Im Regen stehen gelassen

Mit 38 zu 31 Stimmen votiert der Senat gegen die Legalisierung des vorzeitigen Schwangerschaftsabbruchs in Argentinien. Die Debatte spaltet die Masse auf den Straßen. Bericht aus einer nassen Nacht in Buenos Aires.

Von Leon Willner

Argentinische Winter sind kalt und regnerisch. In einer historischen Nacht hielt der Himmel seine Schleusen weit geöffnet. Bis zum Schluss hatten sie gehofft, gezittert und komplett durchnässt in den Straßen vor dem Nationalkongress ausgeharrt. Doch es hat nicht gereicht: Mit 38 zu 31 Stimmen votierte der Senat gegen den Gesetzesentwurf zur Legalisierung des frühzeitigen Schwangerschaftsabbruchs in Argentinien.

„Nicht einmal für Fußball – nicht einmal für Fußball würde ich hier jetzt noch stehen.“ Die Uhr schlägt zwei Uhr früh. Bereits seit neun Stunden steht Nacho Zabaleta in der Avenida 9 de Julio vor dem großen Bildschirm, in der linken Hand hält er eine Thermoskanne, in der rechten seinen Mate. Mehr Argentinien geht nicht, fehlt nur noch die blau-weiße Flagge mit der Sonne in der Mitte. Die möchte er im Moment am allerwenigsten sehen. Celeste, das argentinische Himmelblau, tragen die Gegner des Gesetzesentwurfs zur Legalisierung der Abtreibung. Nacho ist komplett in Grün eingehüllt. Das grüne Tuch ist das Zeichen der Befürworter des Gesetzes. Grün gegen Blau spaltet die Stadt noch mehr in ihren Farben als River Plate gegen Boca Juniors, die größten Rivalen im argentinischen Fußball. Die Früchte eines langen Kampfes der feministischen Bewegung.

Im Senat geht es spannender zu als auf dem Fußballplatz: 17 Stunden lang diskutieren die Senator*innen im Kongress, über große Bildschirme im Stadtzentrum werden die Reden live für die Öffentlichkeit auf den Straßen übertragen. Hunderttausende haben sich rund um den Nationalkongress eingefunden. Der gesamte Verkehr wurde großräumig umgeleitet. Ein einzigartiges Politik-Public-Viewing beginnt. Die Reden sind hochemotional, Senator*innen wie Gladys González kämpfen bei ihren Ausführungen mit den Tränen.

Auch am 14. Juni wurde eine Ablehung vorhergesagt

Nachdem sich das Parlament am 14. Juni im siebten Anlauf binnen 13 Jahren – nach einer Marathonsitzung von fast 24 Stunden – mit 129 zu 125 Stimmen für das Gesetz ausgesprochen hatte, lag es am Senat das Gesetz zu bestätigen. Auch vor dem 14. Juni wurde mit einer Ablehnung des Gesetzes gerechnet, bevor die Gegner*innen der Abtreibung ihr grünes Wunder erlebten. Im letzten Moment gelang es der Pro-Bewegung einige Abgeordnete umzustimmen – vor allem aufgrund des überwältigenden Andrangs in den Straßen.

Vier Monate hatte sich der Kongress mit der Legalisierung des vorzeitigen Schwangerschaftsabbruchs befasst. Der Gesetzesentwurf sah vor, dass Frauen innerhalb der ersten 14 Wochen eine Schwangerschaft abbrechen dürfen. Damit nicht nur die oberen Schichten vom dem Gesetz Gebrauch machen können, müssten staatliche und private Kliniken den Eingriff zudem kostenfrei vornehmen. Doch auch die Gegner des Gesetzes mobilisierten noch einmal die Massen, vor allem unter dem Druck der Kirchen.

Die Debatte ruft Erinnerungen an die Verkündung des Scheidungsgesetzes 1987 und die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Eheschließung 2010 hervor. Das Land von Papst Franziskus ist in zwei Lager gespalten. In ihren Argumenten konzentrierten sich die Celestes auf das Retten der „zwei Leben“ und verwiesen auf Alternativen zur Abtreibung. Immer wieder nennen die das Gesetz ablehnenden Senator*innen Gott und ihren christlichen Glauben als Antrieb.

Argentinien: eine Abtreibung alle eineinhalb Minuten

Cristian und Brenda sind über 30 Stunden mit dem Bus aus Jujuy, dem hohen argentinischen Norden, angereist. Jetzt stehen sie auf der blauen Seite der Plaza del Congreso. Den grünen Nacho direkt gegenüber können sie gar nicht sehen, denn beide Lager sind strikt durch die Polizei und eine Zaunreihe getrennt. „Ich bin hier, um nicht weniger als ein politisches Desaster für unser Land abzuwenden“, sagt Cristian. „Die grüne Seite ist nicht die einzige, die sich für die Rechte der Frau einsetzt“, wirft seine Tochter Brenda ein. „Ich sehe mich auch als Feministin, als Christin jedoch werde ich in letzter Instanz immer das Leben unterstützen.“

Zurück auf der grünen Seite des Zauns ist der Boden bereits vom Regen getränkt. „Das Leben… das Leben ist nur deswegen in Gefahr, weil heimlich abgetrieben wird. Die Frauen werden einfach im Stich gelassen“, sagt Noel Pascal von der feministischen Bewegung La Ria. „Heute wird ja nicht zwischen Abtreibung ja oder nein gewählt, heute entscheidet sich, ob Abtreibung in Argentinien weiter eine heimliche und höchst gefährliche Sache bleibt, oder dort durchgeführt werden kann, wo es für die Frau sicher ist, im Krankenhaus.“

Trotz seines illegalen Status ist der freiwillige Schwangerschaftsabbruch eine Realität. Statistisch gesehen treibt in Argentinien alle eineinhalb Minuten eine Frau ab, oftmals unter den widrigsten und unprofessionellsten Bedingungen. In 50.000 Fällen im Jahr führt dies zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen für die heimlich abtreibende Frau.

«Niemand wird uns mehr aufhalten können»
Als um drei Uhr nachts das Ergebnis verkündet wird, hat noch immer keiner die Straßen verlassen. Enttäuscht schmeißen die Befürworter ihre grünen Regenschirme auf den Boden. Erleichtert fliegen die himmelblauen Regenschirme durch die Luft. Jetzt ist auch der letzte Regen völlig egal.
Im Moment der Niederlage wringt Noel ihr klitschnasses grünes Tuch aus. „Heute ist nicht der Tag einer Niederlage“, sagt sie. „Wir haben ein für uns Frauen entscheidendes Thema zu einer nationalen Debatte gemacht. Niemand wird uns mehr aufhalten können.“ Sie kämpfen weiter. Bereits über 700 Mal wurde das Thema in den verschiedensten Kommissionen der argentinischen Politik vorstellig. Ein Jahr muss die Sache nun ruhen, dann kann erneut ein Gesetzesentwurf präsentiert werden.

Bereits jetzt haben sich mehr Senator*innen denn je zumindest für die sogenannte despenalización (Nicht-Bestrafung) der Abtreibung ausgesprochen. Ein entsprechender Gesetzesentwurf müsste jedoch erneut von Parlament und Senat bestätigt werden. Beide Kammern werden im Jahr 2019 neu gewählt. Viel Hoffnung auf einen schnellen Wandel hat Noel nicht: «Das hier ist Argentinien, das Land der Politik-Dinosaurier. Wir werden das Heft wieder selbst in die Hand nehmen müssen.» Derzeit wird Abtreibung in Argentinien mit bis zu vier Jahren Haft bestraft. Das aktuelle Gesetz stammt aus das Jahr 1921.
Fotos: Marcha

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