Hat die solidarische Ökonomie eine Zukunft?

Die Textilfabrik in Pigüé, einer Kleinstadt im Süden der Provinz Buenos Aires, war der ideale Schauplatz, um über die Zukunft der solidarischen Ökonomie zu diskutieren
Von Jürgen Vogt

Bierbaum textiles
Heinz Bierbaum besuchte die Textilfabrik in Pigüé

Knapp 400 TeilnehmerInnen waren Anfang September zum Treffen „Ökonomie der Arbeiterinnen und Arbeiter“ angereist, um sich über Schwierigkeiten, Erfahrungen und zukünftige Strategien der Selbstverwaltung auszutauschen. Gekommen waren Mitglieder von Kooperativen, Belegschaftsbetriebe, Gewerkschaften und Universitäten aus 23 Ländern.

„Wenn wir nicht wissen, wohin wir wollen, können wir nicht verhindern, dass sich die politische, soziale und ökonomische Lage in vielen Ländern verschlechtert,“ machte der Sozialanthropologie Andrés Ruggieri von der philosophischen Fakultät der Universität Buenos Aires gleich anfangs deutlich. Seit 2007 organisieren er und sein Netzwerk die weltweiten Treffen, das in Pigüé war bereits das sechste.

Die vielen Krisen haben gerade in Argentinien eine eigene Form der solidarischen Ökonomie entstehen lassen. Die fábricas recuperadas, die von ihren Belegschaften übernommenen und wieder flott gemachten Fabriken und Betriebe, sind heute ein fester Bestandteil der argentinischen Ökonomie, auch wenn ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt gering ist.

Gegenwärtig gibt es 367 Belegschaftsbetriebe mit rund 16.000 Beschäftigten, weist die jüngste Studie der Universität Buenos Aires aus. Gut die Hälfte sind in den Branchen Metallverarbeitung, Nahrungsmittel, Druckgewerbe und Textil zu finden. Und ihre Überlebensfähigkeit ist erstaunlich: Seit 2001 mussten lediglich 43 ihre Tore wieder schließen.

Die Auftaktveranstaltung fand im Hotel Bauen statt. Das 19-stöckige Hochhaus im Zentrum von Buenos Aires ist die Trutzburg der Bewegung der solidarischen Ökonomie in Argentinien. 2003 besetzte die Belegschaft das Hotel und führt es seither in Selbstverwaltung durch alle Höhen und Tiefen.

„Präsident Mauricio Macri hat Ende Dezember 2016 mit seinem Veto das Enteignungsgesetz und die Übergabe des Hotels in das Eigentum unserer Kooperative gestoppt. All dem hatte der Kongress schon zugestimmt,“ berichtete Federico Tonarelli von der Hotel-Kooperative. Im April konnte eine Räumung im letzten Moment noch abgewendet werden. Jetzt kämpft die „Arbeitskooperative“  im Bauen dafür, dass der Kongress das Veto mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit überstimmt.

Fast immer ist die Übernahme von geschlossenen Betrieben durch die auf die Straße gesetzte Belegschaft eine Reaktion aus der schieren Not heraus. Daran schließt sich ein langjähriges juristisches und politisches Tauziehen und ein stetiges Ringen um die Aufrechterhaltung der Fabrik an.
Zumeist sind es gerade die in der Produktion Beschäftigten, die die Betriebe übernehmen. So bereitete denn auch die Wiederaufnahme der Produktion noch die wenigsten Probleme. Dagegen betreten bei Verwaltung und Buchhaltung viele Belegschaften unbekanntes Terrain. Ist dies überstanden, geht es um die längerfristigen Perspektiven.

So geht auch die Geschichte der „Cooperativa de Trabajo Textiles Pigüé“. Ohne Vorwarnung hatten die Eigentümer über Nacht ihre Textilfabrik stillgelegt. Mit einer Blockade verhinderte die Belegschaft den Abtransport der Nähmaschinen und Färbereianlagen. Eine gewaltsame Räumaktion durch die Polizei verstärkte die Solidarität der EinwohnerInnen von Pigüé. 2004 gründeten sie die Kooperative. Nach einem langen politischen und juristischen Hin und Her wurde die Arbeitskooperative zum Eigentümer. 140 Mitarbeiter sind derzeit beschäftigt. In drei Schichten wird vor allem Stoff aus Kunststofffasern genäht und gefärbt.

Und die längerfristigen Perspektiven? Unter dem Namen ‚FIBRA‘ haben sie eine eigene regionale Marke entworfen. Die Werbung läuft über die Ausstattung der lokalen Fußballmannschaften in den Regionalligen. Ihr Traum ist es, in zwei Jahren Olimpo de Bahía Blanca auszustatten, den Erstligaclub in der 130 Kilometer entfernten großen Hafenstadt. Hätten sie Erfolg, würden sie vom Stoff bis zur Hose und Trikot alles fertigen.
Während wie selbstverständlich die großen Nähmaschinen tackerten und die Färbetrommeln rotierten, tauschten die aus aller Welt angereisten KooperativistInnen ihre Erfahrungen aus. Aus Uruguay, wo den großen Belegschaftsbetrieben ihre wichtigsten Kunden in Venezuela wegen der dortigen Krise weggebrochen sind. Aus Mexiko, wo ein ehemaliges Werk des deutschen Reifenherstellers Continental heute von einer selbstverwalteten Kooperative geführt wird, die wiederum eine erfolgreiche Kooperation mit dem US-Multi Cooper Tire eingegangen ist.

Aus Kolumbien, wo viele der ehemaligen Guerilleros der FARC in noch zu gründenden Genossenschaften beschäftigt werden sollen. Aus China, wo sich Frauen über eine App gegen die skandalösen Arbeitsbedingungen bei der Handyproduktion organisieren. Aus Griechenland, wo die Kooperative Vio.Me Reinigungsmittel herstellt und trotz Krise noch immer der einzig produzierende Belegschaftsbetrieb ist, weil die dortigen Gewerkschaften dagegen sind.

Und darüber, dass Marketing und Management zwar keine Begriffe der Selbstverwaltung sind, aber die Aufgaben, die ihnen in herkömmlichen Hierarchien zugeschrieben werden, auch in Belegschaftsbetrieben bewältigt werden müssen. Viele haben inzwischen das System einer delegierten Verantwortlichkeit bei entsprechend höherer Entlohnung der dafür von der Belegschaft bestimmten Beschäftigten eingerichtet.

Das Manko? „Die großen Gewerkschaften, auch die aus Argentinien, sind hier nicht präsent,“ konstatierte Heinz Bierbaum. Der Vorsitzende der internationalen Kommission der Linkspartei und langjährige Metallgewerkschafter war auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung nach Pigüé gekommen. „Lediglich einige kleine linke Gewerkschaften sind vertreten, deren Einfluss in ihren Heimatländern aber sehr beschränkt ist,“ sagte Bierbaum. Allerdings sei dies für ihn eher Ansporn, um das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und solchen Belegschaftsbetrieben, Belegschaftsübernahmen und Genossenschaften stärker zu thematisieren.

Das Fazit? Das Treffen in Pigüé habe dem Trend des wiederkehrenden Neoliberalismus etwas entgegengesetzt, meint Andrés Ruggieri zuversichtlich, „was wir gehört und ausgetauscht haben, sind konkrete und wirkliche Erfahrungen in eben diesen neuen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zeiten. Ich habe hier keinen Pessimismus gespürt, sondern eher die Lust zu kämpfen.“
Foto: Gerhard Dilger

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