Interview mit dem Träger des nationalen Preises für Architektur Enrique Ortiz Flores und Vorsitzenden der «Habitat International Coalition». Er unterstützt die Anstrengungen zum Wiederaufbau nach den schweren Erdbeben im September
Interview: Torge Löding
In der vergangenen Wochen hat «Habitat International Coalition» (HIC) ein neues Netzwerk mit alten und neuen Verbündeten, darunter auch Universitäten, für ein demokratisches und verantwortungsbewusstes Wiederaufbauprojekt ins Leben gerufen. Wie ist denn die Lage nach den schweren Beben?
Zur Ruhe gekommen ist das Land in keinerlei Hinsicht. Zum einen gibt es immer noch Nachbeben, die Menschen stresst das und viele haben Angst. Die Lage in der Hauptstadt und in den anderen acht betroffenen Bundesstaaten, insbesondere Oaxaca, Chiapas und Morelos, ist sehr unterschiedlich. Im Vergleich zu 1985 ist Mexiko-Stadt einigermaßen glimpflich davon gekommen. Es sind aber hunderte Menschen gestorben und sehr viel mehr wohnungslos geworden. Viele tausend Häuser sind eingestürzt oder unbewohnbar geworden. Alleine in den Bundesstaaten Oaxaca und Chiapas wurden indes über 121.000 Gebäude zerstört, vielerorts geht den Menschen das Trinkwasser aus.
Und es gibt auch ein politisches Kräftemessen, die Regierung drängt beim Wiederaufbau zur Eile, damit das Thema bei den Wahlen im Juni 2018 aus der Welt ist. Und dabei macht sie fundamentale Fehler, die wir zu korrigieren versuchen.
Mit dem neuen Netzwerk wollen Sie auch politisch Einfluss nehmen. Was fordern Sie?
Die Regierung verteilt Kreditkarten an die Betroffenen, mit denen sie in Supermärkten beispielsweise Baustoffe erwerben können. Der Wiederaufbau soll nur mit Zement gemacht werden. Wir fordern die Regierung auf, diese Praxis zu beenden und auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen. Der viel wichtigere Teil unserer Arbeit ist es aber, den betroffenen Gemeinden – und in den Bundesstaaten sind das sehr viele mit indigener Bevölkerung – beratend zur Seite zu stehen. Weder führen wir den Wiederaufbau durch, noch koordinieren wir ihn. Wir machen das Angebot, dass zum Beispiel unsere Architekten ihr Wissen in Workshops weitergeben. Für den Wiederaufbau steht die Regierung in der Verpflichtung und muss die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellen. Aber in ihrer derzeitigen Praxis ist das nur ein Auftragsbeschaffungsprogramm für ihre Freunde in der Wirtschaft. Wir stellen dagegen ein Konzept, welches die lokale Wirtschaft stärkt.
Wie soll das funktionieren?
In vielen Orten gibt es kleine Ziegeleien. Bei denen sind die von der Regierung verteilten Kreditkarten nicht gültig. Doch statt die großen Supermarktketten zu fördern, sollten Baumaterialien bei diesen lokalen Herstellern erworben werden. Das wäre ein positiver Impuls für die lokale Wirtschaft. Beim Wiederaufbau schlagen wir zudem vor, jetzt nicht alles mit Beton zu machen, sondern umweltfreundlich mit traditionellen Baustoffen zu arbeiten. Wir organisieren Workshops, in denen traditionelle und sichere Bauweisen erklärt werden.
Gar nicht im Sinne der Regierenden ist ein anderer Aspekt: Wenn die Menschen jetzt zusammenkommen und gemeinsam, von unten, den Wiederaufbau ihrer Orte oder Stadtteile planen, dann ist das auch ein Akt der politischen Selbstermächtigung, eine Erfahrung mit direkter Demokratie, der eine Bedrohung für das korrupte System darstellt. Vor 32 Jahren erstanden daraus soziale Bewegungen, welche die politische Landschaft in Mexiko veränderten.
Sie sprechen «sichere Bauweisen» an, zeigen die Zerstörungen insbesondere in Mexiko-Stadt eigentlich, dass nicht gelernt wurde aus dem Erdbeben von 1985?
Die Bauvorschriften, die nach 1985 erlassen wurden, sollten die Gebäude mindestens sicher machen für Erdbeben der Stärke 8. Die Tatsache, dass auch neue Gebäude einstürzten, zeigt uns, dass die Bauvorschriften nicht umgesetzt wurden. Kapitalistische Gier und Profitsucht ist der Grund dafür. Wir haben auch neue Erkenntnisse gewonnen, z.B. gibt es einen Streifen von Nord nach Süd durch die Stadt, an dem besonders viele Gebäude zerstört wurden. Hierbei handelt es sich um den ehemaligen Uferstreifen des großen zugeschütteten Sees, auf dem die spanischen Kolonialisten Mexiko-Stadt aufbauten. Dieser Untergrund und die Tallage begünstigen den Zerstörungseffekt von Erdbeben.
Jenseits der Angst und des Schreckens ist es mir aber wichtig zu betonen, dass eine unglaubliche Welle der Solidarität vor allem Mexiko-Stadt erfasst hat. Es ist beeindruckend wie vor allem junge Menschen sich in unabhängigen Brigaden organisiert und selbstständig Hilfe geleistet haben. Leider mussten sie unerfreuliche Erfahrungen mit der Repression durch die Marines und andere Sicherheitskräfte machen.
Eine gekürzte Version dieses Textes erschien am 16.10.2017 in der Tageszeitung Junge Welt
Fotos: CC BY 2.0, b de baca