Argentiniens Gewerkschaften unter Druck

Die Regierung Macri lässt wenig unversucht, um die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zu drücken. Die Lehrkräftegewerkschaft SUTEBA hält dagegen.

Die argentinische Lehrergewerkschaft SUTEBA demonstriert vor dem Regierungspalast in La Plata für höhere Löhne.
Die argentinische Lehrergewerkschaft SUTEBA demonstriert vor dem Regierungspalast in La Plata für höhere Löhne.

Von Jürgen Vogt, E&W
Ein Mann, der auf dem Boden kniet. Und eine Pistole, die auf den Kopf des Mannes zielt. Diese Szene erschien im März als Karikatur in der Lokalzeitung der argentinischen Kleinstadt Coronel Suárez. „Ich bin der meistverteufelte Gewerkschaftsführer Argentiniens“, sagt der Mann, dessen lange Haare, volle Barttracht und massiver Körperbau der Zeichner eindeutig abgebildet hat. Roberto Baradel ist Argentiniens mächtigster Lehrkräftegewerkschafter. Seit 2004 führt er die Vereinigte Gewerkschaft der Bildungsarbeitenden von Buenos Aires – das „Sindicato Unificado de Trabajadores de la Educación de Buenos Aires“, kurz SUTEBA. Die Karikatur passt zu den anonymen Drohungen, die immer öfter in Baradels Mailbox landen. „Leg dich nicht weiter mit der Regierung an! Sonst kriegen es du und deine Gewerkschaft mit uns zu tun“, schrieb einer neulich. „Das ist eine neue Dimension“, sagt der Gewerkschaftschef und macht die Regierung verantwortlich: „Die schafft das Klima, in dem so etwas erst möglich ist.“
Seit zweieinhalb Jahren führt die Parteienallianz „Cambiemos“ („Lasst uns wandeln“) Argentinien nach rechts. Präsident Mauricio Macri übernahm das Land 2015 nach zwölf Jahren unter Néstor und Cristina Kirchner, die erfolgreich begannen, aber mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen endeten, was den Weg für den knappen Sieg des Bündnisses ebnete. Cambiemos regiert nun im Bund, der Hauptstadt Buenos Aires und in der Provinz gleichen Namens, die den Metropoldistrikt umschließt und mit 18 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern nahezu 40 Prozent der Bevölkerung des Landes beherbergt. Mit Macri steht der erstgeborene Sohn eines Unternehmers an der Staatsspitze, der vor allem dank Staatsaufträgen ein Milliardenvermögen erwirtschaften konnte. Am Kabinettstisch sitzen fast nur Millionäre, viele tauschten Chefposten in Konzernen und Banken gegen ihr Ministeramt.

„Für diese Leute sind Gewerkschaften nur dann gut, wenn sie gar nicht erst existieren.“ (Roberto Baradel)

„Das ist eine Regierung von Reichen, die für die Reichen regiert“, sagt Gewerkschaftsführer Baradel. „Für diese Leute sind Gewerkschaften nur dann gut, wenn sie gar nicht erst existieren“, fügt er hinzu und erzählt, wie die Provinzregierung die SUTEBA-Mitglieder zum Gewerkschaftsaustritt per Mausklick aufgefordert hatte. Wollten Lehrkräfte auf einer Regierungswebsite ihre monatliche Lohnabrechnung überprüfen, öffnete sich automatisch ein Zusatzfenster, das anbot: „Um auszutreten, klicken Sie auf den Link ‚Austritt‘. Wir informieren dann die Gewerkschaft, der Sie angehören.“ SUTEBA ließ sich das nicht bieten. „Wir haben Anzeige wegen Sittenwidrigkeit erstattet“, sagt Baradel, der glaubt, dass sich die Provinzregierung mit dieser Aktion selbst geschadet hat. „Das hat auch viele empört, die nicht in der Gewerkschaft sind.“
Mit ihren rund 100.000 Mitgliedern ist SUTEBA nicht nur die mit Abstand stärkste Einzelgewerkschaft im nationalen Dachverband der Bildungsarbeitenden „Confederacion de Trabajadores de la Educacion“ (CTERA), der mehr als 140 Bildungsgewerkschaften und Vereinigungen zusammenschließt. SUTEBA ist zugleich die stärkste Einzelgewerkschaft in der Provinz Buenos Aires, der weitaus größten der 24 argentinischen Provinzen. An rund 18.000 Bildungseinrichtungen – Kindergärten, Grund-, Mittel- und Abendschulen – sind dort rund 320.000 Lehrkräfte und Erzieherinnen beschäftigt. Zum Vergleich: Im genauso stark bevölkerten Nordrhein-Westfalen waren 2017 168.366 Lehrkräfte voll-, teilzeit- und stundenweise sowie 98.358 Erzieherinnen und Erzieher beschäftigt.
Der Provinzregierung ist der Arbeitsausfall ein besonderer Dorn im Auge. 2017 mussten im Monatsdurchschnitt für 117.000 Lehrkräfte Vertretungen gestellt werden, vor allem wegen Krankmeldungen. Kostenpunkt: 760 Millionen Euro; trotz eines Bildungshaushalts von 5,1 Milliarden Euro kein kleiner Betrag. Mit Anwesenheitsprämien versucht die Regierung gegenzusteuern.
Wirkungsvoller Protest
Bildung ist in Argentinien erst seit 1997 Sache der Provinzen. Damals übertrug die Regierung von Präsident Carlos Menem den Großteil des Bildungswesens – ausgenommen die Universitäten – den Provinzen, schickte aber kein Geld dafür mit. Weil sich abzeichnete, dass Lehrkräfte in armen Provinzen des Nordens wesentlich schlechter bezahlt würden als ihre Kolleginnen und Kollegen im vergleichsweise wohlhabenden Patagonien schlugen etwa 50 Lehrkräfte vor dem Kongressgebäude in der Hauptstadt Buenos Aires ein Zelt auf und begannen einen Hungerstreik, dem sich über 1.300 Lehrkräfte anschlossen. La Carpa Blanca („Das weiße Zelt“) wurde zum Symbol gegen die neoliberale Kahlschlagpolitik.
Schließlich bewilligte die Regierung Menem die Einrichtung eines Nationalen Förderfonds für Lehrkräfte („Fondo Nacional de Incentivo Docente“, kurz FONID), aus dem ein Mindestlohn für alle Lehrkräfte in Argentinien finanziert werden sollte. Seither erhalten diese landesweit einen einheitlichen Mindestlohn, der jährlich ausgehandelt wird. Nach 1.003 Tagen Protest wurde das Zelt abgebaut. Einer der Hungerstreikenden war Baradel, damals noch Gewerkschaftssekretär in Lanús, einem Vorort im industriell geprägten Süden der Hauptstadt. „Die jetzige Regierung dreht das Rad zurück“, hadert Baradel, nachdem die Zentralregierung sich weigerte, nationale Lohnverhandlungen abzuhalten, mit dem Argument, Bildung sei allein Sache der Provinzen.
Die bisher letzte nationale Tarifrunde fand 2016 statt. Damals, kurz nach dem Amtsantritt von Präsident Macri, wollte die neue Regierung vor allem Ruhe und gestand eine kräftige Mindestlohnerhöhung zu. Zusätzlich verfügte sie, dass Lehrkräfte mindestens 20 Prozent über dem allgemeinen Mindestlohn verdienen müssen; wenn dieser steigt, müsse auch ihr Salär automatisch angepasst werden. Die Lehrkräftegewerkschaften stimmten zu. Doch nur ein Jahr später lehnte die Regierung die Einberufung der nationalen Lohnverhandlungen ab – mit dem Hinweis auf die 20-Prozent-Klausel. Verhandelt wird seither nur auf Provinzebene.

„Diese Regierung ist entschlossen, die Löhne zu drücken. Und die Provinz von Buenos Aires soll damit anfangen.“ (Baradel)

Vor diesem Hintergrund hat der Arbeitskampf in der größten Provinz Buenos Aires Pilotcharakter. 2017 hatten die Lehrkräftegewerkschaften eine 35-prozentige Anhebung der Löhne gefordert, die Provinzregierung lediglich 17 Prozent angeboten. Beide Lager bewegten sich kaum. Vor den Parlamentswahlen im Oktober wollte die Regierung ebenso wenig nachgeben wie die dem Lager der Ex-Präsidentin Kirchner nahestehende SUTEBA, die um einen Senatorenposten kämpfte. Während des sechsmonatigen Arbeitskampfs griffen Regierung und konservative Presse Baradel wiederholt persönlich an und machten ihn für viele zum Hassobjekt. 17 Tage lang blieben die Schulen 2017 geschlossen. Nach Demonstrationsmärschen, öffentlichen Schulstunden und Bildungskarawanen einigten sich beide Seiten auf eine Lohnerhöhung von 27,4 Prozent. Das mag sich nach einer kräftigen Anhebung anhören, bedeutete aber für die Beschäftigten einen realen Kaufkraftverlust. Denn die Inflationsrate lag 2016 bei über 40 Prozent.
Um die Inflation deutlich zu senken und das Budgetdefizit von 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts abzubauen, will die Macri-Regierung die Kosten des öffentlichen Sektors reduzieren, der mehr als 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beansprucht. „Diese Regierung ist entschlossen, die Löhne zu drücken. Und die Provinz von Buenos Aires soll damit anfangen“, sagt Baradel. Hartnäckig hält sich das Gerücht, die Regierung wolle den Förderfonds FONID spätestens 2019 abschaffen und die Lohnverhandlungen komplett den Provinzen übertragen. Doch die Gewerkschaften wollen dagegenhalten, notfalls auch auf dem Wasser.

SUTEBA-Chef Roberto Baradel mit Kindern der Grundschule „Nuestra Señora del Rosario“ im Delta des Río Paraná, 40 Kilometer nördlich von Buenos Aires.
SUTEBA-Chef Roberto Baradel mit Kindern der Grundschule „Nuestra Señora del Rosario“ im Delta des Río Paraná, 40 Kilometer nördlich von Buenos Aires.

Der Weg zur Grundschule Nr. 25 „Nuestra Señora del Rosario“ zieht sich durch die schlammbraunen Fluten im weitverzweigten Delta des Río Paraná, rund 40 Kilometer nördlich der Hauptstadt. „Diese Schule und sieben andere hier im Delta sollten geschlossen werden“, erzählt Baradel während der 90-minütigen Bootsfahrt. Das konnte verhindert werden, deshalb sei heute ein Tag zum Feiern.
„Unsere Schule ist 103 Jahre alt, wir haben acht Kinder im Kindergarten und neun in der Schule“, sagt Direktorin Amelia Torrilla, die hier seit zwölf Jahren unterrichtet. „Gerade wollten wir mit den Vorbereitungen für das neue Schuljahr beginnen, da hieß es, dass unsere Schule geschlossen wird.“ Plötzlich habe die Nachricht auf der Internetseite für Mitteilungen an Lehrkräfte gestanden, ohne Hinweis, wer die Schließungen angeordnet hatte. „Keine Regierung in Argentinien hat je eine Schule geschlossen, in der noch Schüler unterrichtet wurden“, sagt Torrilla.
Schnell merken die Kinder, dass der Mann aus dem Fernsehen da ist. Der sechsjährige Agustín freut sich besonders. Zwei passionierte Angler unterhalten sich jetzt auf Augenhöhe über den Fang von Flusswelsen. Am Ende erzählt er Baradel von dem Tag, als die Schulinspektoren kamen und die Materialien der Lehrkräfte abgeholt hätten. „Für diese Regierung ist alles nur ein Kostenfaktor“, sagt Torrilla, die wie alle betroffenen Lehrkräfte sofort an andere Schulen versetzt wurde. Dabei seien die Schulen im Delta, dessen Bewohnerinnen und Bewohner auf hunderten Inseln leben, zugleich der einzige soziale Treffpunkt. „Mit Kajaks, Ruderbooten und Barkassen haben wir eine Sternfahrt aus den Kanälen vor den Gemeinderat gemacht.“ Eine landesweite Solidaritätswelle zwang die Regierung zum Zurückrudern.
Dass die Demonstration zu Wasser landesweit Aufsehen erregte, ist auch ein Erfolg der neuen Kommunikationsstrategie der Gewerkschaft. „Erstmals haben wir kurze Videos über die Schulen, die Betroffenen und von den Aktionen gemacht und über Facebook, Instagram und Twitter verbreitet“, erzählt Facundo Roman, bei SUTEBA für die audiovisuelle Kommunikation zuständig, „die Spots haben bewirkt, dass die großen Medien die Geschichte aufgreifen mussten.“ Die Regierung sei mit Kurzbotschaften via Facebook & Co. enorm erfolgreich. „Die simplifiziert ihre Mitteilungen, und die Leute gewöhnen sich daran“, so Roman. Wenn die Regierenden Haushaltskürzungen als „Optimierung der Mittel“ verkauften, müssten auch die Spots der Gewerkschaften die Dinge kurz und klar beim Namen nennen. Das sei ein komplizierter Anpassungsprozess, gerade für Gewerkschaftsführende alter Schule. „Wir mussten ihnen erklären, dass sie nicht mehr in Buchform reden können, sondern alles in einer Minute erklären müssen.“

„Trotz der enormen sozialen Probleme ist das Schulsystem noch relativ gut. Das müssen wir verteidigen.“ (Maria Luque)

Es ist der dritte Streiktag im laufenden Schuljahr in der Provinz Buenos Aires. Statt vor den Tafeln im Klassenzimmer zu stehen, marschieren rund 30.000 Lehrkräfte Anfang April durch die Straßen der Provinzhauptstadt La Plata. Vor dem Palast der Provinzregierung protestieren sie für angemessene Löhne und gegen Einsparungen. Die Lehrkräftegewerkschaften fordern mindestens 20 Prozent und eine automatische Inflationsanpassung, die Provinzregierung bietet 15 Prozent. Streitpunkt ist abermals die Inflationsrate. Während die Regierung versichert, dass diese am Ende des Jahres bei 15 Prozent liegen wird, glauben nicht nur Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, sondern auch die meisten Ökonomen, dass auch dieses Jahr die 20-Prozent-Marke überschritten wird.
Unter den Protestierenden ist Maria Luque, Sportlehrerin an einer Grundschule in San Fernando, einem kleinen Ort vor den Toren der Hauptstadt. „Die ersten beiden Schultage nach den großen Sommerferien im März haben wir ebenfalls gestreikt“, sagt Luque. Mit ihrem Monatslohn von rund 650 Euro für täglich vier Unterrichtsstunden liegt sie im Provinzdurchschnitt eines Lehrkräftelohns. „Viele arbeiten einen doppelten Turnus, also acht Unterrichtsstunden pro Tag, um über die Runden zu kommen“, erklärt sie. „Unter der Vorgängerregierung wurde in die Breite investiert, soziale Integration war das Stichwort. Die jetzige Regierung setzt auf die Auswahl der Besten, jeder sei für sein Vorankommen selber verantwortlich.“ Vieles erinnere sie an den Neoliberalismus der Menem-Zeit, als es wichtiger war, die Auslandsschulden zu bedienen, als in ein besseres Bildungssystem zu investieren. „Trotz der enormen sozialen Probleme ist das Schulsystem noch relativ gut. Das müssen wir verteidigen“, sagt die Sportlehrerin.
Zudem sei die Schule oft der einzige Ort, an dem die Kinder zwei Mahlzeiten am Tag bekämen. Im dichtbesiedelten Gürtel um die Hauptstadt, in dem San Fernando liegt, lebt nahezu jeder dritte unterhalb der Armutsgrenze. Die wird in Argentinien nach dem Wert eines Warenkorbs für eine vierköpfige Familie bemessen und liegt bei 700 Euro. „Und der Provinz fällt nichts Besseres ein, als die Versorgung mit Frühstück und Mittagessen immer weiter zusammenzustreichen“, schimpft Luque. Die Provinzregierung versuche nicht nur einen Keil zwischen Lehrkräfte und ihre Gewerkschaften zu treiben, sondern auch zwischen Lehrkräfte, Gewerkschaften und Elternschaft, sagt Gewerkschaftsführer Baradel in seiner Rede und gibt sich kämpferisch: „Sie werden uns weder brechen noch besiegen.“
Fotos: Jürgen Vogt