Brasiliens Rückkehr in alte Bündnisse

Von Achim Wahl, amerika21
Außenpolitische Aspekte der Zeit nach dem parlamentarischen Putsch gegen Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff
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Nach dem Putsch gegen die legitime Präsidentin Dilma Rousseff gleicht die politische Situation in Brasilien einer Opera buffa, einer komischen Oper. Die Übernahme der Präsidentschaft durch den ehemaligen Vizepräsidenten Michel Temer von der Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB) hat die politische Lage nicht stabilisiert, sondern in einen chaotischen Zustand versetzt. Seine eigene Zukunft ist ungewiss.
Temer, dessen Regierung durch Ministerrücktritte mehr und mehr geschwächt wird, wird durch die Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) stark unter Druck gesetzt, die mehr Einfluss in zentralen Fragen für sich reklamiert und möglicherweise vorzeitig nach Temer den nächsten Präsidenten stellen will.
Die Interessenkonflikte, die sich zwischen Teilen der Eliten abspielen, nehmen groteske Züge an. Sie spiegeln sich in den zunehmenden Konflikten zwischen der Regierung, der Legislative und dem Justizapparat wider. Hintergrund ist die Auseinandersetzung zwischen einzelnen Fraktionen der Macht, die verschiedene nationale und internationale Bankgruppen repräsentieren. Es geht um die beste Position am Futternapf: um den Anteil bei der Ausbeutung der Pre-Salt-Erdölfelder1, die ausländischen Transnationalen zugesprochen werden sollen. Um dies zu ermöglichen wurde das Gesetz 12351 vom Dezember 2010, das dem halbstaatlichen Erdölunternehmen Petrobras eine 30-prozentige Beteiligung an der Exploration aller Pre-Salt-Erdölfelder garantierte, im Oktober in der Abgeordnetenkammer auf Betreiben der Putschregierung gekippt. Die neoliberale Regierung und ihre Unterstützer sind dabei, Petrobras und die Nationalbank für soziale und wirtschaftliche Entwicklung (BNDES) zu privatisieren.
Banken und Finanzinstitutionen üben Druck auf Temer aus, die Sozialausgaben für die nächsten 20 Jahre einzufrieren. Am 13. Dezember hat der Senat dazu den Gesetzantrag PEC 55 (Proposta de Emenda Constitucional – Verfassungszusatzantrag) mit 53 gegen 16 Stimmen angenommen. Die Veränderung des Sozialversicherungssystems soll den Weg für private Versicherungen freimachen, die von Banken ausgerichtet werden.
Die wenigen Monate der Regierung Temer zeigen, dass kein Problem des Landes gelöst wird, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Strukturen des Staates, den Parteien und Einzelpersonen sich verschärfen und unter der Losung des Kampfes gegen die Korruption die Schwächen und tiefen Widersprüche der gegenwärtigen Regierung versteckt werden. Und mittlerweile verbreiten rechte Gruppen wie die Bewegung Freies Brasilien (MBL) und Geht auf die Straße (Vem Pra Rua) landesweit ihre Hasslosungen.

Wende in der brasilianischen Außenpolitik

Angesichts dieser instabilen politischen Lage ist die außenpolitische Orientierung der Regierung erst einmal nur in Ansätzen zu erkennen. Fest steht allerdings, dass diese Putschregierung eine Umkehr zu offen, aggressiver neoliberaler Politik vollziehen und eine Wiederannäherung an die USA suchen wird.
Um diese Schlussfolgerung zu untermauern, genügt ein Blick auf das Regierungspersonal: Nach von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten hat Michel Temer geheime Dokumente an die US-Botschaft übergeben. José Serra, jetzt Außenminister und einst Gegenkandidat der PSDB zu Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff sagte – so Wikileaks – gegenüber dem US-Energiekonzern Chevron zu, sich für die Rücknahme des Pre-Salt-Gesetzes und die Veränderung der Regeln einzusetzen. Der neue Finanzminister Henrique Meirelles, US-Staatsbürger, war Präsident der Boston Financial Global Banking (1999-2002) und späterer Präsident der brasilianischen Zentralbank unter Präsident Lula. Spekuliert wird, dass Mereilles 2018 eine Kandidatur für die Präsidentschaft anstreben will. Zentralbankpräsident Ilan Goldfein war Chefökonom der größten Privatbank Brasiliens, der Banco Itaú, mit engsten Verbindungen zum IWF und der Weltbank.
Erste Aktivitäten der neuen Regierungsmannschaft lassen erkennen, welche Zielstellungen die Temer-Regierung außenpolitisch verfolgt. Während eines Treffen Serras mit dem US-Außenminister John Kerry aus Anlass seines Besuches zu den Olympischen Spielen im August 2016 kann eingeschätzt werden:
– Der Besuch war ein erster Schritt für eine neue Beziehung Brasilien–USA;
– Beide Länder haben «übereinstimmende Interessen auf vielen Gebieten» und «sind für nachhaltige Entwicklung in Sachen Menschenrechte, Demokratie und für Zusammenarbeit auf den Gebieten der Verteidigung, Gesundheit, der Wissenschaft, Technologie und für die Verstärkung privater Investitionen in die Infrastruktur»;
– Brasilien «begrüßt die Zusage Präsident Obamas, diplomatische Beziehungen zu Kuba herzustellen und das Embargo zu lockern»;
– Brasilien «dankt für das Vertrauen, das die USA den Bestrebungen Präsident Temers zur Festigung der politischen und juristischen Institutionen bei der Durchführung des Amtsenthebungsverfahrens entgegengebracht haben»;
– Kerry unterstrich in seiner Ansprache während des Treffens mit Serra die Bedeutung der Olympischen Spiele für Brasilien und die Welt und meinte, dass die politische Debatte in Brasilien in letzter Zeit nicht zum Aufblühen der Beziehungen zwischen beiden Ländern beigetragen habe. Kaum eine andere Regierung hatte sich außer den USA zum erzwungenen Regierungswechsel in Brasilien geäußert. Kerry war der einzige Regierungsvertreter, der an der Seite Temers bei der Eröffnung der Olympischen Spiele auftrat.

Erkennbare Zielrichtung der Außenpolitik der neoliberalen Regierung

Serras erste Äußerungen zur Veränderung der brasilianischen Außenpolitik lassen die Zielrichtung erkennen: Für ihn steht ihre «Entideologisierung” an erster Stelle. Erkennbar ist der Versuch, zu einer neoliberalen Politik, wie sie vom damaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso Anfang der 1990er Jahre betrieben wurde, zurückzukehren. Serra erklärte, dass die brasilianische Außenpolitik sich pragmatisch orientieren werde und bezeichnete die von den Regierungen der Arbeiterpartei (PT) angestrebten regionalen und überregionalen Zusammenschlüsse als überholt. Laut Serra sind sie Hindernisse für eine «unabhängige» brasilianische Außenpolitik.
So wird in den Medien seine Ernennung zum Außenamtschef als der Tradition der brasilianischen Diplomatie widersprechend angesehen und erwartet, dass er eine «Diplomatie des Elefanten im Porzellanladen» durchführen wird. Einfluss auf diese Politik werden die Auffassungen des Instituto Millenium (IMIL), gegründet 2005 von Verfechtern des ökonomischen Liberalismus, haben. Das IMIL wird von potenten transnationalen Unternehmen und Medien unterstützt. Als Think Tank der Eliten hat es die Aufgabe, die Ideen des freien Marktes in der Gesellschaft zu verbreiten.
Erkennbar ist eine Veränderung der Positionierung zum Regionalbündnis Gemeinsamer Markt des Südens (Mercosur). Es wurde verhindert, dass Venezuela den zeitweiligen Vorsitz übernimmt. Offensichtlich ist Serra gemeinsam mit dem argentinischen Präsidenten Mauricio Macri bestrebt, Venezuela aus dem Bündnis auszuschließen. Bekannt wurde, dass Serra selbst nach Montevideo reiste, um eine Positionierung Uruguays gegen Venezuela zu erreichen. Der Außenminister von Uruguay, Rodolfo Nin Novoa, machte in einer öffentlichen Erklärung deutlich, dass sein Land sich «nicht kaufen lässt». Serra hatte als Deal versprochen, Uruguay beim Abschluss von Verträgen mit anderen Ländern zu helfen. Um diese Anti-Venezuela-Position zu unterstreichen, traf er sich im Juni 2016 mit Henrique Capriles Radonski, Gouverneur des Staates Miranda und einer der Führer der venezolanischen Opposition gegen Präsident Nicolás Maduro. Im Gespräch unterstützte Serra die Forderung der Opposition nach einem Abberufungsreferendum gegen Maduro.
Deutlich wird, dass Serra gemeinsam mit Argentinien und Paraguay die Absicht hat, den Weg freizumachen für eine engere Zusammenarbeit, möglicherweise sogar eine Aufnahme ihrer Länder, in die Pazifik Allianz, der Kolumbien, Chile, Peru, Mexiko angehören und Argentinien schon als Beobachter teilnimmt.

Die Staatschefs von Südafrika, China, Indien, Russland und Brasilien (von links nach rechts): Jacob Zuma, Xi Jinping, Narendra Modi, Wladimir Putin und Temer in Goa

Mit der angestrebten Isolierung Venezuelas wird auch versucht, eine weitere Destabilisierung des Landes zu erreichen. Das kann die Bemühungen der Union südamerikanischer Nationen (Unasur), eine friedliche Übereinkunft zwischen Regierung und Opposition zu erzielen, zunichtemachen. Beabsichtigt ist damit zudem eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit Venezuelas, Boliviens, Ecuadors und Uruguays mit seinen linksgerichteten Regierungen im Rahmen der Unasur.
Gleichzeitig könnte der Weg geebnet werden, den stockenden Abschluss eines Freihandelsvertrages mit der Europäischen Union (EU) zu befördern.
Die außenpolitische Orientierung der neoliberalen Regierungen Brasiliens, Argentiniens und Paraguays soll dazu beitragen, im eigenen Land die Öffnung der Wirtschaft nach außen, den Abschluss von Freihandelsverträgen und der Erleichterung ausländischer Investitionen durch transnationale Unternehmen zu erzielen. Besonders die Putschregierung Brasiliens braucht «Erfolge» und ausländische Hilfe bei der Konsolidierung der Wirtschaft.

Tagung der G-20 in Hangzhou und Brics-Treffen in Goa

Beide internationale Treffen fanden nach den politischen Veränderungen, die sich in Brasilien vollzogen hatten, statt. Von einigem Interesse war deshalb, wie die De-facto-Regierung agieren würde.
Temer nahm sowohl am Treffen der G-20 im chinesischen Hangzhou im September wie auch am 8. Treffen der Brics -Staaten im indischen Goa im Oktober teil.
Zuvor waren er und sein Außenminister Serra bei der UN-Vollversammlung in New York. Die Vollversammlung nutzte Temer, um das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff als «mit absoluter Achtung der verfassungsmäßigen Ordnung» Brasiliens durchgeführt darzustellen und nannte es «beispielhaft für die Welt».
Unter diesem Aspekt war zu erwarten, dass Temer ebenfalls das Treffen der G-20 wie auch das der Brics in diesem Sinne nutzen würde.
So ist es nicht verwunderlich, dass Serra während des Treffens der Außenminister der Brics am Rande der UN-Vollversammlung im September erklärte, dass Brasilien an der «Kooperation im Rahmen der Brics» interessiert ist und der Staatenbund weiter mit der «Unterstützung Brasiliens» rechnen können. Wörtlich: «Für den zweiten Zyklus der Brics-Treffen streben wir eine ausgewogene Balance zwischen Absichten und Realismus an», was praktisch heißen wird, dass die Putschregierung beabsichtigt, diese Zusammenarbeit zum eigenen Vorteil zu nutzen. Und Serra zählte auf, was von Interesse ist: eine vorteilhafte Beteiligung Brasiliens an der Neuen Entwicklungsbank, Aufnahme weiterer Staaten in diese (welche Staaten das sein sollen, blieb unausgesprochen), das gemeinsame Interesse an einer Reform der internationalen Finanzinstitutionen (unter anderem des IWF) wie auch der Errichtung eines internationalen Finanzsystems zur langfristigen nachhaltigen Entwicklung.
Kommentare zur Teilnahme der Regierung Temer am Treffen in Hangzhou unterstreichen, dass sein Aufenthalt in China vor allem bilateralen Charakter trug. Denn Brasilien hat mit China während der PT-Regierungen umfangreiche Abkommen abgeschlossen, die auch die Putschregierung beachten und im wirtschaftlichen Interesse auch beibehalten muss. China bleibt für die kommende Zeit ein wichtiger Partner Brasiliens. Die chinesische Regierungsagentur Xinhua publizierte einen Artikel des Direktors des Zentrums für brasilianische Studien der Akademie der Wissenschaften Chinas, in dem es heißt, dass die Erklärungen Brasiliens das unmittelbare Ziel verfolgen, Druck auf die westlichen Partner Brasiliens auszuüben, die «illegitime Regierung Brasiliens anzuerkennen und eine bestimmte Distanz zu den Brics-Staaten aufzuzeigen.»
Vom 15. bis 16. Oktober 2016 trafen sich in Panaji im indischen Bundesstaat Goa die Präsidenten der Brics zu ihrem achten Treffen. Nun war alle Aufmerksamkeit auf das Auftreten Temers während des Gipfels gerichtet. Er nutzte die Zusammenkunft, um zu zeigen, dass seine Regierung Maßnahmen zur Sanierung der brasilianischen Wirtschaft eingeleitet habe und sich die ersten Erfolge zeigen würden. Er rief Unternehmen der Brics-Staaten dazu auf, verstärkt in Brasilien zu investieren. Seine Regierung habe ein «Partnerprogramm für Investitionen» aufgelegt, mit dem die Rezession überwunden werde und damit die besten Voraussetzungen für Geschäfte gegeben wären.
Temer wurde von den Präsidenten Chinas und Russlands nicht zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Beide Regierungen sind hinsichtlich der außenpolitischen Orientierung seiner Regierung skeptisch und befürchten, dass sich Brasilien nach der neoliberalen Offensive wieder stärker auf die USA orientieren wird.
Nach Meinung von Kommentatoren nutzte Temer die Konferenz, um sich und seine Regierung im Rahmen der Brics nicht zu isolieren und, ausgehend von der prekären Lage, in der sie sich befindet, für die Weiterführung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu werben. Dafür spricht auch, dass Temer das vom Gipfel erarbeitete Abschlussdokument unterzeichnete.

Verändertes Kräfteverhältnis und die Aussichten für eine rückwärts gerichtete Außenpolitik der Putschregierung

Gegen eine weitere tiefgreifende Veränderung der außenpolitischen Positionierung Brasiliens steht das in den letzten Jahren veränderte internationale Kräfteverhältnis.
Die USA haben weltweit an Einfluss verloren. Die EU ist für eine engere Zusammenarbeit mit Brasilien ein ungeeigneter Partner, da sie sich selbst in einer tiefen Krise befindet.
Kommentatoren gehen davon aus, dass sich Temer der geostrategischen Offensive der USA in Lateinamerika anschließen wird.
Die Ereignisse des Jahres 2016 haben die Entwicklung in Brasilien zugunsten der USA beeinflusst. Nach dem Wahlsieg des Republikaners Donald Trump muss allerdings abgewartet werden, wie sich die neue Administration in ihrer Lateinamerikapolitik positionieren wird. Sicher ist aber, dass auch für Trump Lateinamerika unverzichtbar ist.
Vieles wird davon abhängen, wie sich China und andere Schwellenländer positionieren werden. Für Brasilien und Lateinamerika ist China ein wichtiger Wirtschaftspartner. Ein anderer Faktor ist die Auswirkung der weiteren Entwicklung der wirtschaftlichen Situation und eine mögliche Verschlechterung der Wirtschaftslage auf Grund der Austeritätspolitik, der Tendenz zur weiteren Deindustrialisierung und der brutalen Durchsetzung neoliberaler Politik mit all ihren Folgen für die Menschen und die Umwelt. Dem Erfolg dieser neokonservativen Offensive in Lateinamerika, in der die Entwicklung in Brasilien ein wesentlicher Bestandteil ist, kann nur entgegengewirkt werden, wenn die Situation in Venezuela entspannt wird, die Wahl in Ecuador 2017 ein positives Ergebnis für die Regierungspartei Alianza País erbringt und sich der Volkswiderstand in Brasilien verstärkt.
Foto:  Beto Barato, PR