Camila Moreno über die Korruptionsverfahren in Brasilien und die tiefe Krise des Landes
Mitte April wird das brasilianische Parlament über ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff abstimmen. Am Donnerstag, am Vorabend des Jahrestages des Militärputsches vom 1. April 1964, kam es zu großen Demonstrationen im ganzen Land, um die aktuelle Regierung zu unterstützen. Über die Hintergründe der tiefen politischen Krise in Brasilien sprach Ulrich Brand für »nd« mit der Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Camila Moreno von der Bundesuniversität in Rio de Janeiro
Von Ulrich Brand, neues deutschland
Aktuell scheint es in Brasilien nur ein Thema zu geben: die Korruption. Um was geht es genau?
Camila Moreno: Allgemein gesprochen geht es um die Demokratie und den Rechtsstaat. Die Krise eskaliert jeden Tag mehr, und es scheint in der Tat so, als ob ein Staatsstreich bevorstünde. Es wäre kein klassischer Staatsstreich durch die Militärs oder ein von ihnen unterstützter. Er wird unter dem Banner der Amtsenthebung im Zusammenspiel von Parlament und Gerichten durchgeführt. Auch wenn solch eine Amtsenthebung des Präsidenten oder der Präsidentin in der Verfassung festgeschrieben ist, muss sie mit kriminellen Handlungen begründet werden. Solch ein Verfahren hat enorme Auswirkungen auf die gesellschaftliche und politische Ordnung und den demokratischen Prozess und darf deswegen nicht missbraucht werden.
Das Bündnis der Kräfte, die Dilma Rousseff aus der Präsidentschaft und damit die Arbeiterpartei (PT) aus der Regierung drängen wollen, nutzt den Vorwurf der fehlenden fiskalischen Verantwortung, nicht den der Korruption. Der Antrag auf Amtsenthebung durch die brasilianische Anwaltskammer war formuliert als »Verbrechen« im Sinne fehlender fiskalischer Verantwortung: Bilanzschönung.
In einigen Wochen muss der Oberste Gerichtshof entscheiden. Nach dem Senat und Kongress werden dann die Richter beurteilen, ob es sich um ein Verbrechen handelt oder nicht – ob sie also ihr Mandat verliert oder nicht. Auch wenn es keinen juristischen Tatbestand gibt, so gibt es eben einen politischen, der die ganze Dynamik vorantreibt.
Doch es gibt noch andere Ebenen, nämlich handfeste Korruption.
Ja, das, was parallel zum Amtsenthebungsverfahren läuft, ist die riesige Anti-Korruptions-Kampagne, die »Operation Lava Jato« (etwa: Operation Autowäsche) genannt wird, und in der erstmals die enge Zusammenarbeit zwischen den wirtschaftlich und politisch Mächtigen im Land deutlich wird. Der Umfang und die Auswirkungen dieser Verbindungen waren bisher unbekannt. Wichtig ist, dass der Präsidentin bislang im Korruptionsskandal nichts angelastet werden kann. Das sind zwei verschiedene Sachen, die aber dauernd von interessierter Seite vermischt werden.
In diesem Kontext ist das Amtsenthebungsverfahren ein missbräuchliches Täuschungsmanöver, es wird dargestellt als Wunderwaffe, um die politische Krise zu lösen, die aber in der Realität viel tiefer geht. Die Prozesse sind viel komplizierter und Teil eines immer stärker polarisierten Kontextes, massiver Medienkampagnen – gerade der sozialen Medien – gegen die PT, einem verbreiteten Anti-PT-Gefühl, das wiederum von den Medien bestärkt wird. Dazu kommt die Wirtschaftskrise.
Ist denn bereits bekannt, wer in die Korruption involviert ist? Um welche Summen geht es?
Einer der Staatsanwälte, der die Anti-Korruptionskampagne koordiniert, sagte vergangenes Jahr, dass schätzungsweise 200 Milliarden Real, also 49 Milliarden Euro pro Jahr (!) an öffentlichen Geldern für Korruption flossen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Untersuchung die bei weitem größte Krise in der Geschichte der Republik verursacht. Während die Ausmaße des Skandals immer bekannter wurden, gab es daran Kritik, dass die Untersuchungen einseitig seien und vor allem die PT und ihre Verbündeten zum Ziel hätten. Dabei wurde mehr und mehr deutlich, dass es sich um eine systematische und verallgemeinerte Praxis handelt, die zumindest bis zur ersten demokratischen Regierung nach der Militärdiktatur unter José Sarney (1985-1990) zurückgeht.
Wer hat von der Korruption alles profitiert?
Mitte März wurde eine Liste mit detaillierten Zahlungen über Jahre hinweg durch die größte brasilianische Baufirma Odebrecht gefunden, die teilweise von den Medien öffentlich gemacht wurde. Es scheint so, als ob in unterschiedlicher Form fast die ganze politische Klasse Brasiliens darin involviert wäre. Es handelt sich eben nicht um eine Episode, sondern die illegalen Praktiken waren strukturell und zeigen, wie Politik in Brasilien funktioniert und wie politische Kampagnen finanziert werden: Korruption ist tief in die staatlichen Strukturen und Logiken, Handlungen und Motivationen eingewoben.
Im Zentrum der aktuellen Untersuchungen stehen jedoch die Infrastrukturprojekte von Petrobras, der größten halbstaatlichen Firma, ihre Verbindungen zu Geldwäsche und die Mittelflüsse an die Mitte-Rechts-Partei PMDB (Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung), die ja schon in den 80ern mit Sarney einen Präsidenten stellte und seit 2005 mit der PT eine Koalition bildete, und ihre Basis; dann ab 2003 die Zahlungen an die neue Regierung unter Führung der Arbeiterpartei.
Die Namen von Dilma Rousseff oder ihres Vorgängers Luiz Inácio Lula da Silva sind bislang auf keiner Liste zu finden. Dennoch durchsuchte die Bundespolizei Anfang März das Haus Lulas …
Das war in der Tat eine Schlüsselepisode, um zur weiteren Eskalation beizutragen. Es gibt laufende Untersuchungen, die Lula und seine Familie als Besitzer eines Appartements und eines Landhauses mit Bestechlichkeit in Verbindung bringen wollen. Der Vorwurf lautet, dass angeblich beide Häuser als »Gefallen« durch eine Baufirma, die in den Petrobras-Skandal involviert ist, bezahlt wurden. Es droht eine Untersuchungshaft. Die Möglichkeit, Lula zu inhaftieren, liegt in dieser Untersuchung, die von Bundesrichter Sérgio Moro geleitet wird. Moro ist die führende Figur in dem ganzen Prozess. Bis vor kurzem blieb der Fall bei Richter Moro, doch die Zuständigkeit wurde ihm vom Obersten Gerichtshof genommen und sein Vorgehen kritisiert, insbesondere, dass er Mitschnitte von Telefongesprächen zwischen der Präsidentin und ihrem Vorgänger veröffentlichte sowie die Anwälte von Lula gegen jedes Recht abhörte.
Warum sind die Untersuchungen jetzt so prominent?
Die »Operation Autowäsche« begann im Jahr 2014. Es wird behauptet, dass sie die größte organisierte Korruption in der jüngsten Geschichte der Republik aufdeckt mit Mitgliedern der Arbeiterpartei als zentralen Figuren und Nutznießern. Wir sollten aber nicht vergessen: Solch eine Untersuchung kann nur stattfinden, weil die verschiedenen PT-Regierungen überhaupt erst die rechtsstaatlichen Bedingungen und Mittel geschaffen haben, dass die Polizei und das Anklage- wie Rechtssystem überhaupt unabhängig arbeiten können. Vorher haben dieselben Verbrechen stattgefunden und wurden nicht verfolgt, nun aber können sie gemäß den Gesetzen untersucht und verfolgt werden. Die Autonomie der brasilianischen Rechtsprechung wurde erst mit den PT-Regierungen umgesetzt, und es sind ja auch PT-Politiker im Gefängnis.
Wie unvoreingenommen ist die Justiz?
Es ist eine fast schon messianische Generation der Staatsanwälte, die sich als Heilssoldaten auf einer Art Kreuzzug gegen die Korruption sieht. Dabei geht es nicht per se gegen die Führung einer bestimmten Partei. Trotz ein paar einseitiger und politisch motivierter Aktionen ist unbestreitbar, dass zum ersten Mal in der Geschichte die wirtschaftlichen Schwergewichte – Anteileigner, Firmenbesitzer und Top-Manager – im Gefängnis sitzen und zwar mit sehr langen Haftstrafen. Wenn man so will: Auch Teile der brasilianischen Großbourgeoisie.
Brasilien ist ein Land mit historischer und umfassender Straflosigkeit; das ist wirklich neu. Es gibt daher nun eine sehr ernsthafte Spaltung der Eliten. Denn die Staatsanwälte und Richter kommen auch aus wohlhabenden Familien, aber sie müssen sich für ihre Jobs qualifizieren, haben fixe Gehälter und gehören nicht zu Top-Verdienern wie Manager und Rechtsanwälte. Die Frage ist, ob und wann es wieder zu neuen Bündnissen zwischen den Eliten kommt.
Sprechen wir über die Wirtschaftskrise. Welche Bereiche sind besonders betroffen?
Die gesamte Wirtschaft lahmt, wir erleben Inflation, Rezession und wachsende Arbeitslosigkeit. Hinzu kamen erhebliche Kürzungen im aktuellen Budget und Reformen im Sinne der Austeritätspolitik, die Auswirkungen auf Sozialprogramme und die Rechte der Arbeiter haben. Die Währung Real wurde abgewertet.
Der einzige Sektor, der Einkommen generiert und verhaltene Wachstumsperspektiven hat und damit zu Stabilität beitragen könnte, ist das Agro-Business. Es geht darum, Zugang zu neuen Getreide- und Fleischmärkten zu bekommen, hygienische Handelsbarrieren abzubauen, um Kredite, große Infrastrukturprojekte. Ein Schlüsselakteur ist China, wo es um langfristige Beziehungen geht, um von den dort sich rasch verändernden Ernährungsgewohnheiten zu profitieren.
Das Agro-Business ist ja inzwischen hochgradig industrialisiert.
Es besteht eine Verkettung mit der Abhängigkeit des Entwicklungsmodells vom Öl und den aktuell spürbaren Auswirkungen. Die Anti-Korruptions-Kampagne hat aktuell die großen Bauvorhaben, in die Petrobras involviert ist, gestoppt. Auch die großen Infrastrukturprojekte wie Häfen oder Raffinerien und die Schifffahrtindustrie, die wiederum Schiffe, Ölplattformen, Kanäle und Pipelines baut, sind gestoppt. Von denen hängen wiederum Bergbau sowie Eisen- und Stahlindustrie ab.
Auch viele Dienstleitungen sind damit eng verbunden: Software, Ingenieure, Logistik, Rechtsberatung etc. Die Krise ist entlang einer ganzen Kette bemerkbar: vom Immobilienmakler, der für Top-Manager Häuser sucht, bis zur Reinemachefrau im Schlafsaal der Arbeiter auf einer Baustelle, vom Internet-Café um die Ecke bis zum Kaffeehaus und Schönheitssalon. Im Staat Rio de Janeiro wirken manche früheren Ölstädte heute wie Geisterstädte. Leute werden entlassen ohne kurzfristige Aussicht auf Erwerbsarbeit, Firmen gehen Pleite, Verträge werden nicht erfüllt.
Sehr viel öffentliches Geld und auch Mittel aus den Rentenversicherungen wurden in die Infrastruktur für die Ölförderung investiert. Doch jetzt sorgt der niedrige Ölpreis – wie in anderen Ländern auch – dafür, dass die Förderkosten für das brasilianische Offshore-Öl viel zu hoch sind. Auf der anderen Seite geht der sogenannte Superzyklus der Ressourcenpreise und -nachfrage offensichtlich zu Ende, vor allem für Eisenerz, was nach Soja das zweitwichtigste Exportprodukt Brasiliens ist. Eisenerz zeigt die globalen Abhängigkeiten, denn Nachfrage und Preis hängen für Brasilien fast ausschließlich vom Urbanisierungsprozess in Asien, besonders in China, ab. Nur die Aussicht auf Kriege und entsprechende Rüstung kann absurderweise die Nachfrage nach Eisenerz stimulieren.
Last but not least: Ich habe im Verlauf des Gesprächs den Eindruck gewonnen, dass Sie selbst ob der Entwicklungen politisch zerrissen sind.
Das stimmt. Es ist wirklich sehr schwer, diese Regierung ob ihrer vielen Fehler zu verteidigen. Aber angesichts der Gefahr des skizzierten Putsches stehen wir zusammen, um sie zu verteidigen, und wir gehen auf die Straße. Das ist irgendwie hart, denn wenn die PT an der Macht bleibt, wissen wir auch, was sie weiterhin tun wird, und das ist auch nicht gut.
Um es mal positiv zu sehen: Die aktuelle Situation kann Möglichkeiten öffnen, die völlig aus dem Horizont geraten waren und die in interessante Richtungen weisen können. Da gibt es zum Beispiel sehr bekannte Künstler und Künstlerinnen, die sich für die Regierung und gegen einen Staatsstreich aussprechen, was katalytische Wirkungen haben könnte.
Wenn man es pessimistisch sieht, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass die Regierung ihre inhaltlichen Positionen derzeit ausverkauft, um im Senat und Abgeordnetenhaus politische Unterstützung und Mehrheiten zu sichern vor der Abstimmung über die Amtsenthebung Mitte April. Das kann weitreichende und fatale Konsequenzen haben.
Fotos: Rovena Rosa\wikicommons via Wikipedia (2), Verena Glass, Gerhard Dilger
ND-Brasilien-Interview Moreno Seite 3-04-04-16