Tiefe Integration, transnationale Wertschöpfungsketten

– und daraus entstehende Überbauprobleme für internationale Solidarität
 
Von Roland Kulke, RLS Brüssel
Kulke
Dieser Beitrag will die Bedeutung der transnationalen Wertschöpfungsketten (TWK) für die Entwicklung der sog. „Freihandelsabkommen des 21. Jahrhunderts“ darstellen,und zeigen, dass die Genese der TWK eine einschneidende Entwicklungsetappe für den globalen Kapitalismus ausmacht. Diese Entwicklung im wirtschaftlichen Bereich wirkt sich bereits stark auf die weltweiten politischen Systeme aus. TTIP ist ein direktes Ergebnis der TWK, und wird wie diese allgemein zu einer schwierigen Herausforderung für Fragen des Überbaus gemeinsamen linken Agierens für eine bessere, eine humanere Welt führen. Ziel des Beitrags ist es, über den problematischen Zusammenhang von TWK und Fragen eines linken gegenhegemonialen Meta-Narratives aufzuklären.
These ist, dass die Entwicklung zu immer stärker netzwerkartigen sich ausstülpenden TWK zu einer Zerstörung der internationalen Solidarität führen kann. TWK führen im Ergebnis zu einer Oligopolisierung des Kapitalismus, also zu einer Politisierung der Wirtschaftsbeziehungen, und damit zu einer Aufwertung politisch kultureller Fragen. Die Linke muss sich also dem Problem stellen, dass der kulturelle Überbau für Fragen internationaler solidarischer Kooperation immer bedeutender wird. Am Ende wird mit wenigen Sätzen ein bescheidener Vorschlag unterbreitet, wie die Linke in der jetzigen defensiven Situation trotzdem einen erfolgreichen Kampf führen könnte.
 
Transnationale Wertschöpfungsketten und die bürgerlichen Revolutionen der frühen Neuzeit
Der materielle Hintergrund der Globalisierung sind die wachsenden TWK. Technischer Fortschritt und die Liberalisierung des internationalen Handels haben dazu geführt, dass Unternehmen komplett aufgespalten werden können. Es kommt damit zur totalen Zerlegung des Produktionsprozesses in minimal kleine Einzelprozesse. Nun kann also überall produziert werden, sehr zur Freude der Unternehmer. Überall gibt es jedoch unterschiedliche Gesetze und Regulierungen. Deswegen drängt die Kapitalseite bei den Verhandlungen internationaler Wirtschaftsabkommen seit Jahren auf eine möglichst weitgehende Harmonisierung in Fragen der Produktregulierungen. Das Ziel ist klar: es sollen weltweit gleiche Produktions-, Distributions- und Konsumbedingungen herrschen.
Dieser neue Entwicklungsschritt, also das sich Herauslösen des kapitalistischen Produktionsprozesses aus den Nationen, die der Kapitalismus ja erst geschaffen hat, kann in seiner Bedeutung mit den bürgerlichen Revolutionen der (frühen) Neuzeit verglichen werden. Wir haben es mit einem Übergang zu tun, der von seiner Bedeutung her möglicherweise große Ähnlichkeiten mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus besitzt. Das aufsteigende Bürgertum verfolgte seit Ende der Hochphase des Feudalismus, also seit dem 15 Jhd. zwei Ziele im Kampf gegen die feudalen Herren: Erstens ging es um die Sicherung des privaten Eigentums (nicht der Allmende) vor willkürlicher Beschlagnahmung à la Michael Kohlhaas. Als gleichwertiges Ziel wollte sich das Bürgertum das Recht erkämpfen, die Gesetze zu erlassen, zumindest zu sichern, dass die Gesetze nicht gegen ihre Interessen verstießen.
Was haben diese Kämpfe, die ihren Höhepunkt in den bürgerlichen Revolutionen fanden, mit unserer Debatte um Freihandelsabkommen und TWK zu tun? Es ging um Sicherung des Privateigentums und den Einfluss der Produktionsmittelbesitzer auf die Gesetzgebung. Exakt das gleiche erleben wir heute durch die neue Generation der Handelsabkommen des 21. Jhd. Nehmen wir TTIP als Beispiel: die zwei wichtigsten Bestandteile sind Investitionsschiedsverfahren (ISDS) und die „regulatorische Kooperation“.
Ersteres sichert das Eigentum an Produktionsmitteln in fremden Staaten ab, macht also eine „Beschlagnahmung“ (auch wenn sie nur wie in Ägypten eine Mindestlohnerhöhung war) des eigenen Kapitals unmöglich. Wichtig hierbei ist die gesamte Diskussion um die Intellektuellen Eigentumsrechte, die Patente, deren laxe Anwendung historisch von großer Bedeutung für das Aufholen peripherer Gesellschaften war. Die „regulatorische Kooperation“ höhlt die Rechte der nationalen Parlamente und des Europäische Parlament aus, und wird die Normsetzungsmacht in intransparente Arbeitsgruppen verlagern, die irgendwo im nordatlantischen Raum tagen werden.
Diese Arbeitsgruppen sind de jure offen für den Einfluss aller Stakeholder, de facto aber nur für die Kapitalseite – denn welche NGO kann die Arbeit in dutzenden Arbeitsgruppen über Jahre aktiv mitgestalten? Die bisher bekannten Texte über TTIP zeigen, dass sämtliche Gesetze, die möglicherweise (!) den Handel beeinflussen könnten, diesen Gremien zur Diskussion vorgelegt werden müssten, was ihre Verschiebung auf den Sankt Nimmerleinstag ermöglichen würde. Davon betroffen sind die Gesetze aller Mitgliedstaaten der EU und der Staaten der USA, und natürlich auch alle, die auf EU- und föderaler Ebene in den USA beschlossen werden.
Der Einfluss, der hier der Kapitalseite eröffnet wird, entspricht dem klassischen Dreiklassenwahlrecht, bei dem die Reichen die Zusammensetzung der Parlamente überproportional beeinflussen konnten. Es wiederholt sich also ein Trend der bürgerlichen Revolutionen, nun allerdings auf globaler Ebene, ohne dass es zu einer Parlamentarisierung auf Weltebene käme. Es geht um die Vereinheitlichung von Produktionsbedingungen und die Unterwerfung der Gesellschaften unter den Primat des Profits.
 
Tiefe Integration und Bedingungen des wirtschaftlichen Aufholens von Staaten der «Dritten Welt»
Die sogenannte „tiefe Integration“ (deep integration) ist die dafür passende Bezeichnung bei internationalen Handelsabkommen. Nach dem 2. Weltkrieg ging es um den Abbau von Zöllen, damit in Land A produzierte Güter in Land B günstig konsumiert werden konnten. Mit dem Fortschritt der Technologie konnte der Prozess der Produktion als solcher immer stärker zerlegt werden, was dazu führte, dass die Unternehmer die Angleichung aller Produktionsbedingungen verlangten, egal in welchem Land.
Multilaterale Abkommen sind bis heute weitgehend gescheitert, also wird seit Jahren versucht, die „tiefe Integration“ in bi- und plurilateralen Abkommen voranzutreiben. Dabei geht es darum, „hinter die Grenze“ (behind the border) anderer Staaten in deren eigene Gesetzte, also in die gesamte „Software“ anderer Nationen, einzugreifen. Dies hat nun fatale Folgen für die Möglichkeiten des ökonomischen Aufholens (catch-up process) von Staaten der Dritten Welt.
Südkorea ist ein bekanntes Beispiel dafür, wie dies funktionieren konnte. Es bot internationalen Unternehmen die eigene unterdrückte, billig bezahlte, nicht in Gewerkschaften organisierte und trotzdem immer besser ausgebildete Arbeiter*innenschaft zur Ausbeutung an. Im Gegensatz dazu mussten es die Multis erdulden, dass diese Arbeiter*innen zu Spezialist*innen an den zuerst importierten, später selbst hergestellten Maschinen ausgebildet wurden. Südkorea konnte dieses Angebot machen, da der Fordismus es erlaubte, ganze Produktionslinien in einem Land aufzuziehen.
Diese günstigen Vorbedingungen für wirtschaftliche Aufholprozesse gibt es unter Bedingungen von TWK nicht mehr, da Produkte nicht mehr in einem Land erzeugt werden, sondern in transnationalen Netzwerken. Will man in diese einsteigen, muss man seine Grenzen öffnen, nicht das machen, was historisch alle sich erfolgreich industrialisierenden Staaten taten: die Grenzen schließen. Staaten können also keine technischen Lernprozesse mehr erzwingen, der Transfer von Technologie in die Dritte Welt wird damit verhindert. TWK und die daraus folgende tiefe Integration verhindern also strukturell das wirtschaftliche Aufholen von «Dritte-Welt»-Staaten.
Mexiko ist das vielleicht bekannteste und abschreckendste Beispiel. Mexiko war bis zu seinem Eintritt in die NAFTA ein relativ erfolgreiches Schwellenland. Heute ist es ein Fall für die Kategorie „failed state“ – es wurde durch die NAFTA aktiv unterentwickelt. Prosperieren tun nur die Branchen, in denen billige Vorprodukte für den nordamerikanischen Markt hergestellt werden. Sobald erfolgreiche Gewerkschaften kleine Lohnerhöhungen erkämpfen, gibt es sofort Standortverlagerungen in noch billigere Staaten, da Mexiko keine Produkte herstellt, die dort nicht auch produziert werden könnten.
Die tiefe Integration durch NAFTA, die totale Öffnung gegenüber dem mächtigeren US-Kapital, hat der Wirtschaft Mexikos dauerhaft die eigenen Entwicklungsspielräume geraubt. Das Schicksal Mexikos ist es, solange es in der NAFTA bleibt, die billige verlängerte Werkbank der USA zu sein, ohne Aussicht auf eine verstärkte Umverteilung zugunsten der Arbeiter*innen in Folge erfolgreicher Arbeitskämpfe.
 
Kein Superstaat, aber kulturelle Zerklüftung des Weltsystems
Dann stellt sich die Frage, ob es in Zukunft einmal einen Superstaat geben wird, denn ökonomisch betrachtet wäre das für die TWK folgerichtig. Ökonomische Sachzwänge sind wichtig, aber sie wirken nicht unmittelbar überall gleich, und außerdem gibt es noch andere wichtige Rationalitäten jenseits des Marktes, die großen Einfluss auf unsere Gesellschaften haben. Zum einen entwickeln sich die Nationen in Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung immer weiter auseinander, was man einerseits an den westlichen Diskussion um „Industrie 4.0“ oder etwa den Fragen nach der technologischen Singularität, also dem Verwachsen von Mensch und Maschine einerseits1, und durch einen kurzem Blick auf den Zustand der Landwirtschaft in sub-saharischen Gebieten andererseits leicht erkennen kann.
Zweitens dürfen wir Fragen der (politischen) Kultur nicht vernachlässigen. Dort, wo politische Herrschaft wirkt, muss sie legitimiert werden. Dazu bedarf es stets einer großen Erzählung, die die ungleiche Verteilung von Gütern, aber auch des gesellschaftlichen Oben und Unten erklärt. Oft haben diese Erzählungen natürlich nur eine herrschaftslegitimierende Funktion, ausgeübt von den organischen Intellektuellen der Mächtigen. Genauso wichtig aber sind Fragen der politischen Kultur bei den Kämpfen der Unteren, des sogenannten „gemeinen Mannes“ (heute würde man noch die „gemeine Frau“ anfügen) – in Englisch common man und auch commoners. Hier geht es immer darum, zwischen sich eigentlich Fremden Gemeinsamkeiten gegen die wie auch immer zu definierenden „da oben“ zu finden, und sie in eine stimmige Erzählung zu integrieren.
Im 14. Jahrhundert hieß es in Europa „Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?“, nach der niedergeschlagenen Pariser Kommune 1871 sang „die Internationale“ säkular von Verdammten, Sklaven und Knechten, und die Occupy-Bewegung der 2010er Jahre spricht von den „99 Prozent“. Immer geht es um ein Wir gegen die Anderen, wir hier unten, und die da oben.
Wie wichtig Kultur für Prozesse der Gegenintegration ist, kann man an den sozialistischen Unabhängigkeitsbewegungen nach 1945 erkennen, z. B. in Indien, wo der Hinduismus eine fatal wichtige Rolle spielte, aber auch später im Kampf Algeriens gegen Frankreich. Zusammenfassend können wir sagen, dass die Anbindung politischer Herrschaft an regional verständliche Erzählungen zur Legitimierung politischer Herrschaft und die Zersplitterung der Welt in Zonen unterschiedlicher Wirtschaftsentwicklung das Entstehen eines Superstaates dauerhaft verhindern.
Die Linke wird also auch in Zukunft vor die Herausforderung gestellt werden, zwischen relativ abgegrenzten Kulturen solidarische Verbindungen herstellen zu müssen. Auch in Zukunft wird sie transnational verständlicher Großer Erzählungen bedürfen, die den Kampf der „gemeinen Menschen“ um Emanzipation in eine über die Kulturen hinweg verbindende Geschichte zusammenfasst. Eine solche verbindende Erzählung gab es schon einmal. Marx spann an dieser Geschichte kräftig mit, und man kann wohl bis in die 1960er davon ausgehen, dass diese Erzählung wirkungsmächtig war. Danach haben mindestens drei Faktoren dazu geführt, dass es immer schwieriger wurde, ein gemeinsames, alle Ausgebeuteten der Welt umschließendes Narrativ zu entwickeln.
Der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz) kam an ein Ende, und jede Arbeiter*innenklasse fing an, sich verstärkt als eine nationale zu verstehen. Das Ende von Bretton Woods beendete die wirtschaftspolitische Koordinierung selbst unter gutgewillten westlichen Regierungen. Drittens kamen linke Regierungen in der „Dritten Welt“ an die Macht, und nur wenigen gelang es, nicht nur den westlichen Aggressionen zu wiederstehen, sondern auch der ebenso gefährlichen inneren Korruption. Letztere führte dazu, dass Sozialismus heute in weiten Teilen der Dritten Welt ein Schimpfwort geworden ist (von Mittelosteuropa ganz zu schweigen, wo viele ehemalige „Kommunisten“ die größten Anhänger Thatchers wurden, teilweise schon vor der Wende)2.
Wir haben es also einerseits mit Vereinheitlichungstendenzen auf der Weltsystemebene zu tun, die im Sinne der privatwirtschaftlichen Oligopole laufen. Andererseits ist die Linke dadurch geschwächt, dass viele Regierungen meinen, die Grenzen ihrer Wirtschaften immer weiter öffnen zu müssen. Gleichzeitig wird die Linke dadurch weiter geschwächt, dass es ihr im Gegensatz zur ersten großen Globalisierungswelle Ende des 19. Jahrhunderts heute an einer die Völker verbindenden Metaerzählung mangelt.
 
Ökonomien ohne starken Wettbewerb tendieren zu autoritären Überbaustrukturen
Samir Amin hat in seinem Buch „Eurozentrismus“ auf folgenden Sachverhalt hingewiesen: Hochentwickelte vorkapitalistische Reiche nennt er tributäre Produktionsweisen. In diesen eignet sich die politische Elite, die dort, da der Wettbewerbsmechanismus nicht wie im Lehrbuchkapitalismus wirkt, über die Wirtschaftselite herrscht, den wirtschaftlichen Überschuss politisch an. Der gesellschaftliche Überschuss, surplus, fällt also nicht v. a. als Profit an, sondern als Rente. Der Unterschied ist derjenige, dass eine Rente nicht wieder in den Unternehmen investiert werden muss, da man von etwaigen Konkurrenten nichts zu befürchten hat. Man verfügt also über freie Mittel, mit denen man tun und lassen kann, was man will.
Militär, Schmuck, Paläste, aber auch Einbinden gefährlicher Fraktionen am Fürstenhof sind gute Gründe, diese Mittel auszugeben. Nun muss aber auch dieser Konsum gerechtfertigt werden. Hier weist Amin darauf hin, dass alle tributären Reiche über eine homogene Staatsreligion verfügten. Diese bot eine in sich geschlossene legitimierende Erzählung an, warum gerade diese Elite sich den Mehrwert aneignen durfte.
Für uns stellt sich die Frage, was nun heute auf Weltebene passiert, wenn wir „dank“ der TWK langsam in ein System hinüberwachsen, in dem der ökonomische Wettbewerb zwischen den Anbietern tendenziell ausgeschaltet wird, zum einen weil es zu immer größeren Unternehmenszusammenschlüssen kommt, und zum anderen weil der Markteintritt für neue Wettbewerber aufgrund der oben erläuterten Strukturen der TWK verhindert wird. Wir sehen insofern keine Verstärkung der Profitaneignung, sondern eine verstärkte Aneignung von Rente auf Weltniveau. Martin Khor hat gezeigt, wie die durch den Westen immer brutalere Anwendung Intellektuellen Eigentums die Wirtschaften des Globalen Südens strukturell am Aufholen hindert.
Die Universität Zürich wiederum hat 2013 in einer Studie gezeigt, dass von 37 Million Unternehmen weltweit 147 eine „Super-Entity“ bilden, die den Rest der globalen Wirtschaft steuert. Jeff Nielson schrieb dazu in einem Beitrag, dass diese Studie zeigen würde, dass 80 Prozent der weltweiten Preise nicht unter Wettbewerb zustande kämen, sondern unter Bedingungen der Preissetzung und von Absprachen3.
Was lernen wir also von Samir Amins Beschreiung kultureller Überbauphänomene tributärer Reiche? Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass seine These, dass alle präkapitalistischen Reiche notwendig einen zentralistischen, die Autonomie der Einzelnen negierenden, Überbau haben mussten, nicht auch für post-kapitalistische Gesellschaften gelten soll4.
Wir können also davon ausgehen, dass dort, wo gesellschaftliches Mehrprodukt politisch angeeignet wird, ein Zwang zu einer homogenisierenden Metaerzählung eintritt. Das ist keine gute Nachricht für die Hoffnungen auf eine holde degrowth-Zukunft. Zumindest macht es die weltweite linke Diskussion nicht einfacher. Wir leben also heute in einer Zeit des möglichen Übergangs zu einem System, in dem weltweit weniger Wettbewerb zwischen Privatunternehmen herrschen wird, und daraus der Druck zu einer vereinheitlichenden autoritären Metaerzählung erwächst, die dieses System legitimiert.
 
Der gegenwärtige Trend zu Aufwertung kultureller Fragen
Es gibt, wie oben bereits erwähnt, den durch die WSK ausgelösten Trend zur Angleichung von Normen und Regeln, die alle konsumierbaren Produkte betreffen. Inwiefern daraus ein Druck auf den Kern von Kulturen entsteht, entzieht sich meiner Kenntnis, aber der Trend aus den weltweit sich immer stärker annähernden Konsumformen und der Verwendung der sozialen Medien kann wohl eine Tendenz zu einer (potentiell regressiven) Kultur des Weltsystems verstärken helfen.
Das zurzeit wichtigste Handelsabkommen, das TTIP, ruft starke Erschütterungen im Überbau des Weltsystem hervor, da die Eliten der westlichen Staaten gezielt das Ressentiment gegen „den“ Chinesen und „den“ Russen schüren. Die BRICS allgemein werden als Bedrohung wie eine Monstranz von den Vertretern von TTIP vor sich her getragen. Es war bezeichnend, dass die neue „gelbe Gefahr“ erst dann als große Erzählung benutzt wurde, als sich das Wachstumsversprechen von TTIP als Lüge erwies.
Große Teile des Globalen Südens haben in den letzten Jahrzehnten eine regressive Metaerzählung entwickelt, die im Zuge der Delegitimierung ihrer alten linken Staatsklassen entstand. „Dritte-Welt-Staaten bedürfen per definitionem eines stärkeren Staates als Staaten der Ersten Welt. Wie war dieser zu rechtfertigen, nachdem alle möglichen säkularen linken politischen Projekte durch Inkompetenz und den vom Westen initiierten Zermürbungskrieg entlegitimiert waren?
Große Teile der Bevölkerungen griffen einen Diskurs auf, der politisch noch nicht missbraucht worden war: ihre jeweilige lokale Religion. Von Marokko bis nach Indien kann man heute mehr oder weniger religiös argumentierende Eliten finden, die über diesen Diskurs ihre Herrschaft absichern wollen. Gleichzeitig wird die Religion vom „gemeinen Volk“ benutzt, um über den Diskurs der „moralischen Ökonomie“ wenigsten Teile des Mehrproduktes durch shaming der Elite zu erhalten.
Das große Problem dieses Diskurses ist, neben vielen anderen Dingen, dass er international überhaupt nicht vermittelbar ist. Wie soll es (national) religiös argumentierenden indischen oder tunesischen Gewerkschafter*innen gelingen, ihre Reformvorschläge ihren Genoss*innen aus Lateinamerika oder Europa zu erklären?
Ein letztes Beispiel der Zunahme der Bedeutung von kulturellen Fragen soll diskutiert werden. Es gibt eigentlich nur ein erfolgreiches linkes internationales Integrationsprojekt. Das ist ALBA in Lateinamerika, das v.a. die Länder Venezuela, Ecuador, Bolivien, Kuba und Nicaragua umfasst. In einigen dieser Länder gibt es eine starke indigene Bewegung. Mit diesen Bewegungen werden auch die von ihnen vertretenen Diskurse stärker.
Können diese ein Vorbild für Europa darstellen? Einer dieser Diskurse ist die Erzählung der „Pachamama“, in der die Erde als eine göttliche „Mutter Erde“ dargestellt wird. Diese Vergöttlichung der Erde, des Kosmos, wurde 2010 in Bolivien in ein Gesetz gegossen mit dem Titel „Die Rechte der Mutter Natur“ und im gleichen Jahr bei der UNO-Klimaverhandlung präsentiert.
Man kann bezweifeln, ob „Mutter Erde“ ein Konzept ist, mit dem sich ägyptische, russische oder deutsche Gewerkschafter*innen identifizieren können, und ob es gelingt, daraus transnational ableitbare gemeinsame Handlungsziele zu entwerfen. Zu befürchten ist, dass dieser Diskurs womöglich die Übertragbarkeit des inspirierenden ALBA- und Sucre-Modells auf Europa als Alternative zur EU verhindern hilft.
 
Solidarität in Zeiten der Cholera, nein, der transnationalen Wertschöpfungsketten
Alle diese Beispiele zeigen, wie schwierig es ist, in Zeiten von TWK, freier Wechselkurse und post-sozialistischer Großerzählungen eine gemeinsame Sprache für eine weltweite Linke zu entwickeln. Naomi Kleins Hoffnung ist, dass angesichts der Klimakatastrophe eine die 99% einigende weltweite Bewegung entstehen kann. Hier soll noch ein anderer Vorschlag gemacht werden, wie in den ungünstigen Zeiten heute die transnationale Solidarität gefördert und verstärkt werden könnte.
Wie oben gezeigt, verhindern die TWK als Verkörperung des fortschrittlichsten Teiles des Kapitalismus Aufholprozesse der Dritten Welt. Länder des Globalen Südens sind viel mehr als früher gezwungen, ihre Märkte zu öffnen. Gleichzeitig behindern kulturelle Prozesse die solidarische Kooperation der Arbeiter*innen eher, als dass sie diese unterstützen. Die Entwicklungen auf der Makroebene der Gesellschaft spielen der weltweiten Linken also nicht in die Hand.
Was ist dann mit der Mesoebene der Gesellschaft(en)? Hier bietet sich ein neues Kampf- und Lernfeld für linke Akteur*innen an: und zwar die aus Sicht der Bürger*innen und Arbeiter*innen zu Recht gescholtenen TWK. Da diese nicht einfach eine Ideologie darstellen, sondern das Ergebnis objektiver Produktionsbedingungen sind, hilft es nicht, sie einfach zu verteufeln. Man könnte sogar so weit gehen und behaupten, dass sie selbst in einer sozialistischen Weltgesellschaft vorhanden blieben, denn es ist klar, dass ein erfolgreiches sozialistisches Projekt in Fragen des Konsumgüterangebotes und v. a. der Anwendung der fortschrittlichsten Techniken nicht weit hinter den Kapitalismus zurückfallen dürfte.
Natürlich wären die Spielregeln andere, unter denen im Sozialismus die TWK produzieren würden, aber es lohnt sich schon jetzt, über ein neues mögliches Einstiegsprojekt nachzudenken: Wie könnte eine sozialistische Governance von TWK aussehen? Es geht um die Verteidigung nationaler Demokratie und die Stärkung dieser auf transnationaler Ebene. Dies ist deswegen wichtig, weil es eben keine vom Kapital befreiten lokalen Gebiete geben kann, keine „Inseln der Heiligen“, in denen wir uns anarchisch lustig dem Aufbau des Sozialismus widmen können. Diese Rückzugsgebiete gab es nie.
Was wir brauchen, ist ein Mehr an transnationalem Austausch und Kooperation, gelebter Solidarität und Kämpfen um „Gute Arbeit“. Dieser wahrlich nur sehr bescheidene Vorschlag würde bedeuten, dass sich die Linke v.a. in Form von Gewerkschaften darum kümmert, entlang von TWK die Arbeiter*innen zu organisieren, in Zusammenarbeit mit Parteien, regionalen Gebietskörperschaften, NGOs, Regierungen wo möglich, und unter Zuhilfenahme Internationaler Organisationen. Der Vorteil wäre, dass jenseits materieller Gewinne vor allem kulturelle Lernprozesse eingeübt würden, die den Arbeiter*innen ermöglichen würden, ihr gemeinsames Schicksal trotz sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Hintergründe zu erfahren und positiv zu wenden.
Welche Bereiche lohnen könnten, hängt davon ab, wo es bereits jetzt starke Arbeiter*innenorganisationen gibt, aber auch, ob Unternehmen dieser Branchen wie in der Bekleidungsindustrie „auf leichtem Fuß“ leben können, also kaum große Vorinvestitionen treffen müssen, oder wie in der Stahlindustrie Milliarden verwenden müssen. Letztere Industrien können tendenziell besser unter Druck gesetzt werden, da sie nicht so leicht „fliehen“ können und der Lohnanteil einen geringeren Anteil ihrer Kosten ausmacht.
 
 
1 Raymond Kurzweil: The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology. Viking, New York 2005
2 Siehe nur die dramatische Geschichte von Solidarnosc.
3 http://www.bullionbullscanada.com/intl-commentary/26284
4 Amin nennt das selber „the problem of the coming socialism“.
 
Bücher
Samir Amin: Eurocentrism, Monthly Review Press, 1989
Hartmut Elsenhans: Saving Capitalism from the Capitalists: World Capitalism and Global History, SAGE, 2015
Martin Khor: Intellectual Property, Competition and Development, Third World Network, 2005
Georges Lefebvre, Rodney Hilton: The Transition from Feudalism to Capitalism, Verso, 1985
Dietrich Rueschemeyer et al.: Capitalist Development and Democracy, University of Chicago Press, 1992
Stefania Vitali et al.: The Network of Global Corporate Control, PLoS ONE 6 (10),2011
 

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