Im Juni war der britische Geograph im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo zu Gast. Anlässlich seines 80. Geburtstags am 31. Oktober veröffentlichen wir einige Auszüge aus einem Gespräch von Stiftungsmitarbeiter*innen und brasilianischen Intellektuellen mit dem marxistischen Stadtforscher («Rebellische Städte«), in dem er uns auf einer tour d’horizon zu emanzipatorischen Phänomenen in verschiedenen Städten der Welt mitnimmt. Happy Birthday, David Harvey!
Bearbeitet von Gerhard Dilger*
Herzlich Willkommen, Professor Harvey! Wir haben Sie von ihrem Hotel abgeholt und kurz über unsere Arbeit hier gesprochen. Seit gut zwölf Jahren unterstützen wir, das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo, eine Vielzahl von sozialen Bewegungen in der Region, vor allem die Landlosenbewegung MST in Brasilien.
In vier weiteren Ländern – Argentinien, Uruguay, Chile und Paraguay – unterstützen wir ebenfalls über unsere Partner Gemeinschaften, die sich gegen Minen- und andere Megaprojekte wehren oder das Agrobusiness, etwa die Sojamonokulturen. Wir stehen außerdem an der Seite indigener Bewegungen und ihrer Verbündeten wie dem links-katholischen Indigenen-Missionsrat CIMI in Brasilien oder den Mapuche in Chile und Argentinien, die sich extraktivistischen Projekten nationaler und internationaler Unternehmen entgegenstellen.
Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Auseinandersetzung mit urbanen Themen. So sind wir nach den Massenprotesten in Brasilien vom Juni 2013 auf die Bewegung für den kostenlosen Nahverkehr (MPL) und andere städtische Gruppen zugegangen. In Zukunft werden urbane Themen in unserer Arbeit eher noch wichtiger. Daher freuen wir uns sehr, dass Sie heute bei uns sind.
Der Bürgerhaushalt in Brasilien und den USA
David Harvey: Auch in New York City gibt es mittlerweile eine Bürgerhaushaltsbewegung. Alle Stadträte haben eine Art Budget, die sie für lokale Projekte in ihren Bezirken verwenden können. Es scheint, dass Menschen so besser in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden werden können.
Ich glaube, das Problem in Porto Alegre und andernorts war, dass der Bürgerhaushalt immer nur einen sehr kleinen Teil des Gesamtetats stellte. Auch nutzte die Arbeiterpartei (PT) das Projekt, um bestimmte Organisationen zu vereinnahmen. Das Konzept eines Bürgerhaushaltes stößt so zwangsläufig an seine Grenzen.
Doch die Erfahrungen aus Porto Alegre zeigen auch, dass es möglich ist, demokratische Partizipation zu fördern und marginalisierte Bevölkerungsgruppen in politische Prozesse einzubinden. Wie sich diese Gruppen dann politisch positionieren, ist eine andere Frage. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass sie sich rechten Ideen zuwenden – somit ist der Bürgerhaushalt nicht zwangsläufig eine revolutionäre Strategie.
USA: Vom Comeback der Linken auf kommunaler Ebene
Aber enthält es progressive Momente. Mitglieder des New Yorker Stadtrates haben sich radikalisiert: Man kann sie heute vielleicht als populistisch bezeichnen – nicht zwangsläufig links, aber populistische Politiker in ihren Bezirken. Ob das gut oder schlecht ist? Wahrscheinlich beides ein bisschen. Jedenfalls ist es besser als vorher.
Ein Problem während der Amtszeit von Michael Bloomberg (New Yorks Bürgermeister 2002-2013) war, dass der Stadtrat ihm nie die Stirn gebeten hat. Es gab einzelne, die das versucht haben, aber sie waren in der Minderheit. Heute unterstützt die Mehrheit den derzeitigen Bürgermeister Bill de Blasio. Es hat eine leichte Revitalisierung kommunaler Politik stattgefunden, die wir landesweit beobachten können. In Los Angeles und Seattle wurde eine sogenannte „living wage ordinance“ verabschiedet und damit der Mindestlohn von 7,80 auf 15 Dollar pro Stunde angehoben. Es hat eine Wiederbelebung der Linken auf kommunaler Ebene gegeben.
Alternative Regierungsformen in Kurdistan
Wir fordern nicht direkt die Regierung heraus, sondern versuchen alternative, kollektive Formen der Organisierung und Entscheidungen zu schaffen, die lokale Probleme ansprechen und den ineffizienten Staat ersetzen, so lautet etwa der Kerngedanke des „kommunalen Libertarianismus“ von Murray Bookchin. Diese Idee wird auch von der PKK übernommen und in den kurdischen Regionen Kobanê und Rojava in Syrien umgesetzt. Sogar in der Türkei wurde versucht diese Idee eines „kommunalen Radikalismus“ wiederzubeleben.
In Diyarbakir habe ich dies als Versuch gesehen, über eine auf Versammlungen beruhende Struktur der Entscheidungstätigung alternativ zu regieren. Beispielsweise gibt es keine Einzelmandate, alle Posten werden mit einer Frau und einem Mann besetzt. In Diyarbakir regieren so eine Bürgermeisterin und ein Bürgermeister zusammen. Fast alle Posten in der Stadt sind so besetzt.
Seit kurzem werden die kurdischen Erfahrungen auch von der linken, türkischen Partei HDP vertreten. Natürlich stehen sie vor großen Herausforderungen: Viele Mitstreiter, die beispielsweise in Diyarbakir aktiv waren, sind aufgrund ihres Engagements im Gefängnis gelandet. Ihre Arbeit wird von der Regierung als „terroristische Aktivität“ gebrandmarkt, die PKK gilt als „terroristische Vereinigung“.
In Rojava, in Nordsyrien, sieht die Situation ein wenig anders aus: Dort sind sie autonomer, und es entsteht eine sehr interessantes kommunales und sozialistisches Projekt. Die Parallelen zu den Zapatistas in Mexiko sind auffällig – auch hier wird nicht die Zentralregierung herausgefordert, sondern Alternativen aufgebaut, die eine Vielzahl der alltäglichen Entscheidungsprozesse übernehmen.
„Hör zu, Anarchist!“
Am Anfang war Occupy nicht vorrangig von anarchistischen und autonomen Ansichten geprägt, dennoch war ihr Einfluss sehr stark. Es bestand kein Interesse an politischer Macht im konventionellen Sinne, der Staatsapparat war kein Bezugspunkt. Stattdessen wurde darauf bestanden, dass alles horizontal und nicht hierarchisch zu sein habe. Dies führte zu Konflikten, auch mit mir. Ich habe einen Text geschrieben, in dem ich in freundlicher Weise die Anarchisten „attackiere“. In Anlehnung an Murray Bookchin’s „Hör zu, Marxist!“, habe ich ihn „Hör zu, Anarchist!“ genannt.
Darin will ich zeigen, dass die Anarchisten viele gute Dinge tun, jedoch einige entscheidende Fehler begehen. Wir müssen weitergehen als viele Anarchisten das tun und uns auch in die Lokalregierung einbringen – und dies geschieht zum Teil bereits. Ich glaube, die Wahlen in Spanien sind extrem wichtig in dieser Frage. Aber ebenso entscheidend ist zum Beispiel der sozialistische Abgeordnete im Stadtrat von Seattle, der für menschenwürdige Bezahlung kämpft.
Dieser Aktivismus ist zwar immer noch staatskritisch, aber er hat den Staat nicht komplett abgeschrieben. Einige wichtige Persönlichkeiten der Linken beginnen sich wieder mehr mit der Idee anzufreunden, dass staatliche Macht nicht länger ignoriert werden darf. Sogar Toni Negri sagt heute, dass es vielleicht nötig ist, zurückzublicken und wieder über den Staat und seine Möglichkeiten zu sprechen.
Jedoch besteht weiterhin in großen Teilen der Linken eine starke Abneigung, und sie wollen nichts mit dem Staatsapparat zu tun haben. Studenten haben mich einen Stalinisten genannt, da ich fordere, den Staat nicht komplett aufzugeben (lacht). Aktuell versucht die Gruppe „Picture the Homeless» in New York einen Fonds für urbanes Gemeinschaftsland aufzubauen. Um einen Fond zu bekommen, braucht man jedoch Land, und das geht nur mit der Hilfe der Stadtverwaltung.
Auch der riesige Gemeinschaftsland-Fonds in Montreal (Kanada) ist ein gutes Beispiel: Er wurde von Anarchisten organisiert, aber nicht denjenigen, die sich komplett den Horizontalismus auf die Fahnen schreiben. Es waren Anarchisten, die den Staat benutzten, mit ihm verhandelten und sich so große Teile direkt in der Innenstadt von Montreal sichern und diese aus dem Markt nehmen konnten. Jetzt stehen dort erschwingliche Wohnungen für die Bevölkerung.
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Wir sollten uns diese Fälle zum Vorbild nehmen und sagen, dass auch wir das können. „Picture the Homeless“ verhandelt mit De Blasio, aber er hat noch nichts entschieden. Wie immer er sich auch am Ende entschließt – die Medien werden ihn scharf attackieren. Wenn er den Plänen der Bewegung zustimmt und dabei hilft, Teile der Stadt in bezahlbare Wohnungen für Obdachlose umzuwandeln, wird dies jedoch Vorbildcharakter haben. Es gibt Anzeichen in die richtige Richtung, und das ist sehr beeindruckend.
Städte wie Los Angeles oder Seattle haben sich gegen die Sparmaßnahmen entschieden und „Anti-Austerititätsorte“ geschaffen. Auch die schottische Unabhängigkeitsbewegung und andere Bewegungen schaffen solche Räume, in denen der Sparpolitik etwas entgegenstellt wird. Diese neuen Möglichkeiten Wohnungen, Bildung und viel mehr zu erkämpfen sind daher sehr progressive Wege.
Chinas absurde Urbanisierung
Die Urbanisierung nimmt absurde Formen an. Es geschehen gerade verrückte Dinge, zum Beispiel in Dubai. Um zurück auf Makroökonomie zu kommen – das einzige was den globalen Kapitalismus in den letzten Jahren am Leben gehalten hat ist die Urbanisierung von China. Wir sprechen hier von der Rettungsweste des Kapitalismus. Ohne das gigantische Urbanisierungsprojekt in China und seinen Aufschwung 2007 und 2008 wären fast alle Länder Lateinamerikas in eine massive Krise geschlittert. Auch Australien hätte die Krise erfasst. Die Rohstoffproduzenten überlebten aufgrund des verrückten Urbanisierungsbooms in China.
Wohnraum und Arbeitsplatz zusammendenken
Die urbane Frage ist entscheidend. Durch radikale Formen der Urbanisierung können jedoch einige der Probleme in der Stadt gelöst werden. Da wäre etwa die stärkere Betonung einer agrikulturellen Konfiguration in der Stadt. Ich bin alt genug, um mich an der Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Als ich klein war, haben mein Vater und ich Land kultiviert. Rund 15 Prozent der gesamten Essensversorgung wurde damals durch die „Schaufeln für den Sieg“-Kampagne zur Verfügung gestellt, bei der Menschen Lebensmittel in ihren Hinterhöfen anpflanzten. Solche Initiativen könnten eine Wiederbelebung erfahren – und es gibt bereits Projekte wie die Gemeinschaftsgärten.
Die andere Seite ist natürlich die Trennung zwischen Wohnraum- und Arbeitsplätzen. Das Pendeln scheint aus dem Ruder zu laufen, vor allem vor dem Hintergrund der Funktionsweise des kapitalistischen Marktes. Sozial schwache Bewohner werden auf minderwertiges Land abgedrängt. Dort sind Jobs in der Regel Mangelware. In Istanbul habe ich einen Ort besucht, an dem Menschen wohnen, die aus der Innenstadt vertrieben wurden. Die Qualität der Häuser war vergleichsweise gut. Bei erster Betrachtung scheint das Abkommen mit der Stadtverwaltung fair zu sein.
Jeden Monat zahlen die Bewohner eine gewisse Summe, nach 15 Jahren sind sie Hauseigentümer. Die Regierung ist extrem stolz auf dieses Abkommen. Das Problem ist jedoch, dass der Ort rund 55 Kilometer vom Zentrum Istanbuls entfernt ist. Er liegt zwar in einer wunderschönen, ländlichen Region, Berufsaufsichten gibt es hier allerdings keine. Also können die Menschen ihre Rechnung nicht bezahlen, werden wieder obdachlos und müssen zurück in das Zentrum der Stadt.
Auf die Nachfrage, warum dort überhaupt Häuser gebaut wurden, erwidern die zuständigen Minister: „Ich bin nicht für die Jobs, sondern für Wohnungen zuständig“. Hier handelt es sich wiederum um eine Situation, in der wertvolles Land Menschen von Berufsaussichten trennt. Der Immobilienmarkt schafft bewusst diese Disparitäten, mit den langen Pendelzeiten und physischer und persönlicher Energie. Das ist die irrationale Seite der Urbanisierung, die das Kapital durch eine von Kapitalakkumulation getriebene Dynamik in der Stadt produziert.
„So darf es nicht weitergehen!“
Kapitalistische Akkumulation als Ganzes ist immer mehr von Urbanisierung abhängig, als einer der wichtigsten Mittel produktiver und profitabler Aktivität. Teilweise ist die fiktiv, weil einfach nur Mieten erhöht werden – Gewinne aus Immobilien werden zunehmend wichtige Einnahmequelle für die kapitalistische Klasse. Somit sind Urbanisierungsprozesse essentiell für die Zukunft der Kapitalakkumulation.
Wir müssen diese kapitalistische Dynamik beenden – so darf es nicht weitergehen! Die Entwicklung in Brasilien in den letzten 30 oder 40 Jahren macht dies besonders deutlich: Ich war zum ersten Mal in den 1970er Jahren in São Paulo, Recife und Salvador. Heute sind diese Städte voll mit bewachten Luxushochhäusern und Einkaufszentren. Die Brasilianer*innen denken gerne, sie wären etwas Besonderes. Doch was ist so besonders an Brasilien? Es ist einfach nur Kapitalismus (lacht), dasselbe wie anderswo auch. Wenn wir uns vor Augen führen, dass das alles in den letzten 30 oder 40 Jahren geschehen ist, müssen wir uns fragen, in welcher Welt wir in den nächsten 30 oder 40 Jahren leben werden. Unvorstellbar! Was wir in China beobachten können, könnte die Zukunft sein.
Längere Version des Interviews auf Englisch
* Kollektivinterview: Ana Rüsche, Camila Moreno, Daniel Santini, Elis Soldatelli, Florencia Puente, Gerhard Dilger, Isabel Loureiro, Marcos de Oliveira, Mariana Fix, Pedro Arantes und Verena Glass. Transkription: Sarah Lempp, Fotos: GD, Übersetzung: Niklas Franzen.