten machen ordentliche Gewinne mit der Arbeitskraft dieser Menschen. Und die rechte Regierung sowohl vor Ort als auch in Rom hat keinerlei Veranlassung gegen die Zustände der menschenunwürdigen Ausbeutung dort vorzugehen. Es sind ihre Verbündeten, vielleicht sogar sie selber, die die Gewinne machen.
Unser Büro arbeitet nun in Kalabrien mit einer kleinen Landarbeitergewerkschaft zusammen. USB heißt die Gewerkschaft, in der bislang noch überwiegend Italiener*innen organisiert sind. Sie gehen nun in die Lager und arbeiten mit den Menschen dort. Es geht dabei darum, sie über grundlegende Rechte aufzuklären, die man, obwohl illegalisierter Migrant in Italien und der EU eben dennoch hat. Und es geht darum, Menschen aus diesen Lagern in der Gewerkschaft USB zu organisieren. Denn die Gewerkschaft dort vor Ort hat verstanden, dass ihr Kampf der gleiche ist, den auch die Migranten in den Lagern führen.
Ginge es nach der rechten Regierung und leider auch nach der Meinung vieler Gewerkschaftsmitglieder in Italien, wären die Migranten in den Lagern aber nicht Kollegen oder Genossen, sondern Konkurrenten. Die Arbeit, die USB vor Ort macht, trägt dazu bei, eine Europäische Linke aufzubauen, die es uns erlaubt, den Kampf sowohl gegen den Neoliberalismus, als auch gegen die Rechtspopulisten gemeinsam zu führen. Ich glaube, anders werden wir ihn kaum gewinnen.
Die stärksten sozialen Bewegungen sind in Europa derzeit die Klimabewegung und eine erneuerte und erstarkte feministische Bewegung. Beide, ganz besonders aber die letztere, beweisen uns, dass die europäische Zivilgesellschaft länderübergreifend nach wie vor große Potentiale hat, eine politische Agenda jenseits sowohl des neoliberalen Status Quo, als auch besonders jenseits des neuen rechten verrohten Ausgrenzungs- und Spaltungsdiskurs zu setzen. Für die starke Bewegung der Solidarität mit und praktischen Hilfe für Flüchtlinge tritt das auch zu.
Eine Agenda der Solidarität gegen die Agenda der Spaltung und Ausgrenzung zu setzen, wäre ein erster sehr wichtiger Schritt, um die öffentliche Diskussion zu wenden. Die Aufgabe der Linken besteht dabei darin, die solidarischen Kräfte in ihren Interessen und Organisierungen zu verbinden, sie so zu unterstützen und zu verbreitern, eine alternative, solidarische, soziale, demokratische Agenda dort entgegenzusetzen, wo das nihilistische, verrohte, rücksichtslose, die gewissenlose Konkurrenz die Oberhand zu gewinnen droht, oder sie bereits gewonnen hat. Und die Bündnisse, die dafür benötigt werden können und müssen breit sein, denn die Lage ist ernst genug – zu ernst, um der Reinheit der Lehre den Vorzug zu geben.
* Andreas Thomsen ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel. Der Text basiert auf seinen Aufzeichnungen für Informationsveranstaltungen in Buenos Aires und São Paulo im April 2019.