Anatomie einer Demontage

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Michel Temer bekommt die Ernennungsurkunde als Interimspräsident überreicht

Nach einem grotesken Spektakel im Abgeordnetenhaus von Brasília und einer 20-stündigen Marathonsitzung im Senat ist Brasiliens linke Präsidentin Dilma Rousseff vom Amt suspendiert worden
Symbolträchtig hat Interimspräsident Michel Temer ein Kabinett weißer, grauer Männer installiert: Der gesellschaftliche Rollback auf breiter Front, der schon länger im Gange ist, soll nun von ganz oben beschleunigt werden. Doch innerhalb von 20 Tagen mussten bereits zwei Minister ihren Hut nehmen, der Widerstand auf der Straße wächst.
Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Der britische Historiker Perry Anderson, der bereits die Regierungszeiten von Rousseffs Vorgängern Fernando Henrique Cardoso und Luiz Inácio Lula da Silva klug analysiert hatte, beschreibt in einem ausführlichen Essay, das im Englischen am 8. April in der London Review of Books erschien, wie sich die traditionelle Führungsschicht Brasiliens der ungeliebten Arbeiterpartei entledigte. Politiker, Spekulanten, Wirtschaftsbosse, Medienzaren und Richter – an der systematischen Demontage der glücklosen Staatschefin Dilma Rousseff waren viele Akteure beteiligt. Aber auch Lula und andere Vertreter der Arbeiterpartei tragen Mitverantwortung: Korruption, die erratische Wirtschaftspolitik der letzten Jahre und politische Fehleinschätzungen haben den kalten Putsch erst möglich gemacht. (GD)
 
Von Perry Anderson
In den BRICS-Staaten läuft es derzeit alles andere als rund. Noch vor Kurzem waren sie die treibenden Motoren des internationalen Wirtschaftswachstums, während der Westen in einer der schlimmsten Finanzkrisen und Rezessionen seit der Großen Depression versank. Heute sind sie es, die in den Hauptquartieren von IWF und Weltbank zunehmend Kopfschmerzen bereiten. Besondere Besorgnis ruft aufgrund ihrer speziellen Bedeutung für die globale Ökonomie die Situation in China hervor. Hier hat sich das Wirtschaftswachstum deutlich abgeschwächt und der staatliche Schuldenberg schwindelerregende Höhen erreicht. Russland steht aufgrund der abgestürzten Ölpreise und der negativen Auswirkungen der Sanktionen inzwischen massiv unter Druck. Indien hält sich zurzeit noch am besten, neuere Statistiken deuten aber auch hier auf beunruhigende Entwicklungen hin. Südafrika dagegen befindet sich im freien Fall. Ferner verschärfen sich überall die politischen Spannungen: Xi Jinping und Wladimir Putin lassen die Unruhen in ihren Ländern mit Gewalt niederschlagen, die Umfragewerte für Narendra Modi sind in den Keller gerauscht, und Jacob Zuma ist selbst bei seiner eigenen Partei in Ungnade gefallen. Aber nirgendwo hat die wirtschaftliche und politische Krise eine ähnliche explosive Lage hervorgebracht wie in Brasilien, wo Unmut und Unzufriedenheit mit der Regierung im letzten Jahr wahrscheinlich mehr Demonstranten auf die Straßen und öffentlichen Plätze getrieben haben als in der restlichen Welt zusammengenommen.
Seit 2011 ist die frühere Guerillera Dilma Rousseff, die der immer noch äußerst populäre Luiz Inácio Lula da Silva zunächst zu seiner Kabinettschefin und später zu seiner Nachfolgerin erkoren hatte, Präsidentin von Brasilien. Bei ihrem ersten Wahlantritt hatte sie – ähnlich wie zuvor Lula – eine überwältigende Mehrheit der Stimmen erhalten, im Oktober 2014 gelang ihr dann ein zweiter, wenn auch eher knapper Sieg. Der Vorsprung vor ihrem Konkurrenten Aécio Neves, dem Gouverneur von Minas Gerais, betrug lediglich drei Prozent. Darüber hinaus zeichneten sich die letzten Präsidentschaftswahlen durch eine ungewöhnlich starke geografische Polarisierung aus: Während Rousseff im industrialisierten Süden und Südwesten des Landes eine Riesenschlappe erlitt, konnte sie im Nordosten eine beeindruckende Mehrheit von 72 Prozent aller Stimmen erzielen, womit ihr Ergebnis hier noch das von 2010 übertraf. Trotz dieser Besonderheiten war dies ein durchaus ernstzunehmender Wahlsieg, vergleichbar vielleicht mit dem von François Mitterrand 1980 gegen Valéry Giscard d’Estaing, und weitaus klarer als etwa der von John F. Kennedy 1960 gegen Richard Nixon. Dilma – wie sie von fast allen Brasilianerinnen und Brasilianern genannt wird, und auch ich werde im Folgenden auf die Nennung ihres Nachnamens verzichten – trat daraufhin zu Beginn des Jahres 2015 ihre zweite Präsidentschaft an.
Es waren noch nicht einmal drei Monate ihrer neuen Amtszeit vergangen, als in allen größeren Städten des Landes die Menschen zu Millionen auf die Straßen strömten, um ihren Rücktritt zu fordern. Die sogenannte Sozialdemokratische Partei (Partido da Social Democracia Brasileira/PSDB) des von ihr besiegten Aécio Neves ließ sich von Umfragewerten beflügeln, wonach angeblich nur noch ein einstelliger Prozentsatz der Bevölkerung hinter der Präsidentin stand, und bereitete im Nationalkongress alle notwendigen Schritte für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens (Impeachment) gegen sie vor.[1] Am 1. Mai 2015 konnte sich Dilma noch nicht einmal mehr wie in den Jahren zuvor mit einer Fernsehansprache an die Bevölkerung richten.[2] Während der Ausstrahlung ihrer Rede zum Internationalen Frauenkampftag am 8. März hatten die Menschen, ausgestattet mit Töpfen, Pfannen und Autohupen, einen Höllenlärm veranstaltet – eine Form des Protests, die panelaço (Kochtopfschlagen) getauft worden ist. Über Nacht war die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores/PT), die sich lange Zeit mit Abstand der höchsten Zustimmungswerte in Brasilien erfreuen konnte, zur unbeliebtesten Partei des Landes geworden. Hinter verschlossenen Türen klagte Lula: „Wir haben die Wahlen gewonnen, aber am Tag darauf hatten wir sie schon wieder verloren.“ Viele Mitglieder fragen sich, ob die Partei überhaupt noch eine Chance hat, diese Krise zu überleben.
Wie konnte es nur dazu kommen? Im letzten Jahr von Lulas Regentschaft, als die Weltwirtschaft noch immer unter den unmittelbaren Auswirkungen des Finanzcrashs von 2008 litt, hatte die Wachstumsrate in Brasilien noch bei 7,5 Prozent gelegen. Nach Dilmas Machtübernahme ergriff die Regierung zunächst strengere Maßnahmen gegen eine drohende Überhitzung der Wirtschaft, was von den „Finanzexperten“ in den Medien begrüßt wurde und wie eine Art Rückversicherungspolitik wirkte. Selbst Lula hatte sich zu Beginn seiner ersten Amtsperiode für eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik entschieden. Aber als das Wachstum radikal einbrach und sich an den Finanzmärkten wieder etwas Unheilvolles zusammenbraute, kam es zu einem Kurswechsel. Die Regierung versuchte mit einem umfangreichen Konjunkturpaket eine nachhaltige Entwicklung im Land anzukurbeln. Man senkte die Zinsraten, die Einkommenssteuer und die Preise für Strom, vergab mehr Bankkredite an Privathaushalte, wertete die nationale Währung ab und führte begrenzte Kontrollen des Kapitalverkehrs ein.[3] Dilmas Zustimmungswerte in der Bevölkerung schnellten infolge auf 75 Prozent hoch – mit die besten während ihrer ganzen Amtszeit.
Aber die Wirtschaft lahmte weiterhin: Im Jahr 2011 lag die Wachstumsrate in Brasilien bei nur noch mäßigen 2,7 Prozent, im Jahr 2012 war sie auf ein Prozent abgerutscht, die Inflation lag bei ganzen 6 Prozent. Im April 2013 erhöhte die brasilianische Zentralbank völlig unerwartet den Zinssatz, womit sie die „neue ökonomische Matrix“ von Dilmas Finanzminister Guido Mantega unterlief. Zwei Monate später wurde das Land von einer Welle von Massenprotesten erfasst, ausgelöst durch eine Erhöhung der Busfahrpreise in São Paulo und Rio de Janeiro. Relativ schnell eskalierten diese Proteste. Angestachelt von den Medien, entwickelte sich aus der Unzufriedenheit mit der Qualität öffentlicher Infrastruktur und kommunaler Dienstleistungen eine grundsätzliche Feindseligkeit gegenüber allen staatlichen Stellen, die man als inkompetent beschimpfte. Von einem Tag auf den anderen verlor die Regierung der PT die Hälfte der Unterstützung in der Bevölkerung. Diese trat daraufhin eine Art Rückzug an, nahm erste Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben vor und tolerierte erneut steigende Zinssätze. Die Wirtschaft schwächelte weiter – im Jahr 2014 lag das Wachstum bei null Prozent –, aber die Beschäftigungsquote und die Löhne blieben stabil. Am Ende ihrer ersten Amtsperiode kämpfte Dilma trotzig und mit aller Kraft für ihre Wiederwahl und versicherte, sie würde auch in Zukunft alles tun, um die Lebensverhältnisse der arbeitenden Bevölkerung in Brasilien zu verbessern. Dies sei weiterhin ihre oberste Priorität. Ihren Gegnern von den „Sozialdemokraten“, der PSDB, warf sie vor, diese wollten mit der Abschaffung von Sozialleistungen für die Armen die von der PT erreichten sozialen Fortschritte rückgängig machen. Trotz eines massiven ideologischen Trommelfeuers gegen die Präsidentin in den Medien reichte dies aus, um ihr einen zweiten Wahlsieg zu sichern.
Noch vor dem offiziellen Beginn der zweiten Amtszeit wechselte Dilma erneut die wirtschaftspolitische Richtung. Plötzlich ließ sie verlautbaren, ein Tick Austeritätspolitik könne nicht schaden. Sie entließ den Architekten der „neuen ökonomischen Matrix“, Mantega. Stattdessen hievte man den in Chicago ausgebildeten Leiter der Vermögensabteilung von Brasiliens zweitgrößter Privatbank auf den Sessel des Finanzministers, versehen mit dem Auftrag, die Inflation einzudämmen und wieder Vertrauen in die brasilianische Wirtschaft herzustellen. Die Agenda hatte sich ganz offensichtlich geändert. Die Vorgaben waren nun, sozialstaatliche Ausgaben zu kürzen, die Kreditvergabe durch öffentliche Banken zu reduzieren, öffentliches Eigentum zu privatisieren und die Steuern zu erhöhen, um den Staatshaushalt zu sanieren und einen Primärüberschuss zu erzielen. Es dauerte nicht lange, da lag der Zinssatz der Zentralbank bei 14,2 Prozent. Da die Wirtschaft bereits kränkelte, trieb dieses prozyklische Maßnahmenpaket das Land noch weiter in eine ernsthafte Rezession hinein: Die Investitionen gingen zurück, die Löhne fielen und die Zahl der Arbeitslosen wuchs um mehr als das Doppelte. Mit dem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts sanken auch die Steuereinnahmen, womit Haushaltsdefizit und öffentliche Verschuldung immer größer wurden. Jede Regierung hätte angesichts dieser rasanten Verschlechterung der ökonomischen Lage an Zustimmung in der Bevölkerung verloren. Aber der rapide Popularitätsverlust von Dilma ist nicht nur auf die negativen Auswirklungen der Rezession auf die Lebensumstände der „kleinen Leute“ und deren Unzufriedenheit damit zurückzuführen. Er ist vielmehr der Preis, den sie für ihr gebrochenes Wahlversprechen zu zahlen hatte. Und dies muss für sie wesentlich schmerzhafter gewesen sein. Die überragende Mehrheit ihrer Wählerinnen und Wähler empfand ihr Vorgehen als estelionato, als Wahlbetrug. Man warf ihr vor, sich ihren politischen Gegnern angedient und ihre Ziele verraten zu haben. Das löste bei ihren früheren Anhängerinnen und Anhängern nicht nur Enttäuschung aus, sondern auch Wut.
Man muss nicht allzu lang nach den Hintergründen dieses Debakels suchen. Sie haben zu einem großen Teil mit dem von der PT favorisierten Wachstumsmodell zu tun. Von Anbeginn beruhte dessen Erfolg auf zwei Voraussetzungen: einer Rohstoffhausse auf dem Weltmarkt und einem Konsumboom im Inland. Zwischen 2005 und 2011 hat sich die Handelsbilanz Brasiliens um ein Drittel verbessert, da mit der gestiegenen Rohstoffnachfrage aus China und anderswo ein deutlicher Ausbau der Exportgewinne und Steuereinnahmen verbunden war, mit denen man umfangreiche Sozialprogramme finanzieren und den Inlandkonsum ausweiten konnte. Am Ende von Lulas zweiter Amtsperiode war der Anteil der primären Rohstoffe am Gesamtexporterlös Brasiliens von 28 auf 41 Prozent gestiegen, während der Anteil der Industriegüter von 55 auf 44 Prozent gefallen war. Am Ende von Dilmas erster Präsidentschaft ging mehr als die Hälfte der Exportgewinne auf Rohstoffausfuhren zurück. Aber seit 2011 sind die Preise für die wichtigsten Handelsgüter des Landes zusammengebrochen: Der Preis für Eisenerz fiel von 180 auf 55 US-Dollar pro Tonne, der für Soja von 18 auf 8 US-Dollar pro Bushel, der für Rohöl von 140 auf 50 US-Dollar pro Barrel. Nicht nur blieb der Geldsegen aus Übersee zunehmend aus, auch der Ansatz, den Konsum im Inland anzutreiben, stieß an seine Grenzen. Von Anfang an hatte eine wesentliche wirtschaftspolitische Strategie der von der Arbeiterpartei geführten Regierungen darin bestanden, über eine Erhöhung der Massenkaufkraft die inländische Nachfrage zu stärken. Wichtige Instrumente hierfür waren die Anhebung des Mindestlohns und die Einführung von direkten Einkommenshilfen für die Armen (Bolsa Família) gewesen, aber auch die massive Ausweitung von Verbraucherkrediten. In den Jahren zwischen 2005 und 2015 nahm die Privatverschuldung in Brasilien gewaltig zu (von 43 auf 93 Prozent des BIP), der Umfang von Verbraucherkrediten ist hier etwa um das Doppelte höher als in den Nachbarländern. Im Oktober 2014, als Dilma erneut den Sieg in den Präsidentschaftswahlen davontrug, musste ein Haushalt durchschnittlich mehr als ein Fünftel des ihm zur Verfügung stehenden Einkommens für die Zahlung von Kreditzinsen aufwenden. Nicht nur die Rohstoffhausse, sondern auch der Konsumrausch neigte sich einem Ende zu. Die beiden zentralen Wachstumsmotoren schienen abgewürgt.
Hatte Guido Mantega (PT), der damalige Finanzminister, mit der „neuen ökonomischen Matrix“ 2011 noch beabsichtigt, die Wirtschaft über mehr Investitionen anzukurbeln, standen die hierfür benötigten Mittel nun nur noch eingeschränkt zur Verfügung. Die staatlichen Banken hatten kontinuierlich ihren Anteil an Fremdkapital erhöht: seit Mantegas Amtsantritt im Jahr 2006 bis zu seiner Entlassung von einem Drittel auf die Hälfte des gesamten Kreditvolumens. Die Mittel der staatlichen Entwicklungsbank (Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social/BNDES) sind seit 2007 um das Siebenfache gestiegen. Die sogenannte Bolsa Empresarial, die staatliche Subventionierung von führenden nationalen Unternehmen durch die Einräumung von Sonderkonditionen bei der Kreditvergabe, kostete die Staatskasse beträchtlich mehr als die Unterstützung von armen Familien (etwas mehr als das Doppelte). In den Genuss dieser Vorzugsbehandlung kamen vor allem große Rohstoffunternehmen und Baufirmen, während die städtische Mittelschicht die Ausweitung des öffentlichen Banken- und Kreditsystems mit wachsendem Argwohn verfolgte, der nach und nach in eine aggressive Ablehnung der Arbeiterpartei umschlug. Unterdessen prangerten die nationalen Medien – mit Unterstützung der Wirtschaftspresse in London und New York – den staatlichen Dirigismus in Brasilien an und warnten vor dessen negativen Folgen. Auch Mantega unternahm daraufhin einen Richtungswechsel und bemühte sich, Investitionen des Privatsektors über Steuererleichterungen und niedrigere Leitzinsen zu fördern (deutlich zu Lasten von Investitionen in die öffentliche Infrastruktur) sowie das produzierende Gewerbe durch eine Abwertung des Real zu unterstützen. Aber der Versuch, mit diesen Maßnahmen Wachstum zu erzielen und sich die Sympathien der brasilianischen Industrie zu sichern, war nicht besonders erfolgreich. Der Finanzsektor ist im Land, strukturell betrachtet, eine viel größere Macht. Die Aktiva der beiden größten Privatbanken Itaú und Bradesco liegen heute deutlich über denen der beiden Rohstoffriesen des Landes, dem Mineralölkonzern Petrobras und dem Bergbauunternehmen Vale, zudem ist ihre Geschäftsentwicklung stabiler. Dass es diesen und anderen Banken in Brasilien so gut geht, hat vor allem mit dem anhaltend hohen Zinsniveau zu tun (es gehört seit Jahrzehnten zu den weltweit höchsten), was schlecht für Investoren, aber ein Geschenk des Himmels für alle Rentiers ist. Hinzu kommen extreme Zinsdifferenzen zwischen Einlagen und Krediten, wobei Kreditnehmer gegenüber Kreditgebern das Fünf- bis Zwanzigfache für ihr Geld bezahlen müssen. In Brasilien gibt es darüber hinaus unglaublich viele Anlage- und Pensionsfonds (das Land nimmt diesbezüglich den sechsten Platz weltweit ein), die ihren Einfluss geltend machen, sowie immer mehr private Equity- und Hedgefonds. Hier hat auch die größte Investitionsbank Lateinamerikas, BTG Pactual, ihren Hauptsitz.
Ende 2012 ging die Regierung auf Konfrontationskurs zu den Banken und senkte den Leitzins auf den bis dahin niedrigsten Stand von zwei Prozent. Damit war nicht zuletzt die Hoffnung verbunden, das Industriekapital auf ihre Seite zu ziehen. Die Reaktion dessen in São Paulo angesiedelten Arbeitgeberverbands war allerdings wenig euphorisch: Er signalisierte mit knappen Worten Zustimmung zu diesem Schritt, was ihn jedoch nicht darin hinderte, sein Fähnlein nach dem Wind zu hängen und kurz darauf, im Juni 2013, die gegen Dilma und die PT gerichteten Demonstrationen zu unterstützen. Als unter der Regierung von Lula noch alle Zeichen auf Wachstumskurs gestanden hatten, hatten die Industriellen gern die Hände aufgehalten und enorme Profite eingestrichen. Fast jede gesellschaftliche Gruppe hat damals von der staatlichen Politik profitiert, viele haben ihren Lebensstandard und ihre Stellung deutlich verbessern können. Als diese Phase unter Dilma zu Ende ging und Streiks und Unruhen aufflammten, erwiesen sich vor allem die Unternehmer, die von zahlreichen Vergünstigungen und staatlichen Subventionen von staatlicher Seite profitiert hatten, als äußerst undankbar. Außerdem sind viele der Großkonzerne in der Realwirtschaft in Brasilien – so wie ihre Counterparts im globalen Norden auch – häufig selbst an Finanzfonds beteiligt, die nun unter dem wachsenden Druck auf Aktienvermögen und „Couponschneider“ leiden. Es lässt sich also nur schwer eine klare Trennung zwischen dem Industrie- und Finanzsektor aufrechterhalten. Die Industriellen lassen sich zudem mehrheitlich in der oberen Mittelschicht verorten, die viel artikulierter ist und politischer agiert, als das für die Geschäftswelt üblich ist. Sie verfügen über ausgezeichnete Kommunikationsfähigkeiten und -möglichkeiten und sind ideologisch wesentlicher gefestigter als das Gros der Gesellschaft. Ihre Feindseligkeit gegenüber der PT trägt manchmal fast schon fanatische Züge. Sie fühlen sich auf gewisse Weise eingekeilt – über ihnen die Banker und unter ihnen die Selbstständigen und Facharbeiter, beide Lager fest entschlossen, die amtierende Regierung zu stürzen. Da bleibt wenig Raum für politische Unabhängigkeit.
Die Front der Gegner von Dilma wurde also immer massiver. Auf wen konnten sich die PT und die von ihr angeführte Regierung überhaupt noch stützen? Die brasilianischen Gewerkschaften, die früher einmal als sehr kämpferisch galten, sind nur noch ein Schatten ihrer selbst, obwohl sie unter Dilma wieder ein wenig mehr Lebensgeist gezeigt haben. Die Armen sind zu großen Teilen zu passiven Leistungsempfängern geworden. Obwohl die untersten Einkommensgruppen bis heute stark von den Sozialprogrammen der PT profitieren, hat man niemals Anstalten unternommen, im größeren Umfang in ihre Bildung zu investieren, sie zu organisieren und zu einer kollektiven Kraft zu machen. Soziale Bewegungen wie die der Landlosen oder der Obdachlosen sind von der PT immer mehr auf Distanz gehalten worden, viele Intellektuelle hat man nicht ernst genommen und ausgegrenzt. Aber die Arbeiterpartei hat nicht nur versäumt, die gesellschaftlichen Potenziale und Energien „von unten“ aufzugreifen und zu entfalten sowie die Menschen zu mobilisieren. Die Art und Weise, wie sie materielle Hilfen und Wohltaten organisierte, schuf außerdem kaum Anknüpfungspunkte für Solidarität. Es kam zu keiner nennenswerten Umverteilung von Vermögen und Einkommen: Das berüchtigte regressive Steuersystem, das Präsident Fernando Henrique Cardoso eingeführt und der PT vermacht hatte, bestraft die Armen und verschont die Reichen. Es blieb sowohl unter Lula als auch Dilma unangetastet. Zwar haben sich die Lebensverhältnisse eines beträchtlichen Teils der Armutsbevölkerung im letzten Jahrzehnt verbessert, aber der „Aufstieg“ fand in einer individualisierten Form statt. Da das wichtigste Sozialprogramm Bolsa Família eine personenbezogene Einkommensbeihilfe für Mütter von Klein- und Schulkindern ist, darf das nicht wundern.[4] Im Zuge des erhöhten Mindestlohns ist die Zahl der Beschäftigten mit einer carteira assinada gestiegen. Das heißt, wesentlich mehr Beschäftigte genießen nun volle Arbeitnehmer- und die damit einhergehenden sozialen Rechte. Es gab aber zum Beispiel keinen Zuwachs bei der gewerkschaftlichen Organisierung, im Gegenteil: Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ging zurück. Mit der Einführung von sogenannten crédito consignado (Kurzzeitkredite mit hohen Zinsbelastungen und Zugriff des Kreditgebers auf das Gehalt) hat die Regierung vor allem einen hemmungslosen Konsumrausch entfesselt, der auf Kosten von öffentlichen Dienstleistungen und Infrastrukturen ging, deren Verbesserung und Ausbau ein anderer, wenn auch kostspieligerer Weg gewesen wären, um die Wirtschaft zu stimulieren. Stattdessen fachte man den Kauf von Elektronikgeräten, weißer Ware und Autos an (es gab Steueranreize für den Erwerb von Pkw) und kümmerte sich viel zu wenig um die Wasserversorgung, den Zustand der Straßen, das Bussystem, Schulen und Krankenhäuser. Das Gemeinwesen und das Kollektive hatten weder in ideologischer noch in praktischer Hinsicht Priorität. Somit erlebte Brasilien neben der dringend notwendigen Verbesserung der Lebensverhältnisse vieler Menschen die Ausbreitung eines überbordenden Konsumismus, der mithilfe von unzähligen Lifestyle- und Hochglanzmagazinen sowie Shopping-Malls (Brasilien hat davon mehr als die meisten westlichen Länder) nicht länger nur die Ober- und Mittelschichten adressiert, sondern auch andere Teile der sozialen Hierarchie verführt und erfasst hat.
Wie schädlich diese Entwicklung für die PT war, sieht man im Wohnbereich, wo kollektive und individuelle Interessen und Motive am sichtbarsten aufeinandertreffen und sich zum Teil überschneiden. Mit dem Konsumrausch ging eine noch viel drastischere Immobilienblase einher, die Entwicklern und Baufirmen enorme Vermögen verschaffte, während die Wohnkosten in den Städten für die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner in die Höhe genschnellt sind und etwa ein Zehntel der Bevölkerung in Brasilien über keine menschenwürdige Unterkunft verfügt. Zwischen 2005 und 2014 haben sich die Immobilienpreise spekulationsbedingt um das Zwanzigfache erhöht. In São Paulo und Rio de Janeiro sind die Quadratmeterpreise um das Vierfache gestiegen. Allein im Jahr 2010 erhöhten sich die Mieten in São Paulo um 146 Prozent. Im selben Jahr standen sechs Millionen Wohnungen leer, obwohl sieben Millionen Familien dringend nach einer angemessenen Unterkunft suchten. Anstatt für eine Ankurblung des öffentlichen Wohnungsbaus zu sorgen, hat die Regierung privaten Unternehmen lukrative Aufträge erteilt, um außerhalb der Städte ein paar neue Siedlungen mit Wohnungen hochzuziehen, die für die ärmeren Teile der Bevölkerung in der Regel jedoch unerschwinglich sind. Sie hat auch nichts unternommen, um Kommunalregierungen von Zwangsräumungen von obdachlosen Menschen, die sich häufig auf Brachflächen und in informellen Siedlungen niederlassen, abzuhalten. Gegen diese Räumungen hat sich reger Widerstand organisiert. Die Bewegung der Obdachlosen zählt heute zu den wichtigsten sozialen Bewegungen in Brasilien. Sie hat sich jedoch nicht rund um die PT herausgebildet, sondern vielmehr in Opposition zu ihr.
Dilma, die über keinerlei Gegenmacht in der Bevölkerung verfügte, um dem konzertierten Druck der Eliten des Landes etwas entgegenzusetzen, hoffte wahrscheinlich nach ihrer knappen Wiederwahl, sie könne mit Sparmaßnahmen und staatlichen Deregulierungen einen Aufschwung herbeiführen. Aber die äußeren Bedingungen verhinderten ein vergleichbares Ergebnis wie das während der ersten Amtszeit von Lula. Die Phase, in der man mit Rohstoffexporten die Staatskasse langfristig sanieren konnte, scheint definitiv vorbei zu sein, und jede mögliche wirtschaftliche Erholung in der Zukunft wird wahrscheinlich eher verhalten ausfallen. Es gibt aber gute Gründe, bei der Beurteilung der aktuellen Situation in Brasilien und den Schwierigkeiten, mit denen das Land zurzeit zu kämpfen hat, die Relationen zu wahren. Sicherlich: Das Land befindet sich in einer schwerwiegenden Rezession, im letzten Jahr ist das BIP um 3,7 Prozent geschrumpft, für dieses Jahr wird die Bilanz wahrscheinlich ähnlich traurig ausfallen. Allerdings liegt die Arbeitslosigkeit noch weit unter der von Frankreich, ganz zu schweigen von der Situation in Spanien. Die Inflationsrate ist niedriger als zu Ende der Amtszeit von Fernando Henrique Cardoso und die staatlichen Reserven sind höher. Die öffentliche Verschuldung ist nur halb so hoch wie in Italien, doch angesichts der extremen Zinsbelastungen in Brasilien sind die damit verbundenen Kosten auch wesentlich größer. Trotzdem liegt das Haushaltsdefizit deutlich unter dem EU-Durchschnitt. All diese Werte werden sich in nächster Zeit wahrscheinlich weiter verschlechtern. Trotzdem: Es klafft ein deutliches Missverhältnis zwischen dem Ausmaß der Wirtschaftsmisere und dem Aufstand und dem ideologischen Gezeter darum: Anhängerinnen und Anhänger der Opposition und des Neoliberalismus haben ein starkes Interesse daran, Panik zu schüren und die Notlage des Landes übertrieben darzustellen. Das jedoch mindert in keiner Weise das Ausmaß der Krise, mit der die PT gerade zu kämpfen hat. Die ist nämlich schon lange nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politischer Natur.

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Dass die Arbeiterpartei in eine derartige Bedrängnis geraten konnte, hat mit der Verfassung Brasiliens und dessen politischen Strukturen zu tun. Fast überall in Lateinamerika hat man dem am US-amerikanischen Modell orientierten Präsidentenamt ein nach europäischem Vorbild gestaltetes Parlament mit zwei Kammern an die Seite gestellt. Das heißt: Es gibt einerseits eine übermächtige Exekutive, andererseits eine recht fragmentierte Legislative, deren Mitglieder zum Großteil durch ein „personalistisches Verhältniswahlrecht“ bestimmt werden. Typisch für dieses System, wenn auch nicht zwingend, ist eine Präsidentin/ein Präsident mit weitreichenden Handlungsbefugnissen, die/der aber nur über eine schwache Machtbasis im Parlament verfügt, wo die eigene Partei in der Regel keine Mehrheit hat.[5] Bei den meisten relevanten Gesetzesinitiativen ist die Regierung auf die Zustimmung der Legislative angewiesen. Nirgendwo ist die Machtbalance zwischen beiden so kompliziert wie in Brasilien.
Das kommt vor allem daher, weil das brasilianische Parteiensystem des schwächste und zersplittertste des Kontinents ist. In Brasilien treten die Kandidaten meist zusammen mit einer großen Zahl von Konkurrenten auf sogenannten offenen Listen (Listen einer Partei oder Listen von Parteibündnissen) an, ihre Wahlkreise umfassen häufig mehr als eine Million Personen. Eine Konsequenz dieses Systems ist, dass sich die meisten Wählerinnen und Wähler für eine Kandidatin/einen Kandidaten entscheiden, die oder der ihnen bekannt ist oder ihnen zumindest bekannt erscheint. Die Parteizugehörigkeit spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle, weil die Menschen meist wenig oder gar nichts über den Hintergrund der Parteien wissen. Die sich zur Wahl stellenden Politikerinnen und Politiker wiederum müssen Unsummen für teure Wahlkampagnen aufbringen, damit sie in der Öffentlichkeit präsent sind und die Menschen sich mit ihnen identifizieren können.[6] Fast allen Parteien, deren Zahl mit jeder Wahl wächst (28 sind derzeit im Nationalkongress vertreten, auch deswegen, weil es keine Prozenthürde gibt), fehlt es an einem klaren politischen Profil, ganz zu schweigen von so etwas wie Partei- oder Fraktionsdisziplin. Ihr Hauptzweck besteht darin, der Regierung Gefälligkeiten und Mittel abzutrotzen und sich damit die eigenen Taschen und die eines Teils ihres Klientels zu füllen (um die eigene Wiederwahl sicherzustellen). Im Gegenzug leisten sie der amtierenden Regierung zumindest temporär Gefolgschaft bei Abstimmungen im Parlament.
Als in Brasilien nach über zwei Jahrzehnten Militärherrschaft Mitte der 1980er Jahre der Übergang zu demokratischen Strukturen anstand, war die Macht der alten politischen Eliten, die diese Diktatur getragen und unterstützt hatten, weitgehend ungebrochen. Ihre größte Angst bestand darin, dass sich irgendwann im Zuge der Ausbreitung der Demokratie die Massen erheben und sich gegen die gewaltigen sozialen Ungleichheiten in Brasilien auflehnen könnten. Deswegen tat man alles, um den „Willen des Volkes“ mit einem spezifischen Miasma einzuschläfern, bestehend aus Anreizen zur persönlichen Vorteilsnahme und zu subpolitischen Querelen um Staatspfründe auf unterschiedlichen Ebenen. Der Bias des politischen Systems in Brasilien wird noch verstärkt durch eine parlamentarische Überrepräsentation bestimmter Landesteile. Jeder föderale Staat muss sich um einen Ausgleich von regionalen Interessen bemühen. Häufig sind in der oberen Parlamentskammer (siehe das Beispiel des US-Senats) überproportional stark die kleineren und ländlichen Gebiete zulasten von größeren und städtisch geprägten Regionen vertreten. In nur wenigen föderalistischen Staaten haben die Verfassungsväter aber für eine derartige Verzerrung und Asymmetrie gesorgt wie in Brasilien, wo der Quotient des Missverhältnisses zwischen den kleinsten und größten Bundesstaaten im Senat 88 zu 1 ist (zum Vergleich die USA: 65 zu 1). So nehmen die Vertreter der drei ärmsten und rückständigsten Regionen des Landes,[7] in denen zwei Fünftel der Bevölkerung leben und die das Terrain von traditionellen Lokalfürsten (caciques) sind, Dreiviertel aller Sitze im Senat ein und haben auch noch, was einzigartig ist, eine Mehrheit in der unteren Parlamentskammer, im Abgeordnetenhaus. Anstatt diese Schieflage des Systems, von der tendenziell die Konservativen profitieren, zu korrigieren, wurde das Ungleichgewicht noch größer, als im Zuge der Demokratisierung weitere dünn bevölkerte Bundestaaten hinzukamen.
Im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern, die in den 1980er Jahren ähnlich wie Brasilien nach Jahrzehnten autoritärer Herrschaft einen demokratischen Neubeginn zu meistern hatten, gelang es in diesem politischen Umfeld keiner der Parteien, die vor der Militärdiktatur in Brasilien eine wichtige Rolle gespielt hatten, zu überleben. Vielmehr wurde die Bühne anfänglich von zwei Parteien beherrscht, die beide ein Erbe der Militärdiktatur waren: die Partei der so genannten Opposition, Movimento Democrático Brasileiro (MDB), und die Partei der Militärregierung, Aliança Renovadora Nacional (ARENA) – eine Wahl zwischen zwei ähnlich großen Übeln. Die erste nannte sich irgendwann in Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB) um, und große Teile der ARENA gingen später in der Partido da Frente Liberal (PFL) auf. 1994 kam in Brasilien nach dem Rückzug der Generäle die erste stabile und demokratisch gewählte Regierung mit Fernando Henrique Cardoso an der Spitze an die Macht. Sie ging aus einem Pakt zwischen der dem Namen nach sozialdemokratischen, faktisch aber sozialliberalen Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB), einem Spin-off der PMDB, hervor, die Cardoso mitbegründet hatte und deren Hochburg der industrialisierte Süden und Südosten des Landes sind, und der dem Namen nach liberalen, faktisch aber konservativen PFL, die vor allem in den rückschrittlichen Regionen im Nordosten und Norden des Landes stark ist. Dabei handelte es sich um einen Deal zwischen den moderaten Gegnern und den traditionellen Anhängern der Militärregimes, was der Regierung im Parlament eine satte Mehrheit garantierte. Ohne größere Opposition konnten sie ein durch und durch neoliberales Programm durchsetzen – ganz in Einklang mit dem Washington-Konsens dieser Zeit.
Als Präsidentschaftskandidat wurde Cardoso – den das Kapital als Garant dafür betrachtete, dass es zu keiner Radikalisierung kommen würde – mit Geld regelrecht überschüttet. Die Wohlhabenden wissen, wem sie vertrauen können. Die Aufwendungen für seinen persönlichen Wahlkampf standen den Wahlkampfkosten von Bill Clinton in nichts nach, berücksichtigt man die Einkommensunterschiede zwischen Brasilien und den USA (die USA sind wesentlich reicher). Selbst Lula, der gegen Cardoso antrat, wurde mit einem Geldsegen vonseiten der Wirtschaft bedacht. Nachdem Cardoso aber erst einmal gewonnen und die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, war er anders als die meisten seiner Nachfolger im Präsidentenamt nicht darauf angewiesen, die Gefolgschaft des Kongresses mit Cash zu erkaufen (mit einer wichtigen Ausnahme, auf die wir noch zu sprechen kommen). Sein Bündnis mit den Oligarchenklans aus dem Nordosten des Landes erwies sich trotz der üblichen Rangeleien um Pfründe nicht nur als zweckmäßig, es hatten hier vielmehr natürliche Partner, die gemeinsame Ziele teilen, zusammengefunden. Das Arrangement erwies sich als recht stabil. Brasilianische und anglophone Bewunderer von Cardoso preisen es schon seit Längerem als Modell eines erfolgreichen Koalitionspräsidentalismus an, insbesondere für Länder, die sich weder für das US-amerikanische Regierungssystem noch für die europäischen Vorbilder begeistern können.
Und obwohl der Wahlkampf von Cardoso aus US-amerikanischer Perspektive „sauber“ war – es gab und gibt in Brasilien keine Super-PACs wie in den USA, mit denen direkt Stimmen gekauft werden[8] –, und seine Koalition nicht unter äußerem Druck zustande gekommen war, griffen er und seine Partner nach seiner Wahl auf fragwürdige Methoden zurück, um ihre Ziele durchzusetzen. Vizepräsident Marco Maciel und sein einflussreichster Bündnispartner im Kongress, Antonio Carlos Magalhães, galten als maßgebliche Stützen der repressiven Ordnung im Nordosten: Der eine war noch unter der Militärdiktatur als Gouverneur in Pernambuco eingesetzt worden, der andere war Gouverneur in Bahía. Beide hatten 1964 auf der Seite derjenigen gestanden, die die Zerschlagung der Demokratie befürwortet hatten, und beide hatten nicht vor, an der traditionellen Form, Politik zu machen, irgendetwas zu ändern. ACM, wie er sich zu nennen pflegte, prahlte gern damit: „Ich gewinne Wahlen mit einem Sack voll Geld in der einen und mit einer Peitsche in der anderen Hand.“ Sein Sohn Luis Eduardo war Cardosos Lieblingsabgeordneter im Kongress, sein Kronprinz, der als sein Nachfolger vorgesehen war, wäre er nicht so jung verstorben. Cardoso selbst, der lange so tat, als habe die Reformierung des Parteiensystems in Brasilien oberste Priorität für ihn, und der versprochen hatte, diese nach seiner Wahl anzugehen, entschied sich sofort nach seinem Einzug in den Präsidentenpalast Planalto um. Auf einmal stand eine Verfassungsänderung ganz oben auf seiner Agenda. Diese sollte es ihm ermöglichen, ein zweites Mal zum Staatsoberhaupt gewählt zu werden. Es gab in seiner Amtszeit keinerlei Bemühungen, das politische System effizienter und demokratischer zu gestalten. Cardoso sorgte stattdessen mit dem massiven Einsatz von Schmiergeldern (das war die erwähnte Ausnahme) für die notwendige Mehrheit im Kongress, um seine angestrebte Verfassungsänderung durchzubringen.

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Als Lula schließlich nach drei erfolglosen Anläufen im Jahr 2002 die Präsidentschaftswahl gewann, befand sich seine Partei, die PT, in einer schwierigeren Ausgangsposition. Nachdem Lula versprochen hatte, die verschiedenen Kapitalfraktionen weitgehend unbehelligt zu lassen, sollte er an die Macht kommen, und die Aussichten auf einen Sieg für ihn nicht schlecht standen, hatten Banker und Unternehmer selbst ihm beträchtliche Wahlkampfspenden zukommen lassen – auch wenn diese nicht ganz so großzügig ausfielen wie die für seinen Vorgänger. Aber im Kongress sah die Lage anders aus. Hier standen Lula keine bedeutsamen Bündnispartner zur Verfügung. Die PT wurde und wird von den meisten – trotz aller Maßhaltung während der Präsidentschaftsrennen und auch danach – immer noch als eine radikale Partei wahrgenommen. Sie gilt als linksaußen, verglichen mit dem Rest des politischen Sumpfes, aus dem sich die überwältigende Mehrheit im Parlament zusammensetzt. Schon während Lulas erster Amtsperiode stellte seine Arbeiterpartei nicht mehr als ein Fünftel aller Kongressabgeordneten, sie verfügte über weniger als ein Drittel der Stimmen, die Lula als Präsidentschaftskandidat auf sich hatte vereinen können. Wie sollte sie mit diesem Ergebnis irgendeine Mehrheit zusammenbringen, mit der man im Kongress vernünftig arbeiten konnte? Wie war Lula von diesem Marais aus sinnvoll zu unterstützen?
Es gab eine klassische Methode, die der erste Präsident der demokratischen Republik nach dem Militärregime, José Sarney (auch er ein vormals willfähriger Diener der Generäle), in einem beeindruckenden Maße perfektioniert hatte: Er hat sich die Unterstützung in der Legislative mit der Vergabe von Ministerien und anderen Posten und Gefälligkeiten erkauft. Bevorzugt wurden diejenigen, die sich besonders eilfertig anbiederten und ihm die meisten Stimmen in beiden Kammern des Kongresses verschaffen konnten. Dazu zählten zunächst einmal die miteinander konkurrierenden Fraktionen seiner, formal betrachtet, eigenen Partei, der PMDB, die für alle und alles offensteht. Sie ist die größte Partei im Land und wahrscheinlich diejenige, die am wenigsten Skrupel und politisches Rückgrat hat. Ein Jahrzehnt später sollte sich zeigen: Ihre Mitglieder sind mehrheitlich käuflich und knietief in sämtliche Schmiergeldaffären des Landes verstrickt. Die Arbeiterpartei hätte 2002/03 Sarney nachahmen und mit der sogenannten Zentrumspartei einen Deal aushandeln, das heißt eine Regierungskoalition eingehen können. Dafür hätte man der PMDB einen beträchtlichen Teil der Kabinettsposten und Leitungspositionen in den staatlichen Behörden abtreten müssen. Die PT jedoch lehnte diese Lösung ab – wobei bis heute umstritten ist, wer an der Führungsspitze damals dafür und wer dagegen votiert hat. Es überwog wohl die Angst vor den negativen Auswirkungen: Zu viele PMDB-Leute in der Regierung und in der Verwaltung hätten, so die Befürchtung vieler, wohl die seltene Chance auf weitreichende fortschrittliche Reformen in Brasilien zunichtegemacht. Stattdessen war die Strategie, sich aus einer Reihe von zahlreichen kleineren im Parlament vertretenen Parteien ein Regierungsbündnis zusammenzuzimmern und den Koalitionspartnern keinen allzu großen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte zuzugestehen.[9] Die PT suchte nach ihrer Machtübernahme nach einem Weg, mit dem sie den Mangel an natürlichen Partnern im Parlament, wie sie Cardoso zahlreich zur Verfügung gestanden hatten, kompensieren konnte. Da das von Sarney kunstfertig zur Anwendung gebrachte System der direkten Ämterpatronage damals für die Partei nicht infrage kam, sah der „Kompromiss“ folgendermaßen aus: Man griff zu kleinerer Münze und entschied sich für eine Art „Schmerzensgeld“, das heißt, die PT leistete monatlich Zahlungen an Senatoren und Abgeordnete anderer Parteien, auf deren Kooperationsbereitschaft die Regierung bei Gesetzgebungsverfahren und Stellenbesetzungen angewiesen war.
Als dieses System im Jahr 2005 aufflog und sich zum sogenannten Mensalão-Skandal auswuchs, büßte Lula seine Unterstützung in den Mittelschichten ein und stand auch kurz davor, sein Präsidentenamt zu verlieren. Es gelang ihm jedoch nicht nur, diese Vertrauenskrise zu überstehen, er trug im Jahr darauf auch noch einen triumphalen zweiten Wahlsieg davon. Diesmal allerdings blieb der PT angesichts der Machtverhältnisse im Parlament kaum etwas anderes übrig, als zu dem Mittel zu greifen, auf das sie unter allen Umständen hatte verzichten wollen: Nun band sie die PMDB in die Regierungskoalition mit ein. Diese erhielt eine Reihe von Minister- und Schlüsselposten im Nationalkongress und hat es sich dort seither bequem gemacht. Daran änderte sich auch nichts, nachdem Dilma Lula als Präsidentin beerbt hatte. Der Bruch kam erst im zweiten Jahr ihrer zweiten Amtsperiode.[10] Die systematische Korruption des politischen Systems hatte in dieser Zeit nicht ab-, sondern massiv zugenommen.
Wie kaum eine andere Partei hat es die PMDB in den letzten Jahrzehnten verstanden, sich den Zugriff auf öffentliche Ressourcen zu sichern und ihren Leuten persönliche Vorteile zu verschaffen (dafür muss sie nicht einmal das Staatsoberhaupt stellen, vielmehr hat die Partei jahrzehntelang darauf verzichtet, überhaupt einen eigenen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen zu schicken). Wozu diese gezielte Ausplünderung führt, lässt sich besonders gut in den lokalen und regionalen Hochburgen der sogenannten Zentrumspartei beobachten, aber auch am Beispiel von Petrobras, dem (halb-)staatlichen Ölkonzern, der zeitweise 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts Brasiliens erwirtschaftete. Rasantes Wachstum und sein Börsengang machten Petrobras nicht nur vorübergehend zum viertreichsten Unternehmen der Welt, sondern auch zu einem gigantischen Selbstbedienungsladen, und zwar in einem Ausmaß, das man sich selbst im korruptionserfahrenen Brasilien bis dato kaum hatte vorstellen können. Die Errichtung von immer neuen Raffinerien, Tankstellen, Erdöl- und Offshore-Plattformen sowie petrochemischen Anlagen bot vielfältige Möglichkeiten für den Aufbau eines komplexen Netzwerks aus Betrug, Bestechung und Geldwäsche. Ein Kartell von führenden Baufirmen des Landes kontrollierte die Ausschreibungsverfahren, schacherte sich gegenseitig die Aufträge zu, schrieb überhöhte Rechnungen und leitete einen Teil des Gewinns direkt an Petrobras-Direktoren und zahlreiche führende Parteipolitiker, denen die ersteren ihre Posten zu verdanken haben, weiter. Man geht davon aus, dass auf diese Weise insgesamt Schmiergelder in Höhe von etwa drei Milliarden US-Dollar geflossen sind. Misswirtschaft und Korruption haben in der Firmengeschichte von Petrobras einen festen Platz (Cardoso hat während seiner Amtszeit beflissentlich darüber hinweggesehen), und bis zum Frühjahr 2013 mussten die dafür im Unternehmen Verantwortlichen – wie fast alle Reichen und Mächtigen im Land mit Dreck am Stecken – nicht wirklich damit rechnen, strafrechtlich belangt zu werden.
Mit dem Mensalão-Skandal hat sich dies geändert. Seitdem setzen die mit Korruptionsfällen betrauten staatlichen Ermittlungsbehörden verstärkt drei Instrumente ein. Das erste ist ein strafrechtliches Vergleichsverfahren und nennt sich, weniger euphemistisch, auf Portugiesisch delação premiada („Belohnung für Absprachen“). Damit will man die Bereitschaft von Verdächtigen, mit Polizei und Justiz zu kooperieren, erhöhen. Das zweite ist die Einführung einer unbegrenzten Untersuchungshaft (prisão cautelar). Früher waren die Leidtragenden davon vor allem Angehörige der Unterschichten, die überall im Land massenhaft die Gefängnisse bevölkern. Seit einigen Jahren ordnen Staatsanwälte sie auch gegen Verdächtige aus anderen sozialen Klassen an und erachten sie als probates Mittel, um diese mürbe zu machen und zum Sprechen zu bringen. Drittens können Urteile eines Gerichts erster Instanz nicht länger so leicht durch höhere Gerichte aufgehoben oder in ihrer Rechtswirksamkeit eingeschränkt werden, wodurch einmal Verurteilte viel schneller als früher ihre Haftstrafen antreten müssen. Erinnern wir uns an den Tangentopoli-Skandal in den 1990er Jahren in Italien.[11] Damals sind die Mailänder Richter gegen die korrupten politischen und wirtschaftlichen Eliten ihres Landes sehr erfolgreich mit den beiden zuerst genannten Instrumenten vorgegangen. In Brasilien greift man jetzt noch zu einer weiteren Waffe: Um von den in Untersuchungshaft sitzenden Verdächtigen Informationen zu erhalten, droht man ihnen an, auch ihre Frauen und Kinder einzusperren.
Gehen wir kurz in das Jahr 2013 zurück. Damals hatte die polizeiliche Überwachung einer Autowaschanlage und das Abhören von Telefongesprächen in Brasília zu der Verhaftung eines Schwarzmarkthändlers mit einem langen Vorstrafenregister geführt. Dieser doleiro, dem man in der Hauptstadt des Bundesstaates Paraná, Curitiba, also im Süden des Landes, ins Gefängnis steckte, um seine Familie zu schützen, war der Schlüssel zur Aufarbeitung des Riesenkorruptionsskandals rund um Petrobras. Er selbst hatte als Vermittler zwischen den verschiedenen „Vertragsparteien“, den Unternehmensdirektoren und diversen Politikern im In- und Ausland, eine wichtige Rolle gespielt und ihnen wohl dabei geholfen, massenhaft Gelder zu verschieben. Nach seiner Inhaftierung wurde kurz hintereinander Strafanzeige gegen neun führende Baukonzerne in Brasilien erhoben, deren Bosse landeten im Knast genauso wie drei führende Petrobras-Manager. Es wurden Ermittlungsverfahren gegen mehr als 50 Kongressabgeordnete, Senatoren und Gouverneure eingeleitet.
Insgesamt sind wohl sieben politische Parteien in diese gigantische Schmiergeldaffäre verwickelt, die drei wichtigsten darunter sind die PMDB, die Partido Progressista Brasiliero (ein weiterer Sprössling des Militärregimes) und die Arbeiterpartei. Wer sich das meiste Geld unter den Nagel gerissen hat, ist noch unklar. Aber da kaum jemand in Brasilien irgendwelche Illusionen in Bezug auf die Redlichkeit der beiden zuerst genannten Parteien gehabt haben dürfte, sind es vornehmlich die Belastungen der Regierungspartei PT, die politisch ins Gewicht fallen. Im Vergleich zum Petrobras-Skandal, im Volksmund auch petrolão genannt, ging es in der Mensalão-Affäre rückblickend eher um Peanuts. Damals hatten sich Politiker der Arbeiterpartei wohl auch nicht persönlich bereichert. Dagegen war den Ermittlungen zufolge beim petrolão die Linie zwischen der Finanzierung von Organisationen und persönlicher Bereicherung deutlich überschritten worden. Neben anderen unschönen Details kam heraus: Lulas ehemaliger Stabschef José Dirceu, der eigentliche Parteistratege der PT, der diese großgemacht hatte, aber im Zuge seiner Verstrickung in die Mensalão-Affäre zurücktreten musste, hatte danach wohl auf den Transfer eines Teils der Petrobras-Dollar direkt auf sein persönliches Bankkonto bestanden. Auch wenn es stimmen sollte, dass das Gros der Bestechungsgelder für die Finanzierung von Wahlkämpfen, Kampagnen und zur Stärkung des Parteiapparats Verwendung fand: Der dauerhafte Umgang mit riesigen Summen klandestinen Geldes kann selbst für ehrliche Menschen eine große Versuchung darstellen. Schon lange vor der Aufdeckung des Petrobas-Skandals hat der Soziologe Chico de Oliveira und PT-Mitbegründer davor gewarnt, die Arbeiterpartei sei dabei, sich in eine völlig wurzellose und unkontrollierbare Spezies des politischen Establishments zu verwandeln. Dies konnte nicht länger als reine Metapher abgetan werden.
Die Richter aus dem südbrasilianischen Curitiba, welche die „Operação Lava Jato“ (Operation Autowäsche) gegen die Beschuldigten im Petrobras-Skandal leiten, sind ähnlich wie damals die Mailänder Staatsanwälte, die zu ihren Vorbildern zählen, über Nacht zu Medienstars geworden. Sie treten mit großem Elan auf, stellen sich als Macher und Saubermänner dar und profitieren von ihrer langjährigen Ausbildung an der Harvard Law School. Richter Sérgio Moro und Staatsanwalt Deltan Dallagnol könnten direkt einem im Gerichtssaal spielenden US-Fernsehdrama entsprungen sein. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie ihren Auftrag, gegen Korruption im Land vorzugehen, sehr ernst nehmen. Es scheint ihnen erhebliche Freude zu bereiten, die wirtschaftlichen und politischen Eliten Brasiliens in Panik zu versetzen und sie in der Öffentlichkeit vorzuführen. Aber ähnlich wie damals in Italien bei den Mani pulite („saubere Hände“) genannten Ermittlungen gibt es ein Problem mit den Methoden, die sie dabei verwenden. Massenhafte Strafanzeigen wegen persönlicher Bereicherung, unbegrenzte Inhaftierung von Verdächtigen ohne Anklagerhebung sowie diverse Instrumente, die auf eine Mischung aus positiven und negativen Anreizen (etwa Einschüchterung) setzen –, all das ist in Brasilien erlaubt und gilt als legitim, um den Rechtstaat durchzusetzen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die Weitergabe von Informationen aus laufenden Ermittlungsverfahren an die Medien, das Durchstecken von puren Verdächtigungen, ist allerdings auch in Brasilien gesetzlich verboten. Dabei handelt es sich ganz eindeutig um illegale Vorgehensweisen. In den 1990er Jahren haben die Ermittler in Italien regelmäßig zu solch dubiosen Maßnahmen gegriffen, in Curitiba wurde noch umfassender davon Gebrauch gemacht. Von Anbeginn waren diese Informations-Leaks recht einseitig ausgerichtet: Fast immer stand die Arbeiterpartei im Fokus der Anschuldigungen – mit einigen wenigen Ausnahmen. Und nicht alle Medien werden gleichermaßen mit Informationen bedacht. Die „sensationellsten Enthüllungen“ erscheinen meist zuerst in dem Blatt, das in besonders skrupelloser Rammbockmanier die Medienangriffe gegen die PT anführt: das Wochenmagazin Veja. Dieses scheut vor kaum etwas zurück. Im Oktober 2014 hat das Magazin nur wenige Stunden, bevor die Wahllokale öffneten, noch eine Sonderausgabe herausgebracht, die überschrieben war: „Sie haben alles gewusst!“ Darunter abgebildet die Gesichter von Dilma und Lula vor einem unheilvollen Hintergrund aus einem grellen Rot und einem dusterem Schwarz. Damit sollten die Leserinnen und Leser vor den kriminellen Drahtziehern des Petrobas-Skandals gewarnt werden.
Bedeutet diese Art der Verbindung etwa zwischen Justiz und Medien, dass alle die gleichen Ziele verfolgen? Handelt es sich dabei, wie die Arbeiterpartei Glauben machen will, um das Ergebnis eines gemeinsam ausgeheckten Schlachtplans? Man kann davon ausgehen, dass die brasilianischen Richter genauso wie ihre leitenden Kolleginnen und Kollegen bei den Staatsanwaltschaften und in der Bundespolizei zu den oberen Mittelschichten Brasiliens zählen und dementsprechend auch mehrheitlich deren Ansichten, Präferenzen und Ressentiments teilen. In diesem Milieu hält sich die Beliebtheit jeglicher Arbeiterpartei, egal, wie kompromissbereit sie sich geben mag, in natürlichen Grenzen. Aber vielleicht waren die gegen die PT gerichteten Leaks gar nicht so sehr Ausdruck einer spezifischen parteipolitischen Aversion, sondern vielmehr einer pragmatisch ausgerichteten Taktik? Wenn man das gewaltige Übel der Korruption im Land wirklich aufdecken und bekämpfen wollte, gab es wahrscheinlich keinen besseren Weg, als gerade die Partei an den Pranger zu stellen, die seit mehr als einem Jahrzehnt das Land regiert. Es war ferner davon auszugehen, dass die Medien aus Eigeninteresse besondere begierig Anschuldigungen in diese Richtung aufgreifen würden. Kaum jemand wollte langweilige Geschichten über für ihre Bestechlichkeit bekannten Politiker der PMDB lesen. Und auch die Missetaten der sogenannten Sozialdemokraten waren weniger interessant, weil die PSDB auf der nationalen Ebene derzeit zu den Oppositionsparteien zählt und damit weniger Zugriff auf zentralstaatliche Ressourcen hat. Was sie in den einzelnen Bundestaaten so treibt, steht auf einem anderen Blatt.
Der Lava-Jato-Skandal drang im Frühjahr 2014 an die Öffentlichkeit. Die damit verbundenen Verhaftungen und Anklagen beherrschten auch noch die Schlagzeilen, als im Herbst desselben Jahres offiziell der Wahlkampf um das Präsidentenamt begann. Die von Dilma kurz nach ihrer Wiederwahl vollzogene wirtschaftliche Kehrtwende mag zum Teil mit der Hoffnung zusammengehangen haben: Mit eindeutig neoliberalen Positionen könne man die feindselig gestimmten Medien, die die PT immer öfters als Bande von Blutsaugern und Gangstern darstellten, zur Mäßigung bringen. Sollte es so gewesen sein: Die Bemühungen erwiesen sich als vergeblich. Denn mit den regierungskritischen Massendemonstrationen im März 2015 gewann eine neue Rechte in Brasilien an Popularität, gegen deren Attacken die der PSDB gegen die PT eher harmlos wirken. In Brasilien lautet die traditionelle Parole der Rechten „Gott, Familie und Freiheit“. Mit einem „Marsch der Familie mit Gott für die Freiheit” hatten die konservativen und reaktionären Kräfte im Jahr 1964 den Militärputsch unterstützt. Ein halbes Jahrhundert später haben sich Parolen der Demonstrierenden deutlich gewandelt. Diese repräsentieren eine jüngere Generation von Aktivisten aus der Mittelschicht. Die neue Rechte – die sich oft selbst stolz als solche bezeichnet – spricht weniger von dem Allmächtigen, fast gar nicht von der Familie und vertritt eine neue Interpretation des Freiheitkonzepts. Für dieses Milieu sind freie Märkte die Grundlage von jeglicher Freiheit, der Staat erscheint so als hydraköpfiger Feind. Politik findet ihnen zufolge nicht vorrangig in Institutionen einer im Verfall begriffenen Ordnung statt, sondern sollte ihrer Meinung nach auf den Straßen und Plätzen beginnen, wo die Bürgerinnen und Bürger mit Massenprotesten das Regime an der Macht, das von Parasiten und Gangstern getragen werde, hinwegfegen könnten. Die beiden führenden Gruppen der radikalen Rechten – Vem Pra Rua und Movimento Brasil Livre – profitierten von der Welle der Anti-Dilma-Demonstrationen und orientieren sich auffällig stark an den Taktiken der radikalen Linken wie etwa dem Movimento Passe Livre, das 2013 die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen in den Großstädten angeführt hatte. Es kann kein Zufall sein, dass sich die Abkürzungen der Organisationsnamen (MBL für Movimento Brasil Livre und MPL für Movimento Passe Livre) zum Verwechseln ähnlich sind. Beide Bewegungen sind eher klein und nutzen vor allem das Internet für ihre Mobilisierungen. Neben den USA hat kein anderes Land in der Welt eine so große Gemeinde von Facebook-Süchtigen wie Brasilien. Und Organisationen wie Vem Pra Rua, MBL und anderen rechten Netzwerken – Revoltados On-Line (ROL) ist ein anderer wichtiger und bekannter Player – ist es offensichtlich wesentlich besser als den Linken gelungen, diese mit ihren Parolen anzusprechen und zu Protesten massenhaft auf die Straße zu treiben – was angesichts des Klassenprofils der Zuckerberg-Jünger nicht weiter verwunderlich ist. Heute sind die Multiplikatoreneffekte der neuen Rechten viel größer als die der Linken.
Und dann gibt es da noch als wichtigen Faktor diese neue Religion, die das gesamte Land erfasst hat. Mehr als ein Fünftel der brasilianischen Bevölkerung sind Konvertiten und haben sich in den letzten Jahrzehnten einer der vielen Strömungen des evangelikalen Protestantismus angeschlossen. So wie die bekannte Vereinigungskirche von Reverend Moon sind viele, aber vor allem die größeren Kirchengemeinden in erster Linie ruchlose Geschäftsunternehmen, denen es darum geht, den Gläubigen Geld abzupressen, um damit ihren Gründern Reichtum zu sichern und regelrechte Imperien zu errichten. Das Vermögen von Edir Macedo, Vorsitzender der Igreja Universal do Reino de Deus, wird auf mehr als eine Milliarde US-Dollar geschätzt. Macedo führt in dem scheußlichen Riesentempel von Solomon im Stadtteil Bras von São Paulo – direkt gegenüber dem nicht weniger geschmacklosen Zuhause seines Konkurrenten, der Assembleia de Deus, die zusammen eine Art religiöse Wall Street bilden – regelmäßig dramatische Teufelsaustreibungen durch, die auf einer riesigen Leinwand übertragen werden, währenddessen die andächtigen Gläubigen in der Dunkelheit singen und anschließend zur Kasse gebeten werden.
Damit nicht genug. Evangelikale kontrollieren den zweitgrößten Fernsehsender des Landes. Macedo, dessen Organisation gegenwärtig am mächtigsten ist, predigt eine „Theologie der Prosperität“ und verspricht materiellen Erfolg auf Erden anstatt nur Erlösung im Himmel. Anders als Evangelikale in den USA verfügen die Pfingstkirchen in Brasilien nicht über ein ausgeprägtes ideologisches Profil, sieht man einmal von ihrer Ablehnung von Abtreibungen oder gleichgeschlechtlichen Ehen ab. Macedo unterstützte Cardoso und seine Regierung als Bollwerk gegen den Kommunismus, später stellte er sich hinter Lula und danach hat er seine eigene politische Organisation ins Leben gerufen. Aber die meisten Kirchen in Brasilien agieren in vielerlei Hinsicht wie das Gros der Parteien: Sie sind Mittel zum Zweck, sie tauschen Stimmen gegen Begünstigungen ein, mit dem Unterschied, dass sie Kandidaten jeglicher politischen Couleur unterstützen. 18 Prozent aller Abgeordneten im Nationalkongress gehören der Frente Parlamentar Evangélica an, sie stammen aus 22 verschiedenen Parteien. Das gemeinsame Interesse dieses parteiübergreifenden Zusammenschlusses von Abgeordneten ist die Sicherstellung von Lizenzen für ihre Radio- und Fernsehstationen, die Gewährung von Steuererleichterungen für ihre vielfältigen Unternehmen und der Zugang zu Grundstücken, um sich dort Monumente pharaonischen Ausmaßes errichten zu lassen.

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Zugleich bilden sie – auch wenn sie insgesamt nicht ganz so aggressiv auftreten wie beispielsweise ihre Counterparts in den USA und in gewisser Weise promisker sind – einen konservativen Pool, aus dem sich rechte Führungspersonen rekrutieren lassen, die dann im Nationalkongress ihren Einfluss geltend machen. Der derzeitige Vorsitzende der Frente Parlamentar Evangélica war früher einmal Polizist, verfügt über beeindruckende Oberarmmuskeln und betätigt sich heute als Pfarrer. Er ist über das Ticket der PSDB ins Parlament gekommen. Im Februar 2015 wählte das Abgeordnetenhaus Eduardo Cunha zu ihrem Sprecher, womit dieser seitdem den einflussreichsten Posten im Parlament und das drittwichtigste Staatsamt in der Republik nach dem Amt des Präsidenten und des Vizepräsidenten innehat. Eduardo Cunha ist ein unternehmensfreundlicher Evangelikaler aus Rio de Janeiro, er führt die Parlamentsfraktion der PMDB an. Er gilt als Dilmas gefährlichster politischer Gegner, sie hat erfolglos versucht, seine Wahl zu verhindern. Hinter seiner schnittigen Figur und seinen guten Manieren verbirgt sich ein äußerst talentierter und skrupelloser Politiker, ein Meister der schwarzen Kunst der Manipulation, der es versteht, das Parlament nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Viele der „niedrigen Geistlichen“ verdanken ihm ihren Einzug ins Parlament und sind ökonomisch von ihm abhängig, viele haben Angst vor ihm und fürchten sich vor seiner Rache, sollten sie irgendwann mit ihm aneinandergeraten. Es ist bemerkenswert, dass die meisten Demonstrantinnen und Demonstranten auf Brasiliens Straßen erst dann die Forderung nach einem Rücktritt von Dilma erhoben, nachdem sich Cunha an die Spitze derjenigen im Parlament gesetzt hatte, die diese von der Macht verdrängen wollen – mit dem Vorwand, sie habe vor ihrer Wiederwahl illegaler Weise Mittel der Staatsbank auf Konten des Bundes überführt.
Einen Höhepunkt erreichte die Bewegung zur Absetzung von Dilma im September 2015. Sie umfasste inzwischen ein breites, aber diffuses Spektrum. Hier kommen ganz verschiedene Strömungen und Gestalten zusammen: die Jungtürken vom MBL und von ROL, die sich zusammen mit Cunha fotografieren lassen; Anhänger von Moro und Dallagnol (ein weiterer Evangelikaler), die sich mit Politikern der PSDB und anderen Lobbygruppen, die ein Impeachment fordern, verbündet haben; die Presse, die täglich die PT und den Präsidentenpalast Planalto mit weiteren Denunziationen und Vorwürfen konfrontiert. Manchmal hieß es, Dilma habe ein Defizit in der Staatskasse verschwiegen, um wiedergewählt zu werden, manchmal lautete der Vorwurf, sie habe bewusst Korruption und Bestechung geduldet, um mit den Schmiergeldern ihre Wahlkampagne zu finanzieren, oder beides. In jedem Fall, so die einhellige Auffassung in den Medien, wäre die Beweislast ausreichend, um sie sofort zu suspendieren, weil sie angeblich gegen die nationalen Interessen verstoßen habe. Umfragen zufolge waren 80 Prozent der Bevölkerung dafür, sie aus dem Amt zu jagen.
Vor dieser Kulisse explodierte Mitte Oktober 2015 eine Art Bombe. Schweizer Behörden hatten den Generalstaatsanwalt in Brasília darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Sprecher des Abgeordnetenhauses Cunha nicht weniger als vier heimliche Bankkonten in der Schweiz unterhielt – ein weiteres tauchte kurz darauf in den USA auf. Eins lief auf den Namen seiner Ehefrau, eins auf den Namen einer in Singapur gegründeten Scheinfirma, eins war in Neuseeland registriert. Das Gesamtvolumen des dort deponierten Vermögens: 16 Millionen US-Dollar oder das 37-Fache dessen, was Cunha als Vermögen in Brasilien angegeben hatte. Ihm und seiner Ehefrau standen als Geschäftsführern von zwei lokalen Unternehmen – eines davon nennt sich Jesus.com, was kein Scherz ist – allein in Rio de Janeiro eine Fahrzeugflotte von neun Limousinen und SUVs zur Verfügung. Es verdichteten sich Hinweise, dass auch Cunha enorme Bestechungsgelder von Petrobras eingestrichen hatte. Selbst für viele ansonsten wenig kritische Journalisten war das zu viel. Was daraufhin im Nationalkongress stattfand, war eine Schmierenkommödie unter geänderten Vorzeichen. Die brasilianische Verfassung sieht vor, dass nur der Sprecher des Abgeordnetenhaus ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin oder den Präsidenten im Kongress einleiten kann. Monatelang hatte die PSDB Cunha hofiert und sich mit ihm in vertraulichen Gesprächen über die Taktik und das Timing des angestrebten Verfahrens beraten. Die Aufdeckung seines Privatschatzes in der Schweiz, mit Vorwürfen und Beweisen, die um ein Vielfaches belastender sind als alles, was gegen Dilma vorliegen mag, war für die Partei wie eine schallende Ohrfeige. Wie sollte man sich dazu verhalten? Cunha hatte immer noch die Schlüssel für ein Impeachment in der Hand, das – sollte es erfolgreich verlaufen – das Wahlergebnis von 2014 revidieren und im Nachhinein den Kandidaten der PSDB, Aécio Neves, zum Sieger machen würde. Die Partei bemühte sich daher, möglichst wenig Aufheben um die Nachrichten aus Bern zu machen. Außerdem ließ sie verlautbaren, Cunha selbst habe sich noch nicht zu den Vorwürfen geäußert und müsse solange als unschuldig gelten, bis das Gegenteil bewiesen sei. Aber selbst die Medien, die den sogenannten Sozialdemokraten nahestehen, mochten nicht länger an sich halten: Wie konnte die Partei, die so tat, als habe sie die Moral für sich gepachtet, einen solch gravierenden Verstoß gegen bestehendes Recht ignorieren und schönreden?
Angesichts dieses kleinen Aufstands in den Medien sah sich die PSDB gezwungen, einen Rückzieher zu machen und kleinlaut zu verkünden, sie könne nach allem, was gegen den Sprecher des Abgeordnetenhauses vorliege, diesen nicht länger unterstützen. Unterdessen hatte eine kleine unabhängige sozialistische Partei beschlossen, eine Klage gegen Cunha einzureichen. Als Cunha klar wurde, dass die PDSB dabei war, ihn fallen zu lassen, wechselte er das Pferd. In Verhandlungen hinter geschlossenen Türen bot er der PT an, das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma nicht weiter zu verfolgen, wenn die PT dazu bereit wäre, ihn vor der Aufhebung seines Mandats und dem Ausschluss aus dem Nationalkongress zu schützen. Das war schneller getan als gesagt. Minister der PT, die kaum weniger schamlos als Politiker von der PSDB sind, versprachen ihm, sie würden ihm dabei helfen, seine Posten zu behalten, vorausgesetzt, er würde alle Angriffe auf Dilma einstellen. Dieses surreale Geschacher ging maßgeblichen Mitgliedern der Arbeiterpartei (die nicht Teil der Parlamentsfraktion sind) dann doch zu weit. Der Deal kam am Ende nicht zustande. Eine Zeitlang sah es fast so aus, als wäre die Stellung Cunhas unhaltbar geworden und das Anliegen des Impeachment durch die gegen ihn vorliegenden Beschuldigungen so geschädigt, dass es kaum mehr eine Chance haben würde durchzukommen.

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Im Hintergrund wirkten jedoch noch andere Kräfte, die alles daransetzen, die PT zur Strecke zu bringen. Seit Beginn der Krise ist der ehemalige Präsident Fernando Henrique Cardoso omnipräsent in den Medien – überall sieht man sein Bild, er gibt reihenweise Interviews, wird in zahlreichen Artikeln zitiert, hält Reden und veröffentlichte seine Tagebuchaufzeichnungen. Viele Verleger und Journalisten preisen ihn als elder statesman, dem die Republik ihre Stabilität und positive Entwicklung nach Ende der Militärdiktatur zu verdanken habe. Man versucht, ihn als weitsichtigen Denker mit internationalem Ruf darzustellen, als Stimme der Vernunft und der Verantwortung in dieser für das Land so katastrophalen Lage. Neben einheimischen Pressezaren und ihren Gehilfen haben sich auch eine Reihe einflussreicher britischer und US-amerikanischer Medien und Akademiker diesem immer lauter werdenden Chor der Pharisäer angeschlossen.[12] Einen Grund für diese Schwärmerei muss man nicht lange suchen: Cardoso hat Brasilien während seiner Präsidentschaft eine ordentliche Dosis Marktorientierung verpasst, eine Medizin, die das Land nach Ansicht vieler mächtiger Leute nach all den Ausschweifungen der populistischen PT heute dringender braucht als jemals zuvor. Cardoso selbst hatte sich während seiner Amtszeit einmal über die „ungeheure Schwierigkeit“ beklagt, dass „die Brasilianer eine gewisse Abneigung gegenüber dem kapitalistischen System“ hätten. Selbstverständlich würde er die Rückkehr zu einer wirtschaftsliberalen Politik begrüßen, aber noch mehr scheint er es zu genießen, nach so vielen Jahren endlich wieder im Rampenlicht zu stehen. Nicht zu vergessen: Er hat auch noch eine persönliche Rechnung offen. Am Ende seiner Amtszeit hatten Cardosos Zustimmungswerte nur knapp über denen der jetzigen Präsidentin gelegen. Acht lange Jahre hat er stark darunter gelitten, immer wieder mit seinem Nachfolger Lula verglichen zu werden. Lula war ein weitaus beliebterer Präsident als Cardoso und hat dessen Vermächtnis entschieden abgelehnt. Zudem ist es Lula gelungen, Brasilien mit seiner Politik nachhaltig zu verändern. Hinzu kommt: Lulas Arbeiterpartei ist in Brasilien nun schon wesentlich länger an der Macht als Cardosos Sozialdemokraten.
Für Cardoso muss das eine äußerst bittere Erfahrung gewesen sein. Bot sich ihm nun die Chance, in seiner neuen Rolle als Vordenker der Nation ein Ansehen zu erringen, das ihm als Staatschef verwehrt geblieben war? In seiner Amtszeit (1995–2003) hatte sich Cardoso nicht unbedingt durch seine besonderen geistigen Fähigkeiten und klugen Visionen hervorgetan. Auf seinem Weg nach ganz oben hatte Cardoso nicht nur seine früheren marxistischen und sozialistischen Überzeugungen über Bord geworfen, sondern im Laufe der Zeit auch alle seine intellektuellen Ansprüche. Vor allem das, was er gegen Ende seiner Regierungszeit von sich gab – zum Beispiel zum großen Segen der Globalisierung, die leider mit Unsicherheit und Ängsten einhergehe –, war alles andere als inspirierend. In seltenen Momenten hat er das wohl selbst erkannt. So sagte er einmal von sich selbst: „Ich muss zugeben, dass ich trotz einer starken intellektuellen Ader im Grunde genommen ein homo politicus bin.“ Dass ein einfacher Arbeiter ohne Bildung wie Lula politisch erfolgreicher gewesen ist als er, muss ihn zutiefst gekränkt haben. Es ist wahrscheinlich diese verletzte Eitelkeit, die Cardoso heute dazu antreibt, wieder in die Öffentlichkeit zu streben und sich als geistige Führungsfigur zu präsentieren. Vor einigen Jahren hat ihn die Brasilianische Akademie für Literatur, die ihrem französischen Vorbild nacheifert, in seine Reihen aufgenommen. Bei der Feierlichkeit erklärte Cardoso – in eine grün-goldene Uniform gekleidet und ein Schwert umgehängt – stolz, er habe seine Tätigkeiten als Politiker und Soziologe immer gut miteinander vereinbaren können, es habe keinerlei Konflikte gegeben und er könne daher sehr zufrieden auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken.
Weniger zufrieden war er allerdings mit seiner Partei, der PSDB. Diese hatte ihm durchaus Anlass zur Enttäuschung gegeben. Anstatt das Erbe ihres außergewöhnlichen Führers in Ehren zu halten, hatte sie es in ihrer Oppositionszeit vorgezogen, Cardosos Leistungen – die Modernisierung Brasiliens und die aus seiner Sicht äußerst mutigen Privatisierungen von Staatsbetrieben und öffentlicher Infrastruktur – nicht allzu lautstark zu loben. Nun jedoch, wo die Krise des lulopetismo oder petismo (so die abschätzigen Worte des ehemaligen Soziologieprofessors, die nahelegen sollen, dass bei der Unterstützung der PT und ihres Programms etwas Niederträchtiges und fast schon Demagogisches im Spiel sein müsse) offensichtlich war, würden plötzlich alle erkennen, dass er schon immer im Recht gewesen sei. Alles Gute, was die PT an der Macht hervorgebracht habe, gehe auf sein Vermächtnis zurück. Und vor allem, was die Arbeiterpartei falsch gemacht habe und völlig verheerend für das Land gewesen sei, habe er von Anfang an gewarnt. Es sei an der Zeit, ohne falsche Scham insbesondere auf die großartigen Jahre zwischen 1994 und 1998 zurückzublicken und der Misswirtschaft der PT ein Ende zu bereiten.
Obwohl Cardoso sich selbst lange Zeit zurückhielt und sich nicht öffentlich dazu äußerte, befürwortet er die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen die amtierende Präsidentin, vorausgesetzt, es sei gründlich vorbereitet und gut begründet. Selbst wenn es nicht erfolgreich sein sollte: Dilma würde sich politisch nie wieder richtig davon erholen können. An dieser Stelle wich Cardosos Kalkül von den Vorstellungen der jüngeren PSDB-Abgeordneten im Nationalkongress ab. Während diese es kaum abwarten konnten, die Macht an sich zu reißen und Dilma am liebsten von heute auf morgen gestürzt hätten, verließ sich Cardoso lieber auf das Wirken der Justiz. Diese würde, da war er sich sicher, am Ende für politische Gerechtigkeit sorgen. Dieses Vertrauen kommt nicht von ungefähr, vielmehr basiert es auf recht engen Beziehungen zwischen Cardoso und einigen hochrangigen Richtern. Vorgesehen für den Vorsitz in einem Verfahren gegen Dilma vor dem Tribunal Superior Eleitoral (der obersten Wahlbehörde) ist Gilmar Mendes, ein guter Bekannter von Cardoso, den dieser in seiner Amtszeit an den Obersten Gerichtshof berufen hatte (wo er immer noch tätig ist) und der aus seiner Abneigung gegenüber der Arbeiterpartei nie ein Geheimnis gemacht hat. Aber Dilma ist nicht die Beute, auf die er es wirklich abgesehen hat. Cardoso geht es vor allem um Lula, den er politisch vernichten will – nicht nur aus persönlichen Rachemotiven, sondern weil nicht auszuschließen ist, dass Lula angesichts seiner anhaltenden Popularität in der Bevölkerung dazu in der Lage sein könnte, 2018 noch einmal ein politisches Comeback zu feiern – vorausgesetzt, Dilma kann sich bis dahin im Amt halten. Damit wären alle Pläne, die PSDB endlich wieder zur führenden Kraft des Landes zu machen und Brasilien den rechten Weg zu weisen (zurück zu Vernunft und verantwortungsvoller Modernität), Makulatur.
Als Cardoso diese Überlegungen anstellte, begannen erste Informationen aus der Operação Lava Jato an die Medien durchzusickern, wonach Lula selbst in dubiose finanzielle Transkationen verwickelt sei und sich persönlich bereichert haben soll. Es war von Auslandsreisen in Privatjets die Rede, von hochdotierten Auftritten vor Bauunternehmern, Finanzbeteiligungen an teuren Strandvillen, einer äußerst kostspieligen Renovierung eines Landsitzes und nicht zuletzt von den obskuren Einkünften eines seiner Söhne. Als nächstes kam die Meldung über die Verhaftung eines mit Lula befreundeten Multimillionärs und Großgrundbesitzers, dem vorgeworfen wird, Schmiergeldzahlungen für einen Petrobras-Auftrag an die Kasse der PT weitergeleitet zu haben. Es schien so, als würde sich die Schlinge um Lulas Hals immer enger zusammenziehen.

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In der ersten Märzwoche dieses Jahres stand dann auch prompt eine Sondereinheit der Bundespolizei um sechs Uhr morgens auf der Matte vor Lulas Haus in São Paulo. Lula wurde zur Vernehmung zu einer Polizeistation am Flughafen gebracht. Die Medien, die im Vorfeld der Festnahme informiert worden waren, begleiteten das Ganze mit ihren Kameras. Für eine maximale Öffentlichkeit war also gesorgt. Der Vorwand für diese Publicity-Show lautete: Hätte man Lula einfach nur zu einer Zeugenaussage geladen, wie dies sonst üblich ist, hätte sich dieser wahrscheinlich aus dem Staub gemacht. In der folgenden Woche fanden die größten Demonstrationen in Brasilien seit der Militärdiktatur statt. Nach Angaben der Polizei gingen 3,7 Millionen Menschen auf die Straße, um eine gerechte Strafe für Lula zu fordern und die Absetzung von seiner Nachfolgerin im Präsidentenamt. Drei Tage später ernannte Dilma Lula zum chefe da casa civil ihrer Regierung. Mit diesem Posten des Kabinettschefs, der einem Ministeramt gleichkommt, hätte Lula eine gewisse Immunität genossen und hätte sich wie alle anderen Regierungsmitglieder und Kongressabgeordneten nur vor dem Obersten Gerichtshof verantworten und nicht den Anklagen von Moros Ermittlungsteam stellen müssen.
Moro vergeudete keine Zeit. Noch am selben Tag machte er ein abgehörtes Telefongespräch zwischen Dilma und Lula öffentlich, in dem sie ihn darüber unterrichtete, sie könne ihm die Urkunde seiner Amtsernennung zur Unterschrift sofort zukommen lassen, falls er diese benötigen sollte. Die von ihr gewählte Formulierung war unglücklich und konnte unterschiedlich interpretiert werden. In den Medien löste sie einen Aufruhr sondergleichen aus: Jetzt endlich hatte man die Mächtigen auf frischer Tat ertappt, wie sie versuchten, der Justiz und einer gerechten Strafe zu entgehen. Lula, so das einhellige Urteil der empörten Medienöffentlichkeit, durfte nicht einfach so davonkommen. Ein Richter in Brasília, der – wie sich später herausstellen sollte – kurz zuvor noch Bilder von sich auf Facebook gepostet hatte, die ihn in einem T-Shirt der PSDB auf einer Anti-Dilma-Demonstration zeigen, blockierte mit einem Unterlassungsbeschluss die Berufung Lulas zum Kabinettschef. Bundesrichter Gilmar Mendes sprang ihm umgehend bei und bestätigte das Urteil. Weniger als zwei Wochen nach diesen Ereignissen gab die PMDB ihr Ausscheiden aus der Regierungskoalition mit der PT, in der sie den Vizepräsidenten und sechs Minister stellte, bekannt. Damit, so die Begründung, wolle sie den Weg freimachen für eine rasche Absetzung der Präsidentin durch den Kongress.
Die entscheidende Akteurin in diesem Drama und verantwortlich für die Eskalation der Staatskrise in Brasilien war also die Justiz. Mit diesem medienwirksamen Coup, dem Überraschungsangriff auf den ehemaligen Präsidenten Lula am frühen Morgen, konnte kaum mehr ein Zweifel bestehen: Moro und sein Ermittlungsteam in Curitiba waren alles andere als politisch neutral und unabhängig. Kurz nach der Festnahme Lulas ließ Moro verlautbaren, er begrüße die Massendemonstrationen, die ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin forderten. „Ganz Brasilien ist auf der Straße,“ jubelte er. „Ich bin gerührt.“ Mit der Veröffentlichung des abgehörten Gesprächs zwischen Lula und Dilma, nur wenige Stunden, nachdem beschlossen worden war, den Lauschangriff einzustellen, hatte Moro eindeutig gegen geltendes Gesetz verstoßen. Zum einen müssen die Inhalte von belauschten Gesprächen, selbst wenn eine Genehmigung der Staatsanwaltschaft zum Abhören vorliegen sollte, vertraulich behandelt werden, zum anderen hat ein Staatsoberhaupt ein besonderes Recht auf den Schutz seiner persönlichen Kommunikation. Dass Moros Vorgehen illegal war, stand außer Frage. Ein Richter des Obersten Gerichtshofs sprach deswegen eine Art Tadel aus, es folgten aber keinerlei weitere Sanktionen. Die als „nicht ganz angemessen“ kritisierte Maßnahme hatte ihren Zweck mehr als erfüllt.
In den meisten modernen demokratischen Gesellschaften ist eine klare Trennung zwischen den Staatsgewalten nicht mehr als eine schöne Fiktion. Verfassungsgerichte oder Oberste Gerichtshöfe richten sich im Allgemeinen – der US-amerikanische Supreme Court bildete zweitweise eine Ausnahme – nach dem Willen der amtierenden Regierung. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, das häufig als leuchtendes Beispiel für die Unabhängigkeit der Justiz hochgehalten wird, tut sich mit seiner Rolle äußerst schwer. Immer wieder kommt es zu Urteilen, in denen eindeutige Verstöße gegen das Grundgesetz des Landes oder den Vertrag von Maastricht nicht als solche geahndet werden, weil dies nicht dem Interesse der Exekutive entspricht. In Brasilien hat die Politisierung der oberen Gerichte und deren Besetzung eine längere Tradition. Bundesrichter Gilmar Mendes ist vielleicht ein extremes, aber aufschlussreiches Beispiel für die vorherrschenden Verstrickungen. Cardoso und er sind schon lange miteinander befreundet. Als der Erstere noch Präsident war, hat er Mendes einen Ministerposten zugeschanzt, um ihn vor einem Strafermittlungsverfahren zu schützen (Mendes wirft Dilma nun vor, das Gleiche in Bezug auf Lula versucht zu haben). Danach ernannte er ihn zum Präsidenten des Obersten Bundesgerichts. Damals schlich sich Cardoso, wenn er etwas mit Mendes zu besprechen hatte, über die Tiefgarage in dessen Besprechungszimmer. Das Problem mit Mendes war, dass er keinerlei Hehl aus seiner engen Verbindung zur PSDB machte – er galt als tucano demais (der Tukan ist das Parteisymbol der PSDB). Selbst Journalistinnen wie etwa Eliane Cantanhêde, die der politischen Rechten wohlgesonnen sind, zeigten sich irritiert, dass Mendes in aller Öffentlichkeit gut gelaunt mit prominenten Parteiführern zu Mittag aß, die er noch kurz zuvor von Anklagen freigesprochen hatte. Er schreckte auch nicht davor zurück, öffentliche Gelder für persönliche Zwecke zu nutzen. So beschaffte er zum Beispiel Untergebenen staatliche Stipendien, damit sie an der von ihm geleiteten Rechtsfakultät (einer Privatschule, mit der er einiges Geld verdient), studieren können. Zugleich steht er dem höchsten Gericht des Landes vor. Seine gegen die PT gerichteten Wutausbrüche und Tiraden sind legendär.
Sérgio Moro ist jünger und aus einem ganz anderen Stoff. Die Vereinigten Staaten, die er häufig besucht, sind sein zentraler Referenzrahmen. Er hat immer hart gearbeitet und stammt aus der Provinz. Seine Karriere hat er weder irgendeiner politischen Partei noch besonderen Verbindungen zur Geschäftswelt zu verdanken. Recht früh in seiner Laufbahn – er war gerade einmal knapp über 30 – veröffentliche er einen juristischen Aufsatz, in dem er ein seltsames Rechtsverständnis offenbarte. In seinem Beitrag „Considerações sobre a Operação Mani Pulite“ bezog er sich positiv auf das Beispiel der italienischen Staatsanwälte in den 1990er Jahren. Liest man diesen Aufsatz heute, so lassen sich darin bereits die Beweggründe finden, die ihn ein Jahrzehnt später bei der „Operation Autowäsche“ antreiben sollten. Er machte damals keinerlei Versuch, sich intensiver mit der Fachliteratur zum Themenkomplex Tangentopoli auseinanderzusetzen. Stattdessen zitierte er völlig unkritisch aus zwei recht einseitigen Texten des Mailänder Kartells (diese Lobeshymnen auf das entschlossene Vorgehen der italienischen Justiz sind die einzigen Dokumente, die auf Englisch vorliegen). Moro kam zu dem Schluss, die Unschuldsvermutung könnte nicht als „absolut“ betrachtet werden, sie sei vielmehr ein „pragmatisch zu handhabendes Instrument“, das ein Richter bei Bedarf auch beiseite lassen könne. Das Weiterleiten von Informationen an die Medien vonseiten der Justiz feierte er als geeignetes Mittel, um mehr „Druck“ auf die Beschuldigten auszuüben, gerade in Fällen, in denen „legitime Ziele mit anderen Methoden nicht erreicht werden können“.
Die Gefahren, die mit einer solchen Haltung verbunden sind, insbesondere dann, wenn sie von respektablen Staatsanwälten und Richtern vertreten wird, sind überall gleich: Absolut dringend gebotene Maßnahmen zur Bekämpfung von Korruption drohen durch Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien (zum Beispiel faire Verfahren) und durch windige Mauscheleien mit den Medien diskreditiert zu werden. Am Ende verstärkt man damit nur die bereits weit verbreitete Missachtung geltenden Rechts, anstatt eine neue Moral der Rechtschaffenheit stark zu machen und gesellschaftlich zu verankern. Berlusconi und seine Thronfolger sind dafür der lebende Beweis. Die Lage in Brasilien unterscheidet sich von der damaligen in Italien jedoch in mehrfacher Hinsicht. In Brasilien ist derzeit weder ein Berlusconi noch ein Renzi in Sicht. Sollte im Zuge der „Operation Autowäsche“ tatsächlich mit der alten Ordnung aufgeräumt werden, dann wird sich Moro – der inzwischen wahrscheinlich wesentlich berühmter ist, als es seine italienischen Rollenvorbilder jemals waren – bald kaum mehr vor Anfragen retten können. Man wird ihn dazu drängen, das entstandene politische Vakuum zu füllen. Aber das Schicksal von Antonio Di Pietro, dem beliebtesten der Mailänder Staatsanwälte, der in der Politik nur mäßig erfolgreich war, sollte Moro eine Warnung sein. Er sollte auf jeden Fall nicht allzu leichtfertig auf eine steile politische Karriere setzen. Die Voraussetzungen hierfür sind zurzeit in Brasilien nämlich alles andere rosig, was mit einem weiteren entscheidenden Unterschied zwischen der Situation in beiden Ländern zusammenhängt. Der Kampf gegen Tangentopoli [zunächst eine Bezeichnung für das korrupte System in Mailand, später dann Synonym für alle möglichen kriminellen Verflechtungen im italienischen Staat] richtete sich gegen die gesamte politische Elite des Landes, das heißt, es traf sowohl die Christdemokraten als auch die Sozialisten, die sich über 20 Jahre hinweg die Macht in Italien geteilt hatten. Die derzeitigen Ermittlungen in Brasilien zielen von der politischen Stoßrichtung her nicht auf die traditionellen Eliten des Landes (diese hat man bis heute im Großen und Ganzen verschont), sondern richten sich vor allem gegen die Emporkömmlinge, die die alten Herren zeitweilig aus dem Präsidentenpalast verdrängt haben. Der Kreuzzug gegen die Korruption verläuft hier wesentlich einseitiger und trägt damit zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft bei.
In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Faktor und Unterschied zwischen der Situation in Italien zu Beginn der 1990er Jahre und der aktuellen Lage in Brasilien zu beachten. Als die Ermittlungen im Zuge des Tangentopoli-Skandals die politischen Strukturen aufmischten, gab es im Land eine gewisse Medien- und Meinungsvielfalt. Die unabhängigen Tageszeitungen tendierten damals dazu, die juristischen Untersuchungen der Mailänder Staatsanwälte gutzuheißen und zu unterstützen. Zeitungen wie La Repubblica von Olivetti-Boss Carlo De Benedetti, die in der Regel zuerst mit Informationen versorgt wurden, lobten die Strafverfolgungsbemühungen in Bezug auf führende christdemokratische und sozialistische Politiker, hielten sich jedoch bedeckt, wenn es um Beschuldigungen ging, die auch ihren Eigentümer betrafen. Journalisten von Berlusconis Fernseh- und Presse-Imperium dagegen beschimpften die Staatsanwälte und Richter. Nach und nach kam es damals zu einer kritischen öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der verschiedenen Ebenen des Justizsystems – wobei einige der Maßnahmen sehr mutig, andere eher dubios waren. Dagegen haben sich in Brasilien die Medien eher als ein monolithischer Block erwiesen, der der PT feindselig gegenübersteht, einseitig Partei ergreift und die zweifelhaften Strategien des Ermittlungsteams in Curitiba nicht infrage stellt. Vielmehr hat sich ein Großteil der Medien zum unmittelbaren Sprachrohr von Moro & Co. gemacht. Ohne Frage: Es gibt in Brasilien einige der weltweit besten Kolumnisten, die auf hohem literarischen und intellektuellen Niveau über die gegenwärtige Krise schreiben (an ihnen könnten sich der Guardian oder die New York Times durchaus ein Beispiel nehmen). Aber diese Stimmen sind eine absolute Minderheit und gehen unter in dem Geschrei der Konformisten, die im Großen und Ganzen die Meinungen ihrer Eigentümer und Herausgeber übernommen haben und diese einfach nachplappern.
Welche Doppelstandards es bei der Berichterstattung über die (vermeintlichen) Missetaten von Politikerinnen und Politikern der Arbeiterpartei und denen der konservativen oder rechten Opposition gibt, zeigt ein Beispiel aus der Vergangenheit. Als die Operation Autowäsche Fahrt aufnahm, flackerte für einen Moment die Erinnerung an einen eklatanten Fall von Manipulation vor etwa 25 Jahren auf. Im Jahr 1989, einem zentralen Wendepunkt in der modernen brasilianischen Geschichte, stand Lula – der damals dem Establishment noch als gefährlicher Radikaler galt und zum ersten Mal für das Präsidentenamt kandidierte – knapp davor, die Macht im Land zu übernehmen. Kurz vor dem entscheidenden Wahlgang trat eine frühere Freundin von Lula in einer Fernsehshow auf (sie hatte vom Bruder seines damaligen Gegenspielers, dem Konservativen Fernando Collor de Mellor, Geld für diesen Auftritt erhalten) und beschuldigte Lula vor laufenden Kameras, dieser habe sie zu einer Abtreibung gedrängt, nachdem sie von ihm schwanger geworden sei. Dieser Auftritt, der von den Medien zu einer Riesensensation hochgespielt wurde, besiegelte Lulas Wahlniederlage wenige Tage später.
Etwa zwei Jahre danach sagte man Cardoso – der damals schon ein bekannter Senator war und von der PSDB als zukünftiger Präsidentschaftskandidat gehandelt wurde – in politischen Kreisen eine Liebschaft mit einer Journalistin nach, die für denselben Fernsehsender arbeitete, der Lulas Aussichten auf einen Wahlsieg zunichtegemacht hatte: TV Globo. Als sie schwanger wurde und ein Kind bekam, wurde sie dazu gedrängt, das Land zu verlassen, und ging nach Portugal. Als sich Cardoso, der inzwischen Finanzminister war, 1994 für das Präsidentenamt bewarb, arbeitete sie nur noch pro forma für den Sender, obwohl sie von ihm ein regelmäßiges Gehalt bezog. Kurz nach seinem Wahlsieg legte ihr Cardosos rechte Hand, der junge Magalhães, nahe, nicht nach Brasilien zurückzukehren, um Cardosos Wiederwahl nicht zu gefährden. Als TV Globo ihr Gehalt nicht länger bezahlen wollte, dachte man sich irgendeinen Job für sie aus (Marktrecherchen in Europa für eine Duty-Free-Kette, die dank Cardoso ein Verkaufsmonopol auf den Flughäfen Brasiliens genoss). Irgendwann kam heraus, dass Cardoso diese Firma für Zwecke der Geldwäsche nutzte und seiner früheren Geliebten über eine der beiden Unternehmenskonten auf den Cayman-Inseln 100.000 US-Dollar hatte zukommen lassen – ob für den Unterhalt des Kindes oder als Schweigegeld, wurde niemals geklärt. Diese Enthüllungen gelangten im Februar 2015 an die Öffentlichkeit, zu einem Zeitpunkt, als es in den inländischen Medien gerade eine riesige Aufregung wegen irgendwelcher Ungereimtheiten um eine Strandwohnung von Lula gab. Die Meldungen über Cardosos offensichtliche Verfehlungen gingen darin unter. Gegen die Firma sind nun Ermittlungen wegen des Verdachts von kriminellen Finanztransaktionen eingeleitet worden. Cardoso beteuert seine Unschuld. Niemand erwartet, dass die ganze Sache irgendwelche negativen Folgen für ihn haben wird.
Wie sieht es mit anderen schwer belasteten Oppositionspolitikern aus? Werden alle verschont? Eine Woche nachdem Moro das Abhörprotokoll des Telefongesprächs zwischen Lula und Dilma geleakt und damit einen nationalen Sturm der Empörung entfacht hatte, also am 23. März 2016, durchsuchte die Polizei in São Paulo das Haus eines leitenden Mitarbeiters von Odebrecht, dem größten Baukonzern in ganz Lateinamerika. Dessen Geschäftsführer Marcelo Odebrecht hatte Moro kurz zuvor der Verwicklung in den Petrobras-Skandal überführt und wegen Korruption und Geldwäsche zu 19 Jahren Haft verurteilt. Bei der Hausdurchsuchung stießen die Ermittler auf eine Reihe von Listen, auf denen 316 führende Politiker namentlich aufgeführt sind, zusammen mit Angaben zu gezahlten Geldsummen. Auf der Liste finden sich hochrangige PSDB- und PMDB-Politiker und Vertreter von vielen anderen Parteien – ein Panorama der gesamten politischen Klasse Brasiliens. Eigentlich hätte dieser Fund die Bevölkerung und die Medien sehr viel mehr erschüttern müssen als das Abhörprotokoll eines wenig spektakulären Telefonats zwischen Dilma und Lula. Aber er passte nicht so recht zur gegenwärtigen Stimmung im Land. Moro unternahm von Curitiba aus alles in seiner Macht Stehende, um die Angelegenheit unter Kontrolle zu bringen. Er befahl, die Listen unter Verschluss zu halten, um weitere Spekulationen einzudämmen.
Und trotzdem war dies wie eine Art Alarmschuss: Die Operation Autowäsche, soviel hatte sich gezeigt, konnte aus dem Ruder laufen. Wenn man Dilma stürzen wollte, war es wichtig, dies möglichst bald zu erledigen – bevor die bei den Ermittlungen gegen Odebrecht gefundenen Dokumente deren Gegner im Parlament bloßstellen und selbst auf die Anklagebank bringen konnten. Es dauerte nicht lange, bis die PMDB bekanntgab, die Regierungskoalition mit der Arbeiterpartei aufkündigen zu wollen. Damit begann der Countdown für die Abstimmung über das Impeachment-Verfahren gegen die Präsidentin. Zu Beginn des Jahres hatte es noch so ausgesehen, als würde die benötigte Dreifünftelmehrheit in der unteren Kammer, dem Abgeordnetenhaus, eine unüberwindliche Hürde darstellen. Aber nachdem sich die Ereignisse überschlagen hatten, standen die Chancen, Dilma als Präsidentin loszuwerden und die PT damit nachhaltig zu schwächen, plötzlich sehr gut. Für die Farce, die sich derzeit im brasilianischen Nationalkongress abspielt, ist zu einem großen Teil ein Mann verantwortlich, der selbst einer Reihe von schweren Vergehen bezichtigt wird.[13] Der Präsidentin werden dagegen „nur“ haushaltspolitische Unregelmäßigkeiten vorgeworfen. Dafür soll sie ihren Hut nehmen. Kein Wunder, dass selbst ernsthafte Kommentatoren inzwischen die Position vertreten, das brasilianische Parlament sei nichts weiter als eine große Räuberhöhle.
Und wie stehen die Chance von Dilma, die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens doch noch zu verhindern? Und was passiert, wenn ihr das nicht gelingt? Gibt es Aussichten, dass sie, ist sie erst einmal abgesetzt, von den Vorwürfen doch noch freigesprochen wird? Im Planalto-Palast setzt man nun wohl auf zwei Optionen, wobei die Regierung und die Arbeiterpartei nur noch bedingt Einfluss auf die nächsten Entwicklungen nehmen können. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass Dilma im Kongress doch noch die Einleitung des Impeachment-Prozedere gegen sie stoppen kann. Dafür müsste sie wahrscheinlich die Stimmen von einer Reihe kleinerer, im Parlament vertretener Parteien erkaufen (indem sie ihnen Ministerposten und die daran geknüpften Stellen und Ressourcen anbietet), um damit den Verlust an Unterstützung auszugleichen, der mit dem Ausscheiden der PMDB aus der Regierungskoalition einherging. Die zweite Hoffnung ist die, dass sich ausreichend Anhänger der Arbeiterpartei mobilisieren lassen, um den Massenprotesten der Dilma-Gegner entsprechende Großdemonstrationen entgegenzusetzen. Nichts geht wahrscheinlich ohne die Rückkehr von Lula in die Hauptstadt Brasília, da dessen vielfältige Erfahrungen und Talente dort dringend gebraucht werden. Auch wenn er offiziell nicht Mitglied der Regierung werden darf, müsste er sich trotzdem einer Reihe von Aufgaben annehmen: widerspenstige Angeordnete umschmeicheln und wieder zurück ins Regierungslager holen, möglichst viele Menschen davon überzeugen, auf der Straße ihre Unterstützung für die PT und ihre Präsidentin zum Ausdruck zu bringen etc.
Aber die Zeiten sind nicht mehr die alten. Das Risiko, dass dies misslingt, ist groß. Um die Beziehung zwischen Lula und Dilma steht es wohl nicht zum Besten, sie soll sich nach deren Wiederwahl und Umschwenken auf einen Austeritätskurs ziemlich abgekühlt haben. Lula spricht ihr wichtige politische Führungskompetenzen ab, unter anderem wirft er ihr vor, dass sie beratungsresistent sei. „Sie war meine Stabschefin, und sie verhält sich immer noch als so, anstatt die Rolle der Präsidentin auszufüllen,“ soll er gegenüber Vertrauten geäußert haben. Und: „Sie ist wie meine eigene Tochter, die mir ständig erzählt, wie sehr sie ihren Vater liebt, die aber niemals darauf hört, was ich ihr sage.“ Aber selbst wenn dies stimmen sollte, stellt sich die Frage, ob etwas mehr taktische Flexibilität und politische Geschicklichkeit Dilma wirklich vor dem hätte schützen können, was ihr derzeit widerfährt. Von Anfang stand ihre Amtszeit unter keinem günstigen Stern. Es ist schwer vorstellbar, wie sie dem Teufelskreis aus immer neuen Korruptionsskandalen und sich drastisch verschlechternder wirtschaftlicher Lage hätte entkommen können, was sie aus eigenen Stücken hätte tun können, um ihre Autorität wiederherzustellen. Im Zuge des Petrobras-Skandals ist es zu gewaltigen Wertabschreibungen und zur Entlassung von Tausenden von Beschäftigten gekommen, zahlreiche der Korruption beschuldigte Bauunternehmer und Politiker sitzen inzwischen im Knast. Die Unsicherheit darüber, wen die Ermittlungen als nächstes treffen werden, hat bei den Investoren Zurückhaltung ausgelöst und wirkt sich negativ auf die Finanzmärkte aus. Im November letzten Jahres gingen Aufnahmen durch die Welt, wie die Polizei den Milliardär und Gründer von BTG-Pactual, der größten Investmentbank auf dem Kontinent und bis dahin Liebling der Financial Times und von The Economist, in Handschellen abführte. Die neoliberal eingestellten Sozialdemokraten haben nur deswegen im Nationalkongress gegen die von der Regierung vorgeschlagenen Steuererhöhungen und Kürzungen von staatlichen Ausgaben gestimmt, um Dilma und die PT zu ärgern und bloßzustellen. Anfang Mai war noch kein Budget für das Jahr 2016 verabschiedet worden. Selbst wenn es mit virtuosen Verhandlungen und welchen Deals auch immer gelänge, eine zweitweise Aussetzung des Impeachment-Verfahrens zu erreichen, würde dies wenig an der grundlegenden Krise der amtierenden Regierung ändern.
Wie sieht es mit Massenmobilisierungen auf der Straße und in den Betrieben zur Unterstützung von Dilma aus? Auch hier ist eine gewisse Skepsis angebracht, weil die PT-Regierung und die Partei in den letzten Jahren viel wertvolles Porzellan zerschlagen haben. Die Arbeiterpartei befindet sich in keiner guten Ausgangsposition, um ihre Anhänger zu ihrer Verteidigung aufzurufen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Zunächst einmal haben die vielen Korruptionsskandale, in die auch die PT verwickelt ist, die Mittelschichten auf Distanz gehen lassen, mit der Hinwendung zu Sparmaßnahmen und neoliberalen Positionen hat sie dann auch noch einen großen Teil der unteren Klassen vergrault. Die Pro-Dilma-Demonstrationen, die bislang organisiert werden konnten, waren deutlich weniger beeindruckend als diejenigen, die ihre Absetzung forderten. Es gehen vor allem Beschäftigte im öffentlichen Dienst und Gewerkschafter auf die Straße, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen, die Armen glänzen bislang eher mit Abwesenheit. Ein weiterer Nachteil für Dilma: Die ländlichen Hochburgen der PT im Nordosten Brasiliens sind sozial äußerst divers, im Unterschied zu der Bevölkerung in den Großstädten im Zentrum und im Süden des Landes, die heute Bollwerke der neuen Rechten sind.
Mit den nicht enden wollenden Skandalen ging unweigerlich eine gewisse Demoralisierung der Arbeiterpartei und ihrer Anhängerschaft einher, ein diffuses, oftmals unterdrücktes Schuldgefühl, das die Kampfkraft schwächte. Und schließlich darf nicht unterschlagen werden: Seitdem die Partei zum ersten Mal nach drei erfolglosen Versuchen den Präsidentenpalast eingenommen hat, ist sie nach und nach zu einer Art Wahlmaschine verkommen, die hauptsächlich von Spendengeldern großer Konzerne abhängig ist – im Unterschied zu den 1980er Jahren, als sie sich noch vor allem über Mitgliedsbeiträge finanzierte. Die meisten Anhänger und Mitglieder haben sich relativ passiv der namhaften Parteiführung untergeordnet, es gab keinerlei ernsthafte Versuche, breitere Organisierungsprozesse in der Gesellschaft anzustoßen. Dass die PT einst aus Massenstreiks und Mobilisierungen der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Militärdiktatur in den Industriezentren Brasiliens hervorgegangen ist, ist heute nur noch eine blasse Erinnerung – nicht zuletzt auch deswegen, weil die Partei mit der Zeit immer stärker Stimmen in den ländlichen Gegenden und Schichten gewonnen hat, die traditionell eher autoritätshörig sind und sich vor gesellschaftlichen Umbrüchen und Unsicherheit fürchten. Mit dieser politischen Kultur kennt sich Lula gut aus. Er hat immer davon abgesehen, diese Verhältnisse anzugehen und zu verändern, wahrscheinlich wären aus seiner Sicht die damit verbundenen politischen Kosten zu hoch gewesen. Um den Massen der Armen zu helfen, verzichtete die PT auf alles, was die Gesellschaft noch weiter polarisiert hätte, und bemühte sich um ein harmonisches Verhältnis zu den Reichen und Eliten des Landes. Die Parole, mit der Lula 2002 endlich das lang angestrebte Präsidentenamt gewann, lautete „Frieden und Liebe“. Wenn er heute – 14 Jahre später – auf Massenversammlungen spricht, sind das weiterhin die beiden Worte, die er besonders gern und häufig benutzt. Angesichts der politischen Lynchangriffe, die er, Dilma und die Partei derzeit ausgesetzt sind, würden sich viele seiner Anhänger bestimmt hier und da eine etwas kämpferischere Rhetorik wünschen.
Das bringt uns zu einem weiteren Punkt, der für Brasilien typisch ist. Es lässt sich hier seit der Jahrhundertwende ein spezifisches Muster der Politik ausmachen, das in anderen lateinamerikanischen Ländern weniger ausgeprägt ist: eine seltsame Dissonanz zwischen Angriff und Reaktion. Brasilien ist sicherlich nicht das einzige Land, das seit Längerem einen eskalierenden Klassenkonflikt erlebt und mit der damit zusammenhängenden tiefen Krise zurechtkommen muss. Aber nirgendwo sonst wird dieser Konflikt so einseitig ausgetragen. Selbst auf dem Höhepunkt des Ruhms von Präsident Lula gab es immer eine seltsame Asymmetrie zwischen der moderaten und entgegenkommenden Politik der PT und der offenen Feindseligkeit und unnachsichtigen Oppositionshaltung großer Teile der Mittelschichten und der Medien. In den zurückliegenden Monaten haben Verrohung und Brutalität der Angriffe weiter zugenommen, der Ton ist noch aggressiver geworden. Ein Gemeinderat von der PMDB mitten im Bundesstaat São Paulo durfte vor Kurzem ungestraft in der Öffentlichkeit dazu aufrufen, Lula wie eine giftige Natter zu zertreten. Als sich in Rio Grande do Sul im Süden des Landes ein Kinderarzt weigerte, das einjährige Kind einer Indigenen zu behandeln, zog das keinerlei Sanktionen des Regionalverbands der Mediziner und der Ärztevereinigung nach sich. Der Bundesrichter, der es gewagt hatte, Moro für sein illegales Vorgehen vorsichtig zu rügen, wurde vor seinem Haus mit Transparenten empfangen, die ihn als „Verräter“ und „Handlanger der PT“ beschimpften. Die dort versammelten Demonstrantinnen skandierten: „Den Kapitalismus bekommt ihr nicht klein.“ Als der D-Day für die Abstimmung über das Impeachment gegen Dilma immer näher rückte, schwärmten Eiferer im ganzen Land aus, um Abgeordnete einzuschüchtern, die noch als unentschlossen galten. Zum Teil campierten sie tagelang vor deren Häusern und Wohnungen. Auch die Börse ist Teil des Dramas und reagiert fast schon minuziös auf die sich überschlagenden Ereignisse: Die Werte stiegen, als die Bilder von Lulas Festnahme über die Bildschirme flimmerten, sie fielen, als er zum Kabinettschef der amtieren Regierung ernannt wurde. Nachdem ihm gerichtlich verboten worden war, diesen Posten anzutreten, gingen die Börsenwerte wieder folgsam nach oben.
Ein coup de théâtre ist immer noch denkbar, eine glückliche Wendung der Entwicklungen, die Dilma im letzten Moment retten könnte – selbst wenn fast alles dagegenspricht. Wahrscheinlicher sind jedoch ihre Suspendierung und die Bildung einer Übergangsregierung, angeführt von ihrem Vizepräsidenten Micheal Temer, einem Veteranen der PMDB, der Partei, die vor Kurzem aus der Koalition mit der PT ausgeschert ist. Jemand hat Temer neulich mit einem „Butler aus einem Horrorfilm“ verglichen. Nach außen gibt er sich förmlich und zurückhaltend. Er hat aber bereits vor etlichen Monaten damit begonnen, die Machtübernahme ganz offen vorzubereiten. So legte er „einen Plan“ für Brasiliens Gesundung vor, der demonstrieren sollte, dass das Land bei ihm in guten Händen ist. Dabei handelt es sich um einen ganz konventionellen Stabilisierungsplan, der Privatisierungen vorsieht, eine Reform des Rentensystems und die Abschaffung verfassungsrechtlicher Garantien, die den Staat zur Finanzierung eines öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems verpflichten; ergänzt mit der vagen Zusage, sich auch in Zukunft um die Ärmsten der Armen zu kümmern. Sollte Dilma gestürzt werden, hätte Temer wohl keine großen Probleme, eine neue Regierungskoalition zusammenzuschmieden. Diese würde aus einem zusammengewürfelten Haufen bestehen: PMDB, PSDB und einer ganzen Reihe kleinerer im Nationalkongress vertretener Parteien, wobei die Schlüsselministerien wohl eher mit Technokraten besetzt würden. Da eine solche Koalition – anders als zurzeit die PT-Regierung – wieder Gesetze verabschieden könnte, bestünde damit die Chance, „das Vertrauen von Unternehmen und Investoren zurückzugewinnen“. In diesem Falle könnten sich mit Temer an der Spitze die ökonomischen Indikatoren kurzfristig wieder etwas verbessern – was für die Finanzmärkte entscheidend ist, die sich ja bekanntlich nicht um das Schicksal der Armen scheren. In Anbetracht der generell eher ungünstigen Konjunkturaussichten und der anhaltend niedrigen Investitionsrate, mit der Brasilien seit Ende der Militärdiktatur zu kämpfen hat, fällt es jedoch schwer, optimistisch zu sein und eine schnelle wirtschaftliche Erholung des Landes zu erwarten.
Auch in politischer Hinsicht ist Brasilien weit entfernt von dem, was man Stabilität nennt. Es ist nicht abzusehen, wie die verbliebenen Anhänger der PT auf den Schock eines Impeachment reagieren werden. Werden sie in Lähmung und Resignation verfallen oder könnte er der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt und endlich den entschlossenen Widerstand hervorruft, der bislang ausgeblieben ist? Aber auch für die Sieger (sollte es gelingen, Dilma zu stürzen) und deren Gefolgschaft sieht die Lage eher kompliziert aus. Ein oberster Bundesrichter hatte Cunha [noch vor dessen Suspendierung] dazu angehalten, eine Anhörung durchzuführen, um zu klären, ob nicht auch ein Amtsenthebungsverfahren gegen Vizepräsident Temer eingeleitet werden muss. Die Vorwürfe, die gegen ihn vorliegen, sind in etwa die gleichen wie die gegen Dilma (er soll, während sie im Ausland weilte, mit seiner Unterschrift dubiose Finanztransaktionen genehmigt haben.) Das wäre ein Schuss vor den Bug derjenigen, die hoffen, ihn innerhalb der nächsten zwei Wochen als Interimspräsidenten installieren zu können. Aber auch wenn es gelänge, diesen Schuss abzuwehren, droht ein weiteres juristisches Verfahren mit offenem Ausgang. Vor der obersten Wahlbehörde des Landes ist noch eine von der PSDB eingereichte Klage anhängig, die sich sowohl gegen die Präsidentin als den Vizepräsidenten richtet. Die PSDB hatte ihnen vorgeworfen, mit ihrer Listenaufstellung 2014 gegen Wahlkampfregeln verstoßen zu haben, in der Hoffnung, möglichst schnell Neuwahlen erzwingen zu können.
Sollte die Klage, die nicht einfach zurückgezogen werden kann, durchkommen, könnte das beide den Kopf kosten. Man stelle sich vor: Erst wird Dilma kaltgestellt, dann zieht Temer in den Planalto ein und muss kurz darauf selbst zurücktreten. Was für eine Blamage für die PMDB. Aber da Mendes im Mai den Vorsitz der obersten Wahlbehörde, die über diese Klage zu entscheiden hat, übernimmt, wird die brasilianische Justiz vielleicht auch diesmal wieder einen eleganten Ausweg finden. Wesentlich beunruhigender ist für viele wahrscheinlich die offene Frage, was die Ermittlungen von Staatsanwalt Moro und seinen Kollegen im Fall Petrobras und lava jato für diejenigen bedeuten, die das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma im Kongress so entschieden vorangetrieben haben. Mit der Hexenjagd gegen die Präsidentin konnte bislang ganz gut von den aufgefundenen Odebrecht-Schmiergeldlisten abgelenkt werden. Aber kann es auf Dauer gelingen, deren Existenz in der Öffentlichkeit zu verschweigen beziehungsweise das Ausmaß dieses Korruptionsskandals kleinzureden? Fast die gesamte politische Klasse Brasilien hat hier anscheinend die Hand aufgehalten. Die brasilianische Justiz wird sich ziemlich anstrengen müssen, im Namen der „nationalen Aussöhnung“ auch hierfür eine elegante Lösung zu finden.
Es lässt sich schon seit Längerem nicht mehr bestreiten: Die Arbeiterpartei in Brasilien ist durch eine Mutation ihrer selbst Teil des politischen Sumpfes des Landes geworden und hat sich in vielerlei Hinsicht den anderen Patronageparteien, ob sie nun PMDB, PSDB oder PP heißen, angepasst. Inzwischen sitzen unter anderem zwei ehemalige Vorsitzende der PT, zwei ehemalige Schatzmeister, ein ehemaliger Sprecher des Abgeordnetenhauses und ein ehemaliger Fraktionsführer im Senat im Knast, tief verstrickt in einen Korruptionsskandal, der alle politischen Grenzen sprengt. Emblematisch hierfür ist der inzwischen parteilose Delcídio do Amaral, der lange Zeit für die Arbeiterpartei im Senat saß und dort den Bundesstaat Mato Grosso do Sul vertrat. Er wurde im November 2015 verhaftet und dient den Ermittlungsbehörden in Curitiba seitdem als Kronzeuge. Vor seiner Mitgliedschaft in der PT gehörte er der PSDB an, war ein Getreuer von Cardoso und anscheinend auch Teil der großen Petrobras-Maschinerie. Etwa die Hälfte der Mitglieder des Nationalkongresses steht auf der „Gehaltsliste“ von Baukonzernen, mit deren großzügigen Spenden finanzieren sie wahrscheinlich nicht nur ihre Wahlkämpfe. Die Zersetzung des politischen Systems in Brasilien ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass im Herbst letzten Jahres der Oberste Bundesgerichtshof – bekanntlich selbst weit vom Ideal der Unparteilichkeit entfernt – nicht umhinkam, die direkte Finanzierung von Wahlkämpfen durch Unternehmen als verfassungswidrig einzustufen. Auf dieses Verbot hat der Nationalkongress umgehend mit der Ankündigung reagiert, die Verfassung ändern zu wollen, um direkte Konzernspenden weiterhin zu ermöglichen. Sollte das Urteil des Obersten Gerichtshofs allerdings Bestand haben und irgendwann auch umgesetzt und befolgt werden, dann könnte dies die Art und Weise, wie in Brasilien Politik gemacht wird, revolutionieren. Dies wäre ein großer Fortschritt für die Demokratie und bis dato das einzige eindeutig positive Resultat der gegenwärtigen Staatskrise.
Zurück zur Arbeiterpartei: Irgendwann hat sich in der PT die Überzeugung durchgesetzt, man könne, wenn man an die Macht käme, die herrschende Ordnung Brasiliens nutzen, um den Armen Gutes zu tun, ohne den Reichen zu schaden. Das Versprechen, die Lebenssituation der armen Bevölkerung zu verbessern, hat die PT eingelöst. Aber nachdem die Arbeiterpartei irgendwann an die Pforte dieses dekadenten politischen Systems geklopft und den hohen Preis für den Einlass akzeptiert hatte, schloss sich hinter ihr sofort wieder die Tür. Die Partei selbst verkümmerte, wurde zu einer Enklave im Staat, ohne ausreichende Selbstreflexion und strategische Orientierung. Blindheit und Bewusstlosigkeit gingen soweit, dass die PT selbst ihre besten intellektuellen Köpfe wie etwa André Singer verstieß und diese gegen einen Haufen von Spin-Doktoren und Meinungsforschern eintauschte. Die Führungsspitze war bereit, fast alles zu tun, um an der Macht zu bleiben. Die Arbeiterpartei hat ohne Zweifel viel geleistet und erreicht. Einige dieser Errungenschaften werden bleiben, ob die Partei selbst überleben wird, scheint weniger sicher.
Insgesamt neigt sich in Südamerika ein Zyklus seinem Ende zu. Mehr als 15 Jahre war der Kontinent der einzige Ort auf der Welt, wo rebellische soziale Bewegungen neben heterodoxen linken Regierungen existieren, was durch eine Reihe von Faktoren ermöglicht wurde: Die USA hatte ihre Aufmerksamkeit anderen Weltregionen zugewandt, der langjährige Rohstoffboom erlaubte weitreichende Sozialreformen, in vielen Ländern kamen gut verankerte Traditionen der Selbstorganisierung und des kollektiven Widerstands zum Tragen. Die weltweite Krise von 2008 hat auch anderen Teilen der Welt neue soziale Bewegungen beschert, aber keine vergleichbaren linken Regierungen. Eine globale Ausnahmesituation scheint vorbei zu sein, es wurde versäumt, den Staffelstab weiterzureichen.
Aus dem Englischen von Britta Grell
Foto: Marcos Corrêa – Flickr, CC BY 2.0

Anmerkungen

[1] Der Nationalkongress (Congresso Nacional) ist das brasilianische Bundesparlament in der Hauptstadt Brasília und besteht aus zwei Kammern, dem Abgeordnetenhaus mit 513 und dem Senat mit 81 Sitzen (Anm. d. Übers.).
[2] Rousseff hatte die Fernsehansprache abgesagt, nachdem eine der Oppsositionsparteien ihr gedroht hatte, die Ausstrahlung per einstweiliger Verfügung zu verhindern. Die Begründung lautete, Rousseff würde Mittel des Staates nutzen, um sich persönlich zu verteidigen (Anm. d. Übers.).
[3] In seinem Essay „Cutucando onças com varas curtas“ (erschienen im Juli 2015 in Novos Estudos 102) legt André Singer eine brilliante Analyse dieser Maßnahmen und ihrer Auswirkungen vor. Man kann diesen Aufsatz als Epilog seiner Studie zur PT („Os sentidos do Lulismo: Reforma gradual e pacto conservador“) von 2012 lesen, in denen er den Änderungen in deren Wählerbasis nach 2005 nachspürt, nachdem die Partei ihrer Unterstützung in den Mittelschichten weitgehend verloren, dafür aber das Zutrauen der Armen gewonnen hatte. Die armen Bevölkerungsgruppen hatten anfangs aus Angst vor „politischer Instabilität“ nicht für die PT gestimmt. Singer zeichnet sich durch eine kritische Nüchternheit und zugleich durch eine klare Loyalität zur PT aus und ist einer der großartigsten Intellektuellen in Brasilien, man könnte sogar sagen, der beeindruckendste lateinamerikanische kritische Denker seiner Generation. Während Lulas erster Amtszeit war er dessen Pressesprecher, seitdem lehrt er an der Universität Politikwissenschaften. Die PT, die sich von ihm abgewendet hat, zeigt keinerlei Interesse an Singers klugen Untersuchungen und Analysen zu ihrer Entwicklung.
[4] Von dem 2003 unter Lula eingeführten Sozialhilfeprogramm profitieren rund 12 Millionen Familien (mehr als ein Viertel der gesamten Bevölkerung). Die durchschnittliche Unterstützung beträgt im Monat um die 38 Euro. Auch wenn dieser Betrag recht niedrig erscheint, hat diese staatliche Einkommenshilfe zusammen mit dem Programm Fome Zero Unterernährung und extreme Armut in Brasilien seitdem deutlich zurückgedrängt (Anm. d. Übers.).
[5] Seit 1990 kontrolliert keine Partei im Senat oder Abgeordnetenhaus mehr als 25 Prozent der Sitze. Deshalb sind die Staatschefs und ihre Parteien in Brasilien darauf angewiesen, Koalitionen mit verschiedenen Parteien einzugehen, um regierungsfähig zu sein (Anm. d. Übers.).
[6] Es wird geschätzt, dass die durchschnittlichen Wahlkampfkosten eines Abgeordneten im Jahr 2014 bei etwa 1,5 Millionen Euro lagen, und über 90 Prozent der Wahlkampfspenden vonseiten der Wirtschaft kamen. Bislang gibt es in Brasilien keine staatliche Wahlkampfkostenerstattung (Anm. d. Übers.).
[7] Das Land besteht aus 26 Bundesstaaten und einem Bundesdistrikt, die wiederum fünf Regionen zugeteilt sind (Centro-Oeste, Nordeste, Norte, Sudeste und Sul; Anm. d. Übers.).
[8] Political Action Committee (PAC) nennt man in den USA einflussreiche Lobbygruppen, die sich darauf konzentrieren, bestimmte Abgeordnete oder Wahlbeamte der Regierung zu unterstützen oder zu bekämpfen (Anm. d. Übers.).
[9] Die Regierungskoalition der PT in der ersten Amtszeit von Lula bestand aus teilweise bis zu acht Parteien (Anm. d. Übers.).
[10] Ende März 2016 kündigte die PMDB die Koalition mit der PT auf und trieb das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff im Parlament voran. Nach deren Suspendierung am 12. Mai, die zunächst für 180 Tage gilt, hat ihr ehemaliger Vizepräsident Michel Temer von der PMDB vorläufig die Regierungsgeschäfte übernommen. Der Oberste Gerichtshof prüft derzeit, ob ausreichend Beweise für ein strafbares Handeln Rousseffs vorliegen oder nicht (Anm. d. Übers.).
[11] Tangentopoli (Stadt der Schmiergeldzahlungen) war Anfang der 1990er Jahre die Bezeichnung für Mailand, wo der berühmt gewordene Staatsanwalt Antonio Di Pietro rigoros gegen Korruption, Amtsmissbrauch und illegale Parteifinanzierung vorging. Später wurden die Ermittlungen auf kriminelle Verflechtungen in ganz Italien ausgeweitet. Die damit verbundenen Aufdeckungen und Verhaftungen schwächten die führenden Parteien Democrazia Cristiana und die Partito Socialista Italiano derart, das in diesem Zusammenhang vom Ende der Ersten Republik Italiens die Rede ist (Anm. d. Übers.).
[12] Cardoso war Professor für Soziologie an der Universität von São Paulo, lehrte aber auch in Stanford und Berkeley sowie an der britischen Cambridge University (Anm. d. Übers.).
[13] Inzwischen hat der Sprecher des Angeordnetenhauses Eduardo Cunha seine Funktion und sein Mandat verloren. Am 6. Mai, also eine Woche vor der Absetzung der Präidentin, beschloss der Oberste Gerichtshof, ihn zu suspendieren, mit der Begründung, Cunha habe sein Amt missbraucht, um die Ermittlungen zu seiner Verstrickung in den Petrobras-Skandal zu hintertreiben. Damit verliert er seine politische Immunität und wird sich höchstwahrscheinlich einem Strafverfahren stellen müssen (Anm. d. Übers.).

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