Der große Kampf um das Recht auf Wohnung

Mit ihrer Besetzung der Avenida Paulista wollte die Wohnungslosenbewegung MTST, ein Partner der RLS São Paulo, auf die Angriffe der Temer-Regierung vor allem auf das Wohnungsprogramm «Minha Casa, Minha Vida» aufmerksam machen.  Ein Gespräch mit der Aktivistin Natália Szermeta

Von Günther Schulz, Brasilien-Nachrichten 155
Das nachfolgende Interview entstand während der Besetzung durch die MTST entlang der Avenida Paulista in der Megametropole São Paulo. Diese begann am 15. Februar und dauerte bis Mitte März. Die Besetzung stand unter dem Motto „OcupaPaulista“ („Besetzt die Paulista“). Sie war erfolgreich und gibt mit ihrem Erfolg der Bewegung weiteren Auftrieb. Unterstützung fand die Besetzung nicht nur durch andere soziale Bewegungen, auch Künstler, Professoren, Kirchenleute solidarisierten sich und es kam neben kulturellen Aufführungen auch zu Diskussionsrunden nicht nur über das Wohnungsprogramm, sondern darüber hinaus über die weiteren, höchst umstritten Themen wie die „Reform“ des Arbeitsrechts und der Altersversorgung.
Natália Szermeta ist seit mehr als zehn Jahre Aktivistin bei der MTST und u. a. zuständig für die Organisation der Besetzungen. Sie ist Mitglied der Koordination und tätig im Bereich der politischen Bildung und der Kommunikation. Gegenwärtig studiert sie Jura.
NataliaBrasilien-Nachrichten: Natália, erkläre bitte, weshalb ihr hier an der Avenida Paulista ein Lager aufgeschlagen habt.
Natália Szermeta: Wir haben uns im Anschluss an die große Demonstration in der letzten Woche, an der 25.000 Menschen teilnahmen, hier niedergelassen. Hauptursache für diese Besetzung waren die Angriffe, die die Temer-Regierung vor allem auf die Sozialprogramme und hier vor allem auf das Wohnungsprogramm «Minha Casa, Minha Vida» verkündet hat. Seit Michel Temer die Präsidentschaft innehat, gab er keinerlei Mittel des Wohnungsprogramms frei, d. h. die schon vorgesehenen Investitionen finden nicht statt. Auch begann er Anfang des Jahres dieses Programm zu verändern. Das Programm entwickelt sich praktisch zu einer Kreditbank vor allem für Leute, die ein Einkommen von bis zu 9.000 Reais (Anm: ca. 2.500.- €) haben. Dies verkehrt die ursprüngliche Absicht des Programms in sein Gegenteil. Die Ärmsten sollten profitieren, die, die ein niedriges Einkommen oder gar nichts haben, all diejenigen, die ohne ein staatliches Programm keinerlei Chance hätten einen würdigen Ort zum Leben zu erreichen.
Dies ist der Grund, weshalb die MTST jetzt die Leute mobilisiert hat. Wir kamen bis hierher vor das Büro der Bundesregierung hier in São Paulo, doch der Präsident hat uns weder empfangen, noch wollte er unsere Forderungen hören. Deshalb entschlossen wir, den Platz vor seinem Büro zu besetzen, um auf diese Art und Weise Aufmerksamkeit zu erreichen. Der Angriff auf das Wohnungsprogramm ist nicht der einzige Grund, weshalb wir hier sind. Mit unserem Lager protestieren wir zugleich gegen die vorgesehenen Veränderungen im Sozialbereich. Was die Regierung Temer vorhat, ist absurd, es ist ein Angriff auf die Ärmsten, die Frauen, die Arbeiter im Allgemeinen. Diese „Reform“ verlängert die Lebensarbeitszeit, die Zeit bis zur Rente, es wird praktisch unmöglich sich zur Ruhe zu setzen. Auf diese Situation möchte die Besetzung aufmerksam machen. Es ist auch eine Besetzung gegen Temer.
Bekommt ihr Unterstützung von Seiten der Bevölkerung?
Dies hier ist eigentlich ein uns sehr feindlich gesinnter Raum, es ist eine der reichsten Avenidas in Brasilien, hier bewegt sich die brasilianische „Elite“. Aber, und dies hat uns erstaunt, wir erfahren viel Zuspruch. Wir erhalten täglich Spenden, Zelte, Matratzen und Essen; und es gibt sogar Leute, die hier in der Nähe wohnen, welche ihre Wohnungen für uns öffnen, damit wir duschen und auf die Toilette gehen können. Dies in einer Region, in der viele für die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma waren, aber jetzt erkennen, dass sich die Politik von Temer gegen die gesamte Bevölkerung richtet. Heute hat Temer nur noch eine Zustimmung von weniger als 10 Prozent. Viele unterstützen Bewegungen, die sich gegen die Regierung richten, denn sie erkennen, dass die Regierung eine Verschlechterung der Lebensbedingungen mit sich bringt.
Seid ihr seitens der Polizei bedroht worden? Wollten sie euch schon vertreiben?
Nachts ist deren Anwesenheit schon etwas furchterregend, sie bilden eine Kette um das Regeirungsgebäude. Aber bis jetzt gab es uns gegenüber keine Drohungen. Wir haben bei der Besetzung vereinbart, dass wir uns entlang des Randsteins aufhalten, nicht die Straße und den Fußgängerweg besetzen werden und ebenso nicht versuchen in das Gebäude einzudringen. Im Gegenzug werden sie uns nicht von hier entfernen. So ist bis jetzt alles ruhig und wir sind im Dialog.
Was die Unterstützung der MTST betrifft: Hat sich seit dem Amtsantritt von Temer bzw. von João Doria, dem neuen Bürgermeister von São Paulo, etwas geändert?
Ja, es hat sich einiges sehr verändert, v. a. ist die Polizeigewalt schlimmer geworden. In der Peripherie stieg die Gewalt gegen Jugendliche und Schwarze an. Die Gewalt nach Besetzungen, d. h. die Vertreibungen, geschieht viel häufiger als früher. Das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen ist ohne Zweifel ein anderes. Von Seiten der Regierung Temer besteht nicht die geringste Sensibilität gegenüber den Bewegungen und der Zivilgesellschaft im Allgemeinen. Es interessiert ihn wenig, er braucht sie nicht, um regieren zu können. Er kann sich ja nicht zur Wahl stellen, er ist ein korrupter Politiker, er ist zu Diensten derer, die ihn an die Macht gebracht haben.
Ich sehe hier eure Fahne mit eurem Symbol, aber ich vermisse Fahnen anderer Bewegungen wie beispielsweise die der Landlosenbewegung MST. Gibt es keine Solidarität von den anderen Bewegungen?
Diese Besetzung war nicht von langer Hand geplant, jetzt läuft langsam die Solidarität an. So gibt es bereits ein Zelt von „Povo sem Medo“ (Volk ohne Angst) und weitere werden hinzukommen. Wir sind ja erst am Anfang unserer Aktion. Die Gewerkschafter des Dachverbands CUT kommen abends, um den Abend mit uns zu verbringen, sie bringen auch Nahrungsmittel und Decken. Es ist eigentlich auch ein Test: Wie wird es sein, wenn wir ausharren, werden wir unterstützt oder nicht?
Auch die StraßenbewohnerInnen, die moradores da rua, nehmen zahlreich teil. Habt ihr das erwartet?
In dieser Stärke nicht. Ja, viele nehmen teil, dies wohl auch aufgrund der Tatsache, dass die Vertreibungen angestiegen sind. Spätnachmittags und abends kommen aber auch Leute einfach so vorbei. Wir machen öffentliche Vorträge, Musik, Theater und die Paulistan@s beteiligen sich.
Welche Erwartungen hast du hinsichtlich der nächsten Tage, Wochen? Wann werdet ihr das Lager aufheben?
Wir möchten solange bleiben, bis unser Anliegen zumindest gehört wird, noch besser, bis eine Lösung unseres Anliegens in Sicht ist. Natürlich finden wir es auch nicht toll, hier zu wohnen, in dieser Situation, aber wir können uns dies nicht aussuchen. Je mehr das Lager wächst, je mehr Zelte errichtet werden, umso größer wird auch der Druck auf die Regierung zu handeln. Wir möchten, dass die Veränderungen am Programm Minha Casa Minha Vida zurückgenommen werden.
Vielen Dank und viel Erfolg!
P.S.: Die Besetzung war erfolgreich: Nach über drei Wochen gab die Regierung nach. Die bereits genehmigten, dann aber eingefrorenen 35.000 Wohneinheiten des Programms für Familien mit einem Einkommen bis zu 1.800 Reais wurden freigegeben.

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