„Es war die beste Zeit meines Lebens“

Autor Lutz Taufer über seine politische Sozialisation, die Mitgliedschaft in der »Roten Armee Fraktion« (RAF) und die Arbeit in einer Favela in Rio de Janeiro

Interview: Kerlen Vesper, neues deutschland
nd: Herr Taufer, als Hanns-Martin Schleyer entführt wurde, saßen Sie im Gefängnis. Wann haben Sie erfahren, dass das Kommando, das den ehemaligen SS-Offizier und Arbeitgeberpräsidenten entführt hatte, sich nach Ihrem ehemaligen Mitstreiter Siegfried Hausner nannte?

barbara eismannLutz Taufer: Ich war seit 1975 in Haft und 1977 im Hungerstreik. Ich weiß nicht mehr exakt, wann ich es erfuhr. Denn wenige Stunden nach der Schleyer-Entfühung wurde Kontaktsperre über uns verhängt. Wir hatten null Kontakt zur Außenwelt, wir waren ohne Anwalt, ohne Radio, ohne Zeitung, ohne Post, nichts. Die Kontaktsperre ging über sechs Wochen. Als sie beendet war, bekam ich eine Stunde Einzelhofgang und da haben Gefangene, keine politischen, an ihrem Zellenfenster ein selbstgemaltes Plakat hochgezeigt, auf dem geschrieben stand: »Baader, Ensslin, Raspe tot.« Das war am 19. Oktober 1977. Das war natürlich ein Schock.

Was haben Sie in diesem Moment gedacht?

Einen Tag später hatten wir wieder zu dritt Hofgang. Natürlich dachten wir, man hätte die drei umgebracht. Heute denke ich, beides ist möglich: Mord wie auch Selbstmord. Ich weiß es nicht.

Mit der Schleyer- und später der Landshut-Entführung sollten RAF-Gefangene freigepresst werden. Sie standen nicht auf der Liste. Hat Sie das gekränkt?

Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich war froh darüber. Denn die Landshut-Entführung konnte ich nicht gut heißen. Da wollten Menschen in den Urlaub fliegen, nicht auf die Bahamas, sondern nach Mallorca, ein bisschen Süden genießen, für wenig Geld, weil sie nicht betucht waren, eher den unteren Schichten der Gesellschaft angehörten.
Mit Karl-Heinz Dellwo und Knut Folkerts war ich mir einig: Das geht nicht! Das ist genauso ein Unding, wie 1972 der Anschlag auf die Springer-Zentrale in Hamburg, bei dem auch Arbeiter verletzt wurden. Es gab damals heftige Diskussionen und Widerspruch in der RAF und in der Sympathisantenszene. Während seines Prozesses hat ja Andreas Baader erklärt, die Aktionen der Guerilla richte sich niemals gegen das Volk. Aber das war eindeutig eine Aktion gegen das Volk.

Nach Holger Meins nannte sich Ihr Kommando, das die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm im April 1975 stürmte und zu dem außer Ihnen und Karl-Heinz Dellwo nicht nur Siegfried Hausner, sondern auch Ulrich Wessel, Hanna Krabbe und Bernd Rössner gehörten. Kannten Sie sich schon länger oder fanden Sie sich eher kurzfristig und spontan zusammen?

Wir kannten uns teilweise schon seit Jahren, schon vom Sozialistischen Patienten-Kollektiv in Heidelberg, SPK, gegründet von über 50 Psychatrie-Patienten unter Beteiligung des Arztes Wolfgang Huber als eine Selbsthilfeorganisation, um »aus der Krankheit eine Waffe« zu machen, gegen das kapitalistische System, dessen Lebens- und Arbeitsbedingungen krank machen (aktuelle Beispiele hierfür sind übrigens die Dieselabgasbetrügereien oder das verbreitete Burn-out).
Das SPK hat sich im Juni 1971 aufgrund des enormen Drucks, den es gegen uns gab, zu dem auch eine Reihe von Verhaftungen gehörten, aufgelöst. Kurz danach gründeten wir eine Nachfolgeorganisation, das Informationszentrum Rote Volksuniversität, IZRU. Nachdem im Sommer 1972 die sogenannte Erste Generation der RAF verhaftet wurde, in Toten Trakten und Isolationszellen verschwand und die SPK- und RAF-Gefangenen in Hungerstreiks Widerstand leisteten, wurden zu ihrer Unterstützung bundesweit Kommitees gegen Isolationsfolter ins Leben gerufen. Die beiden aktivsten war das Kommitee in Hamburg und wir in Heidelberg.

Es ist ein Montag – der 5. September 1977. Als nach Dienstschluss Hanns-Martin Schleyer von der Arbeitgeberzentrale in Köln zu seiner Dienstwohnung chauffiert wird, schlägt ein RAF-Kommando zu. Beim Feuergefecht werden sein Fahrer und drei Personenschützer tödlich getroffen, die Attentäter fliehen mit dem unverletzt gebliebenen Arbeitgeberpräsidenten. Die Regierung unter Helmut Schmidt (SPD) entscheidet, nicht auf die Forderungen der Entführer einzugehen. Bei dieser Haltung bleibt sie auch nach der Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut«, die am frühen Morgen des 18. Oktober auf dem Flughafen Mogadischu in Somalia von Beamten der GSG-9 gestürmt wird, bei der alle 86 Geiseln befreit werden können.
Lutz Taufer (Jg. 1944), der zu jener Zeit bereits in Haft saß, kritisierte schon damals die Geiselnahme der Urlauber. Der studierte Psychologe war Mitglied des »Kommandos Holger Meins«, das am 25. April 1975 die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm überfiel; das Geiseldrama endete blutig. Taufer wurde gemeinsam mit den anderen beteiligten RAFlern am 20. Juli 1977 zu zwei Mal lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 1995 entlassen, übersiedelte er zu seiner Schwester nach Uruguay und später nach Brasilien – wo er zehn Jahre für den Weltfriedensdienst arbeitete, dessen Vorstandsmitglied er heute ist.
Taufers jüngst erschienene Erinnerungen »Über Grenzen. Vom Untergrund in die Favela« (Assoziation A, 288 S., 19,80 €) sind auf der Hotlist der zehn besten Bücher aus unabhängigen Verlagen 2017 gelandet. nd-Rezension von Michael Kegler.

Wieso wählten Sie als Anschlagsziel ausgerechnet die Botschaft in Schweden?

Nachdem 1972 die sogenannte erste Generation der RAF verhaftet worden war, gab es den Versuch, die Rote Armee Fraktion wieder aufzubauen. Diese Gruppe wurde aber am 4. Februar 1974 in Hamburg und in Frankfurt am Main verhaftet. Der Versuch war fehlgeschlagen. Bei einem Anwaltsbüro konnte ich die zugehörigen Asservaten-Akten einsehen. Die konspirativen Wohnungen der Verhafteten waren bis unter die Decke mit allen möglichen Sachen gefüllt. Wir dachten nur: Um Gottes willen, was haben die denn so lange gemacht?! Und daraufhin beschlossen wir, zügig eine Aktion zur Befreiung der Gefangenen durchzuführen, noch vor Beginn des Stammheimer Prozesses.

stockholm
Die deutsche Botschaft in Stockholm nach der tödlichen Attacke des RAF-Kommandos «Holger Meins» im Februar 1975

Aber ausgerechnet in einem Land, das von einem Sozialdemokraten regiert wurde, der sich für Frieden und Entspannung zwischen Ost und West und den Dialog zwischen Nord und Süd einsetzte: Olof Palme!

Palme hat auch vor der US-Botschaft in Stockholm gegen den Vietnamkrieg demonstriert. Wir glaubten deshalb, er wird nicht gleich die Polizei zum Sturm auf das Botschaftsgebäude losschicken, weil er eben kein kalter Krieger, kein Militarist ist, wie die anderen. Doch kaum waren wir in der Botschaft, stürmte die Polizei rein und die ganze Aktion lief völlig schief, geriet aus dem Ruder.

Sie endete blutig.

Der Militärattaché Andreas von Mirbach und der Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart wurden von uns erschossen. Das war eine Aktion, die völlig quer lag zu jedem emanzipatorischen Anspruch. Selbst wenn man Gewalt anwendet, darf diese nicht in Widerspruch stehen zu der Sache, die man anstrebt. Wir wollten doch eine gerechtere, bessere, humanere Gesellschaft. Dieser Anspruch steht in dem Augenblick in Frage, wenn wehrlose Geiseln ermordet werden.

Sie hegen Zweifel an der offiziellen Version des Todes von Haussner?

Ja. Etwa um Mitternacht explodierte der von uns platzierte Sprengstoff. Was die Explosion ausgelöst hatte, ist unklar. Die schwedische Polizei hatte einen Angriff vorbereitet, bei dem Gas in die Belüftungsanlage eingeleitet werden sollte.
Nach der Explosion im Botschaftsgebäude schleppten Siegfried und ich den verletzten Bernd aus dem Gebäude, danach gingen wir zurück, um uns um den bewusstlosen Ulrich zu kümmern, der aber bereits im Sterben lag. Kurz nach Mitternacht wurden Hanna, Karl-Heinz, Bernd und ich vor dem Botschaftsgebäude festgenommen. Wann, wo und in welchem Zustand Siegfried festgenommen wurde, ist unklar. Es sollen auch nach unserer Festnahme Schüsse in der Botschaft gefallen sein.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Siegfried an den geringfügigen Verletzungen, die ich an ihm bemerkt hatte, kurze Zeit später, nach unserer Auslieferung, auf der Sanitätsstation im Stammheimer Knast gestorben sein soll.

Bevorzugte Opfer der RAF waren ehemalige Nazis und prominente Protagonisten der Bundesrepublik. Diplomaten sind jedoch eher Rädchen im Getriebe.

Damals waren für uns auch Diplomaten Repräsentanten des kapitalistischen Systems.
Wir haben selbst kaum über unsere Aktion in Stockholm gesprochen. Ich beziehe mich da ausdrücklich mit ein. Stockholm war schon Ausdruck eines späteren Militarismus und hat, weil wir uns dazu nicht äußerten, für das Umfeld draußen falsche Maßstäbe gesetzt. Wir hätten uns früher klarer positionieren müssen. Das hätte die Schleyer-Entführung womöglich nicht ungeschehen gemacht, aber hätte vielleicht die folgenden Jahre beeinflusst.

Sie sind in einem eher apolitischen Elternhaus aufgewachsen. Wie kam es zu Ihrer Radikalisierung?

Meine Eltern waren keine Nazis, aber auch keine Widerstandskämpfer. Der einzige Widerstand, den mein Vater leistete, war, sich dem Volkssturm zu entziehen. Als er 1944 zum Volkssturm rekrutiert werden sollte, kaufte er sich eine Bahnkarte und sprang aus dem fahrenden Zug, um sich zu verletzen. Meine Eltern haben versucht, sich aus der Politik herauszuhalten und mir diese Einstellung vermittelt.
Ich stand bis zum 2. Juni 1967 der Studentenbewegung kritisch gegenüber. Erst der Mord an Benno Ohnesorg und das Attentat auf Rudi Dutschke haben bei mir ein Umdenken bewirkt. Empört hat meine Mutter und mich auch der Mord an Martin Luther King 1968 und die Erschießung von vier Studenten der Kent State University in den USA zwei Jahre darauf durch die Nationalgarde, nur weil sie friedlich gegen den Vietnamkrieg demonstriert hatten.

Der Vietnamkrieg war für viele Initialzündung für Wut und Empörung.

Ja, auch mich hat er politisiert – zum einen, weil die Bundesregierung Schützenhilfe beim Genozid in Vietnam gab, zum anderen, weil der Antikriegsbewegung ein fürchterlicher Hass entgegenschlug, aus der bürgerlichen Presse und auch auf der Straße, in der biederen Nachbarschaft. Hinzu kamen die Notstandsgesetze, die von ehemaligen Nazis ausgearbeitet worden sind. Bis zu 70 Prozent der leitenden Beamten im Justizministerium hatten, wie wir heute wissen, schon Hitler gedient. Sie wollten ursprünglich sogar noch den Schutzhaftparagrafen aus der NS-Zeit übernehmen. Ich war mir nicht sicher, dass der Faschismus nicht wieder ersteht. Wir hatten gelernt: »Wehret den Anfängen!« Aber woran erkennt man diese Anfänge?

Zu jener Zeit gab es noch faschistische Diktaturen in Lateinamerika und auf der Iberischen Halbinsel.

In fast jedem lateinamerikanischen Land gab es eine Militärdiktatur. Zugleich gab es in all diesen Ländern mindestens eine bewaffnet kämpfende Gruppe. Auch in Südafrika, Angola, Mozambique oder auf den Kapverdischen Inseln. Die Kolonialtruppen, die dort Krieg gegen die Befreiungskräfte führten, waren mit dem gleichem Gewehr von Heckler & Koch ausgerüstet, an dem ich während meines Wehrdienstes bei der Bundeswehr ausgebildet worden war. Zu jener Zeit pflegte die Bundesregierung mit Diktaturen rund um den Globus freundschaftliche Beziehungen. Auch zum Franco-Regime in Spanien oder der Salazar-Diktatur in Portugal.
Andererseits durften wir erleben, wie in Vietnam eine Bauernarmee in Sandalen und »Pyjamas« die mächtigste Militärmaschine der Welt in die Knie zwang. Wir hatten erlebt, wie in Kuba 21 Guerilleros innerhalb von zwei Jahren die Insel von einer der korruptesten Diktaturen im Hinterhof der USA befreiten. Das war für uns ein starkes Signal: Auch das Undenkbare ist möglich. Die Schwachen können die Starken besiegen. Wir waren davon überzeugt, dass auch wir in der BRD, einem entscheidenden Frontabschnitt in diesem globalen Krieg, eingreifen müssten.

Die Verbundenheit mit dem Trikont, der internationalistische Standpunkt, der heute manchen Linken abhanden gekommen ist. Aber haben Sie wirklich geglaubt, Massen gegen das »Schweinesystem« in der Bundesrepublik mobilisieren zu können?

Wir hatten dazu reichlich nebulöse Vorstellungen.

RAFlogo05Fühlte sich die Rote Armee Fraktion als eine Art Avantgarde?

Das bolschewistische Schema, wonach die Partei die Massen befiehlt, war nicht das unsere, auch wenn wir uns Rote Armee Fraktion nannten.
1956 hatte Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU Stalins Verbrechen offengelegt. Das war auch in Brasilien in allen Zeitungen zu lesen. Die brasilianischen Kommunisten dachten, das sei bürgerliche Propaganda, das stimmt nicht. Sie schickten einen Emissär nach Moskau, und als der zurückkam, bestätigte er: »Ja, das stimmt alles.« Carlos Marighella ist in Tränen ausgebrochen – wegen der Verbrechen, die im Namen des Kommunismus, des Sozialismus, begangen worden waren. Und Jorge Amado, der große brasilianische Schriftsteller, trat aus der KP aus. Ich bringe hier das Beispiel Brasilien, weil von Lateinamerika wichtige Anstöße zu einem Umdenken im revolutionären Kampf kamen.

Marighella, der das »Minihandbuch des Stadtguerilleros« verfasste, war Ihr Idol.

Ja, Carlos Marighella war ein großes Vorbild. Aber nicht, weil er eine Gebrauchsanweisung für die Stadtguerilla verfasst hat, sondern wegen seines Widerstands gegen die brasilianische Militärdiktatur, die, nebenbei gesagt, von der Regierung Willy Brandt und »VW do Brasil« massiv unterstützt wurde. Wiederum mit Waffen von Heckler & Koch. Marighella ist heute Ehrenbürger der Stadt São Paulo, zahlreiche brasilianische Schulen tragen seinen Namen, eine davon auf der Ilha da Itaoca, einer sehr armen Favela, in der ich später arbeitete.
Der XX. Parteitag in Moskau hat zu einem Umdenken in der Revolutionsstrategie und -taktik beigetragen. In Lateinamerika putschten sich überall die Militärs an die Macht, es gab militärisches Eingreifen der USA, 1954 einen CIA-Putsch in Guatemala – aber die KP’s erwiesen sich nirgendwo als Motor für entschlossenen Widerstand. Es war die Zeit der friedlichen Koexistenz zwischen Ost und West.
Nun kam also die Fokus-Theorie auf: Eine kleine Gruppe, die entschiedenen Widerstand leistet, kann eine mobilisierende Wirkung bei den Massen entfalten. Das hat in Kuba funktioniert, aber bereits in Bolivien ist Che damit gescheitert.
Die Geschichte der RAF wird hierzulande oft so dargestellt, als sei sie ein isoliertes Phänomen gewesen. Das stimmt nicht. Wir verstanden uns als einen Frontabschnitt im weltweiten Kampf gegen Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus. Darauf spielt das Wort »Fraktion« an. Wir waren – wie viele andere auch – der Überzeugung, dass der Kapitalismus sich seinem Ende nähert. Man sprach damals vom Spätkapitalismus. Das hat natürlich auch zu einer maßlosen Selbstüberschätzung unserseits beigetragen. Deshalb haben wir Dinge getan, die wir besser nicht getan hätten.

Und eigentlich ging es bald nur noch um die Freipressung von gefangenen Gesinnungsgenossen. Die RAF kreiste um sich selbst.

Ja. Nun muss man aber auch bedenken, dass es eine alte Tradition in der revolutionären Linken war, ihre Gefangenen zu befreien. 1928 verhalf Olga Benario ihrem Lebensgefährten Otto Braun aus der Haft. Das war auch gängige Praxis bei den Tupamaros in Uruguay, wo mitunter hundert Gefangene auf einen Schlag befreit worden sind. Aber sich jahrelang allein darauf zu fokussieren, war natürlich dürftig.
Wir bemerkten erst spät, zu spät, dass neue Bewegungen auch in der Bundesrepublik entstanden sind: die Anti-AKW-Bewegung, Friedensbewegung, Hausbesetzerbewegung, Frauenbewegung und, und, und. Ich habe dies mehr oder minder im Gefängnis verfolgen können und kam zur Ansicht, dass unsere Ära vorbei war. Ich versuchte unseren Freunden und Anhängern draußen zu vermitteln, dass wir nicht alleine durch den Kosmos sausen und das Neue nicht ignorieren dürfen, uns mit den neuen sozialen und politischen Bewegungen auseinandersetzen müssen. Aber diese Auseinandersetzung erfolgte nicht oder eben zu spät.
Ich will und kann hier nicht die ganze RAF-Geschichte aufblättern. Anfang der 1980er Jahre war jedenfalls für mich gewissermaßen ein erster Endpunkt erreicht. Ich wollte mich aber nicht aus dem Staub machen, nicht alles hinschmeißen oder »abschwören«. Ich habe mich in einer Verantwortung gesehen für RAF und konnte mich nicht davonstehlen mit einer lapidaren Bemerkung: Es war ein Irrtum, ich gehe jetzt. Oder schlimmer noch, jemanden zu verraten um des eigenen Vorteils willen.

Die RAFler scheinen generell eine verschwiegene Gemeinschaft zu sein, was ihnen vor allem von Angehörigen der Opfer noch heute vorgeworfen wird. Wie geht das zusammen: einerseits kritischer Rückblick, andererseits stures Festhalten am Kodex des Schweigens?

Ich kann nur für mich, nicht für andere reden. Wir haben in Stockholm gemeinsam gehandelt. Die Gruppe existiert nicht mehr, hat sich gespalten – damit meine ich nicht nur das Kommando Holger Meins, sondern auch die Gefangenengruppe. Dennoch möchte ich nicht über Details des Geschehens in der Botschaft reden.

Weil Sie eine Art kollektiver Verantwortung selbst im Negativen empfinden?

Ja.

Auch wenn Sie selbst für keine tödlichen Schüsse verantwortlich sein sollten, fühlen Sie Verantwortung für das blutige Drama?

Ja.

Hat Ihnen Ihre Tätigkeit im Sozialistischen Patienten-Kollektiv respektive Ihr Psychologiestudium geholfen, die Haft besser durchzustehen als vielleicht andere Mitgefangene?

Ich habe sie nicht besser als die anderen überstanden. Die SPK-Erfahrung war dennoch nützlich, das Psychologiestudium hingegen hat überhaupt nix geholfen. Das war damals ganz am Behaviourismus orientiert. Die Psychologie sollte eine Naturwissenschaft wie Physik und Chemie sein, der Mensch kann vermessen werden. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Intelligenztest. So ein Quatsch nützte mir nichts.
Der 7. Stock in Stammheim war kein Sanatorium, wie mancher heute suggeriert. Wir waren zehn Jahre lang in einem Hochsicherheitstrakt isoliert. Ich habe ein Dutzend Hungerstreiks gemacht. Ich bin in der Isolationshaft fast kaputt gegangen. 1981 habe ich einen Selbstmordversuch unternommen. Zum Glück ist es nicht so einfach, sich umzubringen. Anschließend habe ich in mich gehorcht und mich gefragt, was ich eigentlich will. Das hatte ich nicht immer zu Ende gedacht, da musste ich tiefer graben. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben.

An Frauenemanzipation und Gleichberechtigung mangelte es aber auch in der RAF. Andreas Baader beispielsweise soll sich mächtig als Macho aufgeführt haben.

Das kann sein. Oder auch nicht. Der frühere Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karl-Heinz Bohrer, schreibt über Andreas Baader, dass er »im Unterschied zu den linken Großsprechern am Ende doch Mut und eine kalte Konsequenz gezeigt hat«: »Seine Herablassung gegenüber der bloß theoretischen Diskussion ohne praktische Konsequenzen« haben ihm die »linken Großssprecher« nie verziehen und es ihm tausendfach heimgezahlt. Ist dahinter noch eine reale Person Andreas Baader erkennbar?
Aber selbstverständlich hatten wir damals alle unsere Macken. Wie konnte das anders sein bei der Gesellschaft, aus der wir kamen? Das ist allerdings keine Generalamnestie für Unentschuldbares.

Mit Karl-Heinz Dellwo haben Sie dann ein Moratorium gegen Gewalt verfasst. Haben Sie da Anfeindungen von Mitstreitern in- und außerhalb des Gefängnisses erfahren?

»Anti-Gewalt-Moratorium« ist ein Begriff, der durch die Literatur und das Internet geistert, wir haben ihn nie in den Mund genommen. Wir haben Jahre lang diskutiert, endlos viele und lange Briefe und Texte geschrieben. Wer schreibt heute noch so viel im Zeitalter des Kurznachrichtendienstes?

Ist die RAF schuld an der Verschärfung der Gesetze und Einhegung des Rechtsstaates im Gefolge des Deutschen Herbstes?

Wir sind gewiss nicht ganz unschuldig daran, aber ich finde, der Anteil daran wird in den Geschichtsdarstellungen maßlos übertrieben.

Die rasche Folge von Anschlägen 1977, die Ermordung von Siegfried Buback im April, von Jürgen Ponto im Juli, von Schleyer im Oktober, waren nur der Vorwand, den Staat »wehrhafter« zu machen?

Ein willkommener Anlass. Das nicht vorab erkannt zu haben, ist unsere Schuld. Aber man braucht sich ja nur mal die Bilder jüngst in Hamburg während des G20-Gipfel zu vergewärtigen: eine martialische Marsmenschen-Invasion, die auf alles eingeknüppelt hat, was kreucht und fleucht. Die RAF gibt es seit zwanzig Jahren nicht mehr. Und diese staatliche Gewaltbereitschaft erlebt man heute weltweit. Leider. Wir nennen das in der Entwicklungszusammenarbeit »Shrinking Spaces«, das heißt: schrumpfende Räume für Zivilgesellschaften. Sie werden überall deutlich eingeschränkt. Man schaue nur in die Türkei.
Unser Hauptpunkt war die Gegengesellschaftlichkeit. Es reicht nicht, den Kapitalismus zu negieren. Der Kapitalismus ist nicht durch einfache Negation abzuschaffen. Das war das leninistische Modell, das sich nicht bewährt hat. Es muss bereits im Kapitalismus eine Produktions- und Lebensweise aufgebaut werden, die aus sich heraus überzeugender ist als die kapitalistische. Ich halte das heute, wo wir an der Schwelle zur digitalisierten Arbeit, Produktion und Dienstleistung stehen, für eine gewaltige Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Ob sich das dann als ein friedlicher Übergang in eine menschlichere Gesellschaftsform vollzieht, weiß ich nicht. Da wird es sicher Auseinandersetzungen mit den Profiteuren des Kapitalismus geben, aber zugleich Neues erlebbar werden.

Nach Ihrer Entlassung 1995 sind Sie nach Brasilien gegangen, das Sie in ihrer Autobiografie »mein Wahnsinnsland« nennen. Aber auch dort ist eine rückläufige Entwicklung zu beobachten.

Ja, schon während der Koalitionsregierung ab 2003, geführt von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, PT, und Luiz Inácio Lula da Silva, ein Kabinett aus 13 Parteien der unterschiedlichsten, teils diametral entgegengesetzten Tendenzen, war Neoliberales wirksam. Aber auch eine mehr oder wenig deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse von vielen Millionen Armen. Die Banken fuhren unter Lula die höchsten Gewinne ihrer Geschichte ein. Das alles wurde finanziert aus den Exporterlöse für Rohstoffe und Agrarprodukte. Als die in den Keller gingen, war das Fest vorbei. Ich habe zehn Jahre in brasilianischen Favelas gearbeitet, ich hatte das große Glück, das Leben der Armen kennenlernen zu dürfen.

Favela Ilha da Itaoca
Lutz Taufer in der Favela Ilha da Itaoca

Was mir am meisten Sorge macht ist: 2018 sind Präsidentschaftswahlen. Mal davon abgesehen, dass die Arbeiterpartei dringend eine Rundum-Erneuerung bräuchte, liegt Lula mit 30 Prozent der Stimmen in den Umfragen weit vorne. Aber er ist jetzt wegen angeblicher Korruption verurteilt worden. Er geht zwar in Berufung, aber es könnte sein, dass dieser Berufung nicht stattgegeben wird. Und dann ist es aus mit ihm als Präsidenten.
Der nächste Kandidat, Jair Bolsonaro, der Lula in den Meinungsumfragen auf den Fersen folgt, ist ein Faschist reinsten Wassers. Der läuft nur mit Knarre herum. Als im Kongress eine Politikerin die zahlreichen Vergewaltigungen und häusliche Gewalt beklagte, brüllte er durch den Saal: »Dich würde sowieso niemand vergewaltigen, so wie du aussiehst.«

Ein Trump-Kaliber…

Noch schlimmer als Trump. Vor einiger Zeit gab es eine Protestdemonstration vor dem Militärklub in Rio, Versammlungsort ehemaliger Folterer aus der Zeit der Militärdiktatur. Da kam Bolsonaro raus und schrie die Studenten an: »Ihr habt ja recht, die Folter war ein großer Irrtum. Wir hätten euch alle umbringen sollen.« Ich bin vorsichtig mit dem Wort »Faschist«, es wird inflationär gebraucht. Aber Bolsonaro ist ganz klar ein Faschist!

Welchen Eindruck hatten Sie von den Menschen in den Favelas?

Es sind oft tüchtige Menschen. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand und entwickeln bisweilen einen unglaublichen Erfindungsreichtum, um zu überleben. Ich bin immer wieder talentierten, intelligenten Jugendlichen begegnet, die gerne etwa aus ihrem Leben machen würden, aber keine Chance haben, weil es in ihrem Umfeld keine Schule gibt, wo sie einen Mittelstufenabschluss erlangen können. Ohne den sind sie aber geliefert für den Rest ihres Lebens. Und das ist für mich die eigentliche Tragödie. Viele gehen zum narcotráfico, der Drogenmafia. Dort beträgt ihre durchschnittliche Lebenserwartung 23 Jahre.

Sie sind Vorstandsmitglied des Weltfriedensdienstes. Was macht Ihre Organisation?

Der Weltfriedensdienst wurde vor 50 Jahren, in der Hochzeit des Kalten Kriegs und des atomaren Wettrüstens gegründet. Von daher der Name. Beim ersten Projekt handelte es sich um Wiederaufbauhilfe in Servia, einer griechischen Kleinstadt, die von deutschen und italienischen Truppen im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört worden ist.
Der Schwerpunkt unserer Arbeit lag und liegt in Afrika. Der Kampf gegen das südafrikanische Apartheitsregime und die Unterstützung südafrikanischer Flüchtlinge in Botswana, Tansania und Simbabwe standen auf der Agenda ganz oben.
Im südlichen Afrika unterstützen wir jetzt beispielsweise das Projekt »Steps for the Future«. In Filmen, die inzwischen in 18 afrikanische Sprachen übersetzt sind und viele hundert Mal, vor allem in ländlichen Gebieten, gezeigt wurden, kommen Menschen zu Wort, über ihren Umgang mit HIV/Aids berichten. In Guinea-Bissau helfen wir im Kampf gegen Genitalverstümmelung. In Palästina fördern wir die Theaterarbeit von Jugendlichen, mit denen sie sich sowohl gegen das Siedlerregime als auch gegen ihre konservative Community emanzipieren können. Ein aktueller Fokus liegt auch auf dem Kampf gegen Land- und Watergrabbing.

Wie sind Sie als ehemaliger RAFler zum Weltfriedensdienst gekommen? Ein doch etwas bizarrer Entwicklungsweg.

Ja, bizarr könnte man sagen. Oder mit anderen Worten: Über Grenzen. Tupamaros haben mich im Knast besucht. Als ich entlassen wurde, bin ich zunächst nach Uruguay, nach Montevideo geflogen. Dort wurde ich angesteckt, entdeckte meine Liebe für den Kontinent. Meine neue Heimat wurde Brasilien. Ich war ja frei von allen Zwängen. Ich kannte aber nur einen Satz: »Eu não falo português« – ich spreche kein Portugiesisch. Als ich dann in Rio zum ersten Mal am Strand stand, dachte ich: Das ist der größtmöglich denkbare Gegensatz zum Hochsicherheitstrakt! Hier bleibe ich.
Gelandet bin ich dann über Umwege in Favelas, wo ich mit Campo, einer brasilianischen Partnerorganisation des Weltfriedensdienstes, in Projekten der Armutsbekämpfung, in den Bereichen Berufsbildung, Arbeitsvermittlung, Entwicklung von Kooperativen und Forumtheater mit Jugendlichen gearbeitet habe. Vor allem ging es darum, den Menschen in der Favela, denen seit Ende der Sklaverei 1888 eingebimst wird, dass sie nichts taugen, zu helfen, ihre individuellen Fähigkeiten und Talente zu entdecken und zu entwickeln. Es war die beste Zeit meines Lebens.

Grafiken, Fotos: Barbara Eismann (1),  Wikipedia, Lutz Taufer (4)