„No a la baja“: Uruguay stimmt über die Senkung der Strafmündigkeit ab

Von Niklas Franzen
Ein Thema erregt kurz vor der anstehenden Wahl die Gemüter in Uruguay: Das Strafmündigkeitsalter soll in dem südamerikanischen Land von 18 auf 16 Jahre gesenkt werden. Damit würde straffälligen Jugendlichen die gleiche Verurteilung drohen wie Erwachsenen.
Konservative Kräfte mobilisieren seit Monaten für ein Referendum, das am 26. Oktober zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen stattfinden wird. Rund 2,6 Millionen UruguayerInnen werden am Sonntag über die Reform abstimmen. Die Initiative benötigt mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen. Laut den jüngsten Umfragen kommt die „Ja“-Kampagne aktuell auf 54 Prozent.
Im Jahre 2011 hatte die “Comisión para Vivir en Paz” 370.000 Unterschriften gesammelt und damit den Weg für das Plebiszit frei gemacht. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes nutzt die politische Rechte damit die Möglichkeit der direkten Demokratie. In der Vergangenheit waren Volksabstimmungen in Uruguay traditionell Instrument der Linken. So konnte 2004 beispielsweise die Privatisierung des Wassers Volksbefragung abgewendet werden.
Die Initiative für die Senkung des Strafalters wurde maßgeblich von der Colorado-Partei und dem damaligen Präsidentschaftskandidaten Pedro Bordaberry ins Leben gerufen. Die Debatte entwickelt sich im Endspurt der Präsidentschaftswahlen auch immer mehr zur parteipolitischen Frage. Während laut Umfragen die große Mehrheit der WählerInnen des regierenden Mitte-Links Bündnis „Frente Amplio“ gegen die Reform ist, macht die rechte Opposition Wahlkampf mit dem Thema. Luis Lacalle Pou, Spitzenkandidat der konservativen Partido Nacional und schärfster Konkurrent von Frente-Amplio-Kandidat Tabaré Vázquez, ist für die Reform.
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Die Rechte beschwört in Uruguay gerne den Ausnahmezustand herauf und verweist auf angeblich steigende Kriminalitätsraten. Der Diskurs scheint in der Öffentlichkeit Früchte zu tragen. Studien zeigen, dass die Unsicherheit im Land den UruguayerInnen am meisten Sorgen bereitet, noch vor bildungspolitischen und ökonomischen Fragen. Dabei gilt Uruguay als sicherstes Land in ganz Lateinamerika.
Ein breites Bündnis mobilisiert landesweit gegen die Initiative. „Wir sind gegen die Reform, weil sie keine Lösungen für die Sicherheit und das friedliche Zusammenleben bereithält. Dieser Vorschlag wird Probleme verschlimmern, anstatt sie zu lösen“, erklärt Federico Barreto von der Kampagne No a la Baja (Nein zur Senkung).
Der bunte Kolibri, Symbol der Nein-Kampagne, ist in diesen Tagen allgegenwärtig in sozialen Netzwerken und auf den Straßen des Landes. Zahlreiche Wände in der Hauptstadt Montevideo sind großflächig mit Nein-Graffitis besprüht. Neben Studierendenorganisationen, Gewerkschaften, Menschenrechtsgruppen und Kirchenverbänden unterstützen auch zahlreiche KünstlerInnen die Nein-Kampagne. „Wir brauchen einen Weg der Integration und Gerechtigkeit, nicht der Rache“, sagt der Musiker Pedro Alemany.
Am 18. Oktober gingen 50.000 Menschen zum Abschluss der Kampagne auf die Straße, um gegen die Senkung des Strafmündigkeitsalters und Kriminalisierung der Jugend zu demonstrieren. Die KritikerInnen argumentieren, dass die Reform in keiner Weise die Probleme des Landes lösen wird und die soziale Ungleichheit weiter verschärfen wird. Zudem würden mit der Reform Jugendliche zu Unrecht pauschal als Kriminellen gebrandmarkt. 94 Prozent der Verbrechen in Uruguay werden von Erwachsenen verübt.
Auch führen die GegnerInnen an, dass in kaum einem Land die Senkung des Strafmündigkeitsalters ein Erfolg in der Kriminalitätsbekämpfung erwirkte. Studien aus verschiedenen Ländern zeigen, dass die Rückfallquote von straffälligen Jugendlichen, die im Gefängnis landeten, dreimal höher ist als von Jugendlichen, bei denen alternative Strafmaßnahmen angewendet wurden. Das Gefängnis als Erziehungsanstalt wird angezweifelt.
In Uruguay sind die Bedingungen in den Gefängnissen unmenschlich. Wie in anderen lateinamerikanischen Ländern verlassen Häftlinge die Gefängnisse oft krimineller als vorher. ExpertInnen sprechen von regelrechten „Verbrechensschulen“. „Die Gefängnisse in Uruguay und ganz Lateinamerika sind feindselige, gewalttätige Orte, in denen jeden Tag schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden“, sagt der 27-jährige Diego Grauer von No a la Baja. „Die Freiheitsberaubung als Erziehungsmaßnahme hat sich überall als absolut unfähig gezeigt“.
No a la baja
Zudem heben die KritikerInnen der Reform hervor, dass diese vor allem die Ärmsten mit aller Härte treffen wird. „Mit der Befürwortung der Reform wird sich das selektive Strafsystem noch vertiefen. Damit werden die ärmsten Jugendlichen weiter stigmatisiert und keinerlei Alternativen für die soziale Reintegration bereitgestellt“, sagt Rosana Abella vom Casa Bertolt Brecht.
AktivistInnen fordern die soziale Integration und alternative Strafmaßnahmen für kriminelle Jugendliche sowie stärkere Sozialprogramme gegen Armut. „Es wird immer deutlicher, dass ein Großteil der Kriminalität, die die uruguayische Gesellschaft heute beunruhigt, Folge der sozialen Ungleichheit ist. Deshalb ist eine gerechtere Verteilung des Reichtums notwendig“, erklärt Grauer.
Nicht nur in Uruguay wird über eine Senkung des Strafalters diskutiert. Auch im Nachbarland Brasilien ist unlängst eine Debatte entflammt. Aécio Neves, Kandidat der neoliberalen PSDB, hatte sich im Wahlkampf für eine Senkung ausgesprochen. In Brasilien steht am Sonntag die zweite Runde der Präsidentschaftswahl an. Im Falle eines Sieges der PSDB könnte Neves, mit Hilfe einer Mehrheit von konservativen und reaktionären Abgeordneten im Kongress das Thema in Angriff nehmen.
Damit steht am Sonntag eine richtungsweise Entscheidung des Strafsystems in zwei Ländern Südamerikas an. Linke und progressive Kräfte zittern denn die Senkung des Strafmündigkeitsalters würde einen enormen sozialen Rückschritt bedeuten.

Fotos: Sofía González, Gerhard Dilger
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Niklas Franzen ist Journalist und Praktikant beim Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.