„Brasilien braucht einen Neuanfang“

thomas bauerThomas Bauer*, ein gelernter Bootsbauer aus Vorarlberg, lebt und arbeitet seit bald 20 Jahren im wüstenartigen Nordosten Brasiliens. Der Niedergang der regierenden Arbeiterpartei und der moralische Scherbenhaufen, vor dem die einstige linke Hoffnungspartei PT nunmehr steht, hat viel mit der Politik des Langzeitpräsidenten Lula zu tun, erzählte er anlässlich eines Heimatbesuches.
Von Werner Hörtner, lateinamerika anders

la: Wie bist denn Du als Bootsbauer aus Vorarlberg in diese wüstenartige Region des so genannten Sertão im Nordosten Brasiliens gekommen? Die Kenntnisse des Bootsbaus sind in dieser Gegend wohl kaum gefragt…
Thomas Bauer: Ja, ich habe den Bootsbau erlernt, habe dann aber in den Sozialbereich gewechselt und wollte für einige Zeit weg aus Österreich. Dass es dann Brasilien geworden ist, war Zufall. Eine Mitarbeiterin einer Südtiroler Selbstbesteuerungsgruppe hat mit dem Zisterzienserpater Josef Hehenberger studiert und über Verwandte von mir in Südtirol bin ich dann mit dem Pater in Verbindung getreten und habe ihn in Brasilien besucht. Zuerst waren es drei Monate, um mir die Sache einmal anzuschauen, daraus wurden dann mehrere Jahre – und schließlich bin ich schon fast 20 Jahre dort.
Und wie bist Du zur CPT gekommen, der Pastoralen Landkommission der Katholischen Kirche?
In der Pfarre, wo Pater Hehenberger arbeitete, gab es ein Büro der CPT. Die Pfarre wird nicht mehr von den Zisterziensern geleitet, aber die CPT ist dort in der Diözese Bonfim immer noch präsent. Meine Arbeit war zuerst einmal die, die Menschen zu unterstützen, die in einem Landkampf gegen die Großgrundbesitzer gestanden sind und die von der Vertreibung bedroht waren, die aber gleichzeitig versucht haben, über die Agrarreform zu Land zu kommen. Die Agrarreform ist ja in der brasilianischen Verfassung verankert, und zwar wird entweder Land verteilt, das mehr als fünf Jahre brach lag oder wo Sklavenarbeit aufgedeckt wurde, oder Land, das illegal gerodet wurde. In diesen Fällen hat der Staat das Recht, das Land zu enteignen und im Sinn der Agrarreform zu verteilen.
cpt_logo Könntest Du mir kurz die Struktur der CPT darlegen?
Es gibt lokale Teams in den einzelnen Diözesen, oder manchmal auch diözesenübergreifend. Dann gibt es die Regionalstellen und schließlich eine nationale Struktur mit dem Hauptsitz in Goiânia, der Hauptstadt des Bundesstaates Goiás in Zentralbrasilien. Aber das Allerwichtigste für uns sind die Basisarbeit und die lokalen Teams, und alles andere muss diese in der Arbeit unterstützen. In der Geschichte der CPT sind ja zuerst die lokalen Teams entstanden und erst dann eine regionale und nationale Struktur.
Was ist jetzt Deine Aufgabe im Rahmen der CPT?
Zuerst war es die Zusammenarbeit mit den lokalen Gruppen in der Diözese Bonfim in Sachen Agrarreform, dann bin ich in die regionale Stelle gewechselt, war sechs Jahre lang Koordinator der Regionalstelle in Bahia und mittlerweile bin ich in der Beratung lokaler Teams tätig sowie in der Weiterbildung für die Bauern bzw. in den Bereichen rechtlicher Beistand und Kommunikation.
Du lebst und arbeitest ja seit beinahe zwei Jahrzehnten in Brasilien. Hast Du den Eindruck, dass sich in dieser Zeit etwas wesentlich verbessert hat für die Bevölkerung? Und wenn ja, kann man sagen, dass die CPT einen bedeutenden Anteil daran hat?
Man kann sagen, dass wir daran beteiligt waren, dass in den ersten Jahren in der Diözese Bonfim über die Agrareform an die 1500 Familien Land erhalten und sich dort angesiedelt haben. Das ist eine klare Verbesserung der Lebensumstände für diese Familien. Mittlerweile hat sich die Situation allerdings so verändert, dass über die Agrarreform praktisch keine Ansiedlungen mehr stattfinden, sondern dass die Leute durch die Expansion der Agrarindustrie, durch den Bergbau und durch große Infrastrukturprojekte vor der Vertreibung stehen. Jetzt geht es vielmehr darum, die Rechte der bereits angesiedelten bäuerlichen Familien zu schützen und zu verhindern, dass ein Bergwerk seine Abwässer in das Quellwassergebiet der Siedlungen ableitet, oder dass eine neue Zugtrasse für den Rohstofftransport ausgerechnet durch die Mitte eines Dorfes gebaut wird, dass Umweltauflagen eingehalten werden usw. Unser Arbeitsfeld hat sich total verschoben hin zur Absicherung des bereits erkämpften Territoriums.
Und dieser Prozess hat unter Präsident Lula begonnen?
Er hat eigentlich ab dem Zeitpunkt eingesetzt, als Lula akzeptierte, dass Brasilien in dem vorherrschenden Wirtschaftssystem eine untergeordnete Rolle spielt und er sich erhoffte, über die Steigerung des Exports von Rohstoffen Devisen ins Land zu bringen, um die Lebenssituation der brasilianischen Bevölkerung über Sozialprogramme zu verbessern. Er hat sich ja vorgestellt, mit dieser Politik zu den Weltwirtschaftsmächten aufzusteigen.
Mit Erfolg, kann man man wohl sagen.
Ich würde sagen jein. Als Rohstoffexporteur ist ein Land immer abhängig und untergeordnet und wird nie zu den großen Wirtschaftsmächten aufschließen können.
Wie kommst Du eigentlich mit dieser Ambivalenz zurecht, dass Präsident Lula in seinen beiden Amtszeiten zig Millionen Menschen geholfen hat, der Armut zu entkommen, und auf der anderen Seite mit seiner Politik zur Zerstörung der Lebensgrundlagen vieler Menschen, zur Zerstörung ganzer Ökosysteme, zur Vertreibung der indigenen Bevölkerung beigetragen hat?
Das ist eine schwierige Frage, und diese Zwiespältigkeit Lulas ist schwer erklärbar. Lulas Politik hat zu einem großen Rückschritt der Organisierung der Zivilbevölkerung geführt, jener politischen Kraft, die sich über dreißig Jahre hinweg aufgebaut hat und die schließlich 2002 zum Wahlsieg Lulas geführt hat. Für die Linke in Brasilien war es das große Ziel, an die Macht zu kommen. Man hat gehofft, dass sich damit alles ändern würde. Das war aber ein großer Trugschluss. Lula kommt ja aus der Gewerkschaftsbewegung, und Gewerkschafter haben gelernt zu verhandeln. Diese Rolle hat Lula übernommen. Er sagte: Wir fördern das Wirtschaftswachstum, denn das ist notwendig, um die Lebenssituation der Menschen zu verbessern. Aber diese Rechnung geht heute nicht mehr auf.
Das heißt, dass Lula, Gründungsvater und Leitfigur der linken Arbeiterpartei, eigentlich gar nicht daran gedacht hat, durch grundlegende Strukturreformen das Land zu verändern.
Mit seinem Glauben an das Wirtschaftswachstum hat er in seiner Wahlkampagne Leute und Sektoren gefunden, die ihn unterstützt haben, auch finanziell, damit er gewählt wird. Zum Beispiel die Bank of Boston, die ihm Geld gegeben hat. Lula hat zu ihnen gesagt, ich will von euch so und so viel Geld für meine Sozialprogramme, und das hat er auch bekommen. Aber durch Lulas Politik wurde die Struktur des Landes nicht verändert, der Reichtum und das Land wurden nicht aufgeteilt. Im Gegenteil, die Situation hat sich sogar noch verschlechtert.
Ich finde, die derzeitige Situation hat den positiven Effekt, dass die Ungleichheit im Land nach der Wahl von Dilma Rousseff endlich einmal explodiert ist. Dass ganz klar und deutlich offenkundig wurde, dass es in Brasilien eine Klasse gibt, die reich ist, die mit den Armen nichts zu tun haben will – oder die sie einbindet, wenn sie sie ausnützen kann. Damit wurde nun klar, dass eine Neuorganisation notwendig ist, dass die Arbeiterpartei, die nach dem Wahlsieg ihrer Basis den Rücken zugewendet hat, zerstört worden ist. Lula hat ja schon im Vorfeld der Wahlen von 2002 den herrschenden Klassen zugesichert, dass er nichts tun werde, was gegen sie gerichtet sein könnte, er hat mit ihnen paktiert. Das hat die Bevölkerung aber nicht gewusst, und so wurde er mit über 60% der Stimmen gewählt. Damals hätte er die Möglichkeit gehabt, zumindest zu versuchen, ein neues Kräfteverhältnis zu schaffen. Aber das hat er unterlassen.
Heute steht Brasilien zumindest in moralischer Hinsicht vor einem Scherbenhaufen. Wie kann es nun weitergehen mit diesem Land? Ist das widerständige Potenzial stark genug, dass sich da neue kritische linke Bewegungen entwickeln?
Die Situation ist derzeit sehr kompliziert. Wir von der Landpastorale haben es etwas leichter, von außen her gewisse Dinge zu kritisieren, weil wir einen Weg gegangen sind, der uns nicht so abhängig vom brasilianischen Staat gemacht hat wie viele andere Organisationen und soziale Bewegungen. Diese haben von der Regierung Geld bekommen und damit so etwas wie Parteistrukturen aufgebaut. Das hat aber auch dazu geführt, dass diese Organisationen sich mit Kritik an der regierenden Arbeiterpartei immer zurückgehalten haben.
Würdest Du auch die Landlosenbewegung dazu zählen?
Auf jeden Fall. Es wurde dann nicht mehr so leicht für uns von der CPT, mit der MST zusammenzuarbeiten. Wir sind zwar weniger geworden, mit weniger Mitteln, wir konnten aber auch unabhängiger Stellung beziehen. Das macht es aber nicht leichter, dass da im Bereich der sozialen Bewegungen etwas Neues heranwächst. Es gibt aber trotzdem schon sehr viele Stimmen, die sich darüber Gedanken machen und die versuchen, anhand der gemachten Fehler zu schauen, welche neuen Möglichkeiten es gibt, auch in Richtung horizontaler Strukturen, von Netzwerken und einer anderen Organisation der Zivilgesellschaft. Um dann in weiterer Folge so an Stärke zu gewinnen, dass es politisch zu Veränderungen kommt. Momentan wird eine solche Diskussion nicht gefördert, sondern es wird polarisiert zwischen rechts und links. Der Hintergrund, die Ursachen der derzeitigen Situation, werden nicht diskutiert. Es wird sofort argumentiert: Wenn du nicht Lula wählst, dann bist du für die Rechten. Es gibt aber nicht nur ja und nein und rechts und links. Wenn aber nicht die Offenheit besteht, neue Wege zu diskutieren und sich nicht vereinnahmen zu lassen von diesen zwei einander ausschließenden Positionen, dann werden wir sehr schwer einen Ausweg finden.
Wie geht eigentlich ihr innerhalb der CPT mit der gegenwärtigen Situation um? Schließlich seid ihr ja so etwas wie ein Taufpate oder ein Ziehvater der Arbeiterpartei.
Weniger von der PT selbst, aber von den sozialen Bewegungen. Die MST zum Beispiel ist aus der CPT hervorgegangen; ihr langjähriger Führer João Pedro Stedile hat ja in der Landpastorale gearbeitet. Die CPT hat immer das Ziel gehabt, die Menschen in ihrem Kampf, in ihrem Widerstand zu unterstützen, damit sie an Stärke gewinnen und sich die Situation für sie positiv verändert.
Befindet die Rechte sich jetzt im Aufwind?
Ich würde nicht unbedingt sagen, dass sie sich jetzt im Aufwind befindet. Lula ist ja eine Mythos-Figur geworden, und es ist sehr schwierig, eine solche zu zerstören. Die Konservativen haben in der Regierungszeit Lulas nichts verloren. Im Gegenteil, sie haben zugelegt. Es sind immer noch dieselben Baufirmen, die die Aufträge bekommen, der Mediengigant TV Globo erhält immer noch dieselben Förderungen, die Großgrundbesitze sind gewachsen, die transnationalen Konzerne konnten sich niederlassen, Menschenrechte werden nicht beachtet, der Landraub geht weiter. Aber es war und ist ihnen immer noch ein Dorn im Auge, dass es nun dem ärmsten Teil der Bevölkerung durch Lulas Sozialprogramme besser geht.
Dilma Rousseff jedoch ist keine Politikerin, sondern Technokratin. Sie hat nicht das Profil von Lula und auch nicht sein Charisma. Für diesen konservativen Sektor der Gesellschaft ist es nun natürlich leichter, die Situation im Land auszunützen und die Präsidentin an den Pranger zu stellen. Es geht ihm meiner Meinung nach nicht darum, die Präsidentin zu stürzen, sondern darum, bis zu den nächsten Wahlen die Idee der Arbeiterpartei und den Mythos Lula zu zerstören, um das Kräfteverhältnis so zu verändern, dass er wieder an die Macht kommt. Führer der Rechten sagen es ja ganz offen, dass es für sie nicht interessant ist, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff einzuleiten. Es geht darum, die Linke von innen her zu zerstören, ihre Wurzeln auszugraben.
Angesichts dieser Situation frage ich mich schon, wo es da einen Raum für politische Veränderungen im Land geben soll, mit der starken konservativen Mehrheit im Parlament, mit einer stark geschwächten Arbeiterpartei.
Das ist genau die Frage, die wir uns nun stellen. Es gibt nur die Möglichkeit zu versuchen, Änderungen über einen Neuanfang an der Basis zu erreichen. Es gibt kein Rezept. Wir müssen zumindest versuchen, einen anderen Weg einzuschlagen. Das bedeutet aber, dass nun wieder 30, 40 oder 50 Jahre notwendig sein werden, um etwas Neues aufzubauen. Vielleicht auch weniger, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist es ein langer Weg. Das ist wahrscheinlich das schlimmste Erbe, das die PT der Bevölkerung hinterlassen hat.

* Thomas Bauer ist seit 1996 bei der brasilianischen Landpastoralkommission (CPT) tätig, die seit ihrer Gründung 1975 Landarbeiter und -arbeiterinnen bei der Einforderung ihrer Rechte unterstützt, etwa dem Recht auf Land. Seit 2014 betreibt Bauer den Blog „NachDenkZeit“, in dem er sich mit den Auswirkungen einer brutalen Agroindustrialisierung und eines Extraktivismus ohne Rücksicht auf Menschen und Natur befasst.
aus: lateinamerika anders – Österreichs Zeitschrift für Lateinamerika
Foto: Gerhard Dilger

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