Im Multiversum des Kapitals

Von Raul Zelik
griechenland
In den vergangenen Jahren haben so unterschiedliche TheoretikerInnen wie Slavoj Zizek, Jacques Rancière, David Harvey, Chantal Mouffe und Toni Negri auf sehr ähnliche Weise betont, der Kampf um Demokratie sei zentraler Bestandteil eines neuen linken Projekts. Die alte These des Sozialdemokraten Eduard Bernstein, wonach „Demokratie Mittel und Zweck zugleich“ sei, nämlich ein „Mittel zur Erkämpfung des Sozialismus“, aber auch „die Form seiner Verwirklichung“, scheint durch den Zusammenbruch des Ostblocks bestätigt.
Eine klassenlose Gesellschaft lässt sich nicht von einer Avantgarde erzwingen; da gesellschaftliche Mehrheiten aber auch nicht ausschließlich aus Grass-Root-Netzwerken erwachsen (nicht umsonst hat die Bewegungslinke immer etwas Sektenhaftes), muss auch ein radikales Projekt die Frage stellen, wie es in Massenmedien und staatlichen Institutionen agiert. Vor diesem Hintergrund begegneten selbst radikale ParlamentarismuskritikerInnen dem Neo-Reformismus von Syriza, Podemos & Co mit großer Sympathie.

Das Scheitern des Neo-Reformismus
Mittlerweile scheint der demokratische Aufbruch allerdings auch schon wieder beendet. Die „post-neoliberale“ Linke Lateinamerikas, die Ende der 1990er Jahre durch Wahlen an die Regierungsmacht kam und damit den Neo-Reformismus überhaupt erst wieder vorstellbar machte, steckt unübersehbar in der Krise. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie trotz radikaler Rhetorik über eine klassische Verteilungspolitik nicht hinausgekommen ist.
Der Chavismus in Venezuela beispielsweise musste sich seine Mehrheiten immer wieder durch Konsum- und Korruptionsangebote an aufstrebende Mittelschichten, Wählerklientele, Staatsapparat und Militärs erkaufen. Finanziert hat er dies, indem er das neokoloniale Wirtschaftsmodell des Extraktivismus, also die Ausbeutung von Bodenschätzen für den kapitalistischen Weltmarkt, vertiefte.
In Europa haben sich die Grenzen des Neo-Reformismus sogar noch schneller gezeigt: Nur acht Monate nach dem Syriza-Wahlsieg hat Griechenland heute eine Regierung, in der ehemalige Eurokommunisten erzwungenermaßen das Spardiktat der Troika verwalten. Und in Spanien schließlich hat sich die Bürgerbewegung Podemos, die 2014 mit einem radikalen Demokratisierungsversprechen antrat, schon vorauseilend der Staatsräson unterworfen.
Aus Furcht, konservative Wähler zu verschrecken, führt die Partei einen derart entpolitisierten Wahlkampf, dass selbst bürgerlich-katalanische Parteien Podemos links überholen. Gemeinsam mit Polizeigewerkschaftern gegen Korruption – so könnte man die Podemos-Strategie ironisch resümieren.
Im Prinzip hat sich die alte anarchistische These, wonach sich Gesellschaften mit Wahlen nicht verändern lassen, also im Prinzip wieder einmal bestätigt. Oder klassisch-marxistisch argumentiert: Demokratie ist die spezifische Herrschaftsform der bürgerlichen Klasse und kann kein Instrument zur Selbstregierung der Vielen sein.

Demokratisierung als Klassen- und Geschlechterkampf
Doch zumindest das zweite Argument ist mittlerweile ebenfalls widerlegt. Kapitalismus und Demokratie sind keineswegs notwendigerweise miteinander verbunden. Chinas Eliten herrschen recht erfolgreich ohne jede Demokratie, und auch die Eliten im Westen entdecken zuletzt wieder eine Schwäche für offene autoritäre Formen des Herrschens.
Offenbar ist die Rede von der Demokratie irreführend. Der bürgerliche Staat und seine politischen Formen haben sich in den letzten 150 Jahren gründlich gewandelt – dies allerdings nie freiwillig und auch keineswegs immer zum Besseren.
Die Rede von der Demokratie unterstellt hingegen, das Bürgertum sei seit dem 18. Jahrhundert zielstrebig für Gleichheit, politische Freiheiten und Rechte eingetreten. Doch schon die Geschichte des Wahlrechts zeigt, wie falsch die Lieblingserzählung der Liberalen ist.
In Großbritannien, dem Mutterland der bürgerlichen Revolutionen, wurde das allgemeine Wahlrecht erst 1918 eingeführt; zuvor war es ein Privileg besitzender Klassen gewesen. Auch in Preußen herrschte bis zur Novemberrevolution das Zensuswahlrecht: Im Rahmen des „Dreiklassenwahlrechts“ wurden Wählerstimmen nach Steueraufkommen gewichtet. Die vermögendsten 4 Prozent der Bevölkerung entsandten ebenso viele Abgeordnete in den Landtag wie die ärmsten 85 Prozent der Bevölkerung.
In den USA, wo die Staatsgründung – wie Hannah Arendt begeistert nachgezeichnet hat – sogar auf rätedemokratischen Versammlungen beruhte, wurden Afroamerikaner vom Bürgertum als Halbmenschen oder Privateigentum behandelt. Und dass Frauen, also die Hälfte der Bevölkerung, in der Freiheitsphilosophie des Liberalismus überhaupt nicht auftauchten und sich ihr Wahlrecht erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts erkämpfen konnten, dürfte ebenfalls bekannt sein.
Es kann also schon einmal nicht stimmen, dass Demokratie die bürgerliche Herrschaftsform par excellence ist. Das parlamentarische System in seiner heutigen Form wurde in sozialen Kämpfen durchgesetzt und ist dementsprechend Ausdruck von gesellschaftlichen Kompromissen. Nicht bürgerliche liberale Denker, sondern Arbeiterklasse, Frauenbewegung, antirassistische Civil Rights Movement usw. haben für jene Rechtsgleichheit der bürgerlichen Gesellschaft gesorgt, die aufgrund der Eigentumsverhältnisse formal bleibt.
Das Drama der bürgerlichen Gesellschaft ist ja, dass sie Gleichheits- und Freiheitsrechte postuliert, die sie aufgrund ihrer Eigentumsverhältnisse gar nicht einlösen kann. Demokratie ist also nicht die „natürliche“ politische Form des Kapitalismus, sondern eher ein den damals aufstrebenden Klassen, nämlich dem Bürgertum, abgerungener Kompromiss.
Pablo Iglesias, Generalsekretär der spanischen Linkspartei Podemos, hat in seinem programmatischen Buches Disputar la democracia („Um die Demokratie kämpfen“) in diesem Sinne die These aufgestellt, Demokratie sei „eine Bewegung, um die Macht denen abzunehmen, die sie in Besitz genommen haben (dem Monarchen oder den Eliten), und unter dem Volk zu verteilen … Die Bewegung zur Vergesellschaftung der Macht ist der Motor der modernen Revolutionen und der Kämpfe zur Ausweitung des Wahlrechts.“

Vergesellschaftung als demokratisches Projekt
Doch auch diese Aussage hat einen Haken. Die Demokratien, wie sie hier heute kennen, sind nämlich nicht diese Vergesellschaftungsbewegung selbst, sondern deren Ergebnis: Sie sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Kompromisses, durch den herrschende Ungleichheit – zwischen Kapitalbesitzern und Nicht-Vermögenden, aber auch zwischen Staatsbürgern und Einwanderern usw. – institutionell erst einmal festgeschrieben wird. Sie stellen also sozusagen das Terrain dar, auf dem Widersprüche „eingefroren“ sind und weiter ausgetragen werden – das jedoch unter völlig ungleichen Voraussetzungen.
Während sich jeder noch so vertrottelte Millionenerbe sein Medienimperium zusammenkaufen kann, um die öffentliche Meinung in seinem Sinne zu beeinflussen, verfügen Millionen von gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen in Deutschland oder Frankreich nicht einmal mehr über eine eigene Tageszeitung, geschweige denn einen Fernsehsender.
Und auch der Parlamentarismus hat mit einer Vergesellschaftung der Macht nur sehr bedingt zu tun. Der „freie“ Abgeordnete, der (anders als der jederzeit abwählbare Delegierte der) nur „seinem Gewissen verpflichtet“ ist, hatte historisch v.a. die Funktion, die Direktherrschaft „des Pöbels“ zu verhindern. Zwischen Staatsvolk und Exekutive wurde eine zusätzliche Ebene eingezogen – für den Fall, dass die Massen falsch abstimmten.
Später entfaltete das Berufspolitikertum (ähnlich wie die Beamtenschaft der Justizapparate) Spezialisierungsstrategien, um sich unverzichtbar zu machen: Immerhin geht es für die Einzelnen um Einkommen, Ansehen und Einfluss. Die berufspolitische „Klasse“ hat also objektiv kein Interesse daran, durch eine weitergehende Demokratisierung überflüssig gemacht zu werden. Auch sie ist eine Grenze der Demokratie.
Die bestehende politische Form ist also gleichermaßen Errungenschaft und Schranke der Vergesellschaftungsbewegung, von der Iglesias spricht – weswegen man auch auf die Widersprüchlichkeit des Begriffs als solchen hinweisen sollte. Volksherrschaft. Wer ist „das Volk“? Gehören Einwanderer dazu? Endet die gemeinsame Deliberation an den Grenzen des Nationalstaats? Und wieso überhaupt Herrschaft? Sollte die „Vergesellschaftung der Macht“ Herrschaft nicht überwinden?
Trotzdem gibt es einen guten Grund, warum radikale TheoretikerInnen sich in den vergangenen Jahren wieder positiv auf einen gar nicht so unproblematischen Begriff bezogen haben. Das große antikapitalistische Gegenprojekt, der Kommunismus, beruht bekanntlich auf der Vergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln. Anders als den Liberalen, die die ökonomischen Machtverhältnisse als „Privatbeziehungen“ definieren, von der Politik abtrennen und die Demokratie damit auf den „öffentlichen Raum“ begrenzen, ging es der Linken immer um die Ausdehnung der gemeinsamen Deliberation auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, also auch auf die Arbeitsbeziehungen.
Denn genau das ist ja eigentlich „Vergesellschaftung von Produktionsmitteln“: die gemeinsame, bedarfsorientierte Entscheidungsfindung über den Einsatz von Arbeit, Ressourcen, Gütern, Solidarität und „Sorge“ (care).
Interessanterweise hatte die Linke für dieses Projekt nie eine echte Strategie. „Vergesellschaftung“ wurde kurzerhand zur Verstaatlichung gemacht, obwohl der Staat als Herrschaftseinrichtung doch eher ungeeignet für gesellschaftliche Selbstregierung ist. Heterodoxe Linke propagierten vor diesem Hintergrund die Rätedemokratie als Gegenentwurf. Doch wer einmal länger in selbstverwalteten Projekten gearbeitet hat, weiß, wie mühselig es ist, Entscheidungsprozesse gleich und solidarisch zu organisieren. Eine radikale Demokratie, in der möglichst alle möglichst gleichberechtigt entscheiden, kann nicht einfach per Dekret eingeführt werden. Vergesellschaftung ist ein Lernprozess, in dem Rückschläge unvermeidbar sind.
Wenn Vergesellschaftung aber nicht nur ein Rechtsakt ist, durch den Privateigentum zu Gemeineigentum wird, sondern eben dieser Prozess, in dem die Gesellschaft lernt, über alle Bereiche des Lebens – auch über Arbeit, Produktion, Konsum, Pflege – gemeinsam zu entscheiden, muss „Demokratie“ oder richtiger Demokratisierung ein Kernstück linker Politik sein. Anders als der Neo-Reformismus muss diese Bewegung zur „Vergesellschaftung der Macht“ aber die Grundlagen der herrschende Demokratie selbst in Frage stellen.
Vor allem vom Wunsch, besser repräsentiert und regiert zu werden, sollte sich die Linke endgültig verabschieden. Der Erfolg linker Politik misst sich nicht daran, ob eine Staatsführung Ressourcen besser verwaltet oder verteilt. Wenn man ernst nimmt, dass Demokratisierung eine zentrale Achse linker Politik ist, dann misst sich deren Erfolg daran, ob der Protagonismus der Vielen auf Kosten der Repräsentanten und Führer zunimmt.
Das Desaster der Tsipras-Regierung besteht nicht darin, dass sie sich gegenüber der Troika geschlagen gegeben hat und im Euro blieb, sondern dass sie nicht öffentlich debattiert hat, was das für den gesellschaftlichen Aufbruch bedeutet, der mit dem Oxi-Referendum erneut an Kraft gewonnen hatte. Die Linke denkt viel zu oft und viel zu exklusiv in Kategorien von Staats- und Regierungsmacht. Demokratisierung als Vergesellschaftung der Macht hingegen ist ein Prozess, der genau diese Kategorien bürgerlicher Herrschaft in Frage stellt.

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