Buen Vivir in den Städten?

In São Paulo wird die Debatte um das Recht auf Stadt in einen neuen Kontext gestellt
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Von Gerhard Dilger
Auch in der südamerikanischen Linken ist die Stimmung von Skepsis und Ratlosigkeit geprägt. Was sind das für Zeiten, in denen der argentinische Papst mit seinem kapitalismuskritischen, ökologischen Diskurs das Gros der progressiven Kräfte weit hinter sich lässt? Vielerorts wird gegen Zwangsumsiedlungen oder Raubbau an der Natur Widerstand organisiert, aber wo bleibt die gemeinsame Perspektive?
Alte Gewissheiten zu hinterfragen – dieser Herausforderung stellten sich im Juni 40 AktivistInnen und Intellektuelle aus sieben Ländern im Süden der Megametropole São Paulo. Wohnungslose, marxistische DenkerInnen, KulturarbeiterInnen, NGOlerInnen, Ökobauern, Journalisten und viele mehr. Ausgehend von ihrem täglichen Engagement, ob in Amazonien, an der Peripherie São Paulos oder in den chilenischen Anden, debattierten sie über das Thema „Buen Vivir in den Städten“.
Dafür, das Buen Vivir, also das andin inspirierte Konzept eines guten, erfüllten Lebens, als gegenwärtige Praxis zu begreifen, warb der Pädagoge Mario Rodríguez aus dem bolivianischen El Alto. Etwas, das ist, wenn auch noch nicht in Gänze, aber bereits im Werden begriffen, das nennen Aymaras illa. Das Buen Vivir sei also keine Utopie, sondern bereits in vielen Mikro-Bezügen sichtbar, die es auszuweiten gelte.
Als lateinamerikanischen Beitrag zur Infragestellung des herrschenden kapitalistischen und neokolonialen Entwicklungsmodells würdigte der argentinische Soziologe Emilio Taddei das Buen Vivir: „Gegen diese Akkumulation durch Enteignung rebellieren die Land-, Wohnungs-, Arbeitslosen, das Buen Vivir kann einen gemeinsamen antikapitalistischen Horizont eröffnen“.
Ob dieses „offene, wenn auch komplexe Konzept“ auch in urban geprägten Gesellschaften wie Brasilien, Argentinien oder Chile Fuß fassen kann, bleibt abzuwarten – dass die „südamerikanische Sozialdemokratie“ à la Lula, die sich auf hohe Rohstoffpreise verließ, ohne die herrschende Ungleichheit anzutasten, am Ende ihres Lateins angelangt ist, scheint jedoch offensichtlich.
Brasiliens Reformer hätten es versäumt, das Modell einer autofixierten Stadt in Frage zu stellen, kritisierte der Architekt Pedro Arantes. Die städtischen Basisbewegungen seien zu sehr auf ihre Themen wie Buspreise oder Wohnraum fixiert, nicht nur eine gemeinsame Vision – fehle, sondern oft das Denken in größeren Zusammenhängen. Dass viele am Tropf von Bundesgeldern hängen, lähmt sie zusätzlich.
Der Erfahrungsaustausch der TeilnehmerInnen führte zum „Weltsozialforumseffekt“: Drei Tage unter Gleichgesinnten macht neue Energien frei. Und beim Besuch eines nahe gelegenen Indigenendorfs gab es überraschende Einblicke in die Welt der brasilianischen „Stadtindianer“ – das „Buen Vivir“ ist aber auch für sie weit weg.
Zum Abschluss fand im Stadtzentrum eine angeregte Podiumsdiskussion statt.

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