Auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Goethe-Instituts kehrte Lutz Taufer in seine alte Wahlheimat zurück. In drei Städten stellte er seine frisch auf Portugiesisch erschienene Autobiographie vor. Mit Reue blickt er auf Stockholm, mit Schauer auf seine Zeit in Isolierungshaft.
Von Leon Willner
Lutz Taufer ist ein Mann starker Kontraste. Für ihn ergibt die Grenzüberschreitung, das Zusammenbringen der Gegensätze die schönste Harmonie. Wie ein Leitfaden ziehen sich Extreme aus Licht und Schatten durch sein Leben. Aufgewachsen in der badischen Provinz, wurde Taufer Mitglied der RAF und saß nach der Geiselnahme von Stockholm 1975 etwa 20 Jahre im Gefängnis, einen großen Teil davon in Isolationshaft. Anschließend wurde er Entwicklungshelfer in Favelas in Brasilien.
Dorthin kehrte er nun auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Goethe-Instituts Rio zurück. In Paraty, Rio de Janeiro und São Paulo präsentierte er seine Autobiographie Über Grenzen: Vom Untergrund in die Favela, deren hervorragende Übersetzung ins Portugiesische von Kristina Michahelles im Verlag Autonomia Literária erschien. „1998 hab’ ich mir Geld geliehen, um nach Rio zu fliegen. Als ich dann zum ersten Mal am Strand von Ipanema stand, dachte ich mir, das ist der maximal mögliche Gegensatz zum Hochsicherheitstrakt, da würde ich gerne bleiben“, sagte Taufer bei der Buchvorstellung im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.
Die Rückkehr nach Brasilien war für ihn wie eine Rückkehr in die Heimat. Er sprach von „beglückenden Erinnerungen” an „dieses unheimlich attraktive Land, in dem alles, was schön und wunderbar ist, zehnmal so schön und wunderbar ist wie in Deutschland und alles, was hässlich und gefährlich ist, zehnmal so hässlich und gefährlich ist wie in Deutschland”.
In den Favelas von Rio
Was macht ein ehemaliges RAF-Mitglied in Rio de Janeiro? In die Favelas gehen und irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen. Zuerst wollte Taufer eine kleine Bäckerei aufmachen. „Rio ist bezaubernd, hat aber besseres Brot verdient“, sagte er augenzwinkernd. Doch aus dem Vorhaben, deutsches Brot für Brasilianer anzubieten, wurde nichts. Als Deutschlehrer musste er zunächst kleinere Brötchen backen. „Dann hat mir ein Freund gesagt, ich kenne jemanden, einen Cristiano, der sucht einen Übersetzer.“
Cristiano Camerman war der Leiter einer brasilianischen Nichtregierungsorganisation namens Centro de Assessoria Movimento Popular, Zentrum zur Beratung der Volksbewegung. Es war Lutz Taufers Einstieg in die Nord-Süd-Zusammenarbeit. In den Favelas bildete er Multiplikatoren aus, hob Theaterprojekte aus der Taufe, richtete Werkstätten ein und baute Formen solidarischer Ökonomie auf. Durch seine Arbeit in den Favelas wurde ihm eines deutlich: Es kann nicht mehr bloß darum gehen, das kapitalistische System zu zerschlagen, es müssen beispielhafte ökonomische, soziale und kulturelle, in jedem Fall alltagstaugliche Modelle entwickelt werden.
Die Geschichte eines Lebens zu schreiben, ist immer eine bedenkliche Sache. Bereits im Voraus erklärt Taufer, dass er in seiner Autobiographie manches ins Licht und manches in den Schatten setzen werde. Stockholm liegt im Schatten. „Ich habe in meinem Buch, bei Lesungen und in Interviews viele Fragen beantwortet, bin über etliche Grenzen gegangen“, sagt er, „doch einige Fragen werden offen bleiben.“ Es gibt durchaus Momente bei seiner Rückkehr nach Brasilien, in denen Stockholm aus dem Schatten herausrückt. Auch in São Paulo stellt Taufer klar: Im Kampf für eine bessere Gesellschaft sei das Umbringen von Geiseln, um andere Gefangenen zu befreien, keine Option.
Die Zeit, um das zu verstehen, hatte er im Gefängnis. Taufer spricht ohne zu zögern, er zeigt Reue. In seiner Biographie schreibt er: „Es dauerte lange, bis ich in meinem Fühlen und Denken zulassen konnte, dass die Tötung zweier Geiseln auf grausame Weise, für die ich mitverantwortlich bin, ein Verbrechen ist, das durch nichts zu rechtfertigen ist.“
„Jeder Tag wie das schlimme Erwachen nach einem Vollrausch»
Ein Verbrechen, für das Taufer zu zweimal lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Er erzählt von dieser Zeit wie Stefan Zweigs Protagonist aus der Schachnovelle. „Jeder Tag fühlt sich an wie das schlimme Erwachen nach einem Vollrausch. Ich musste Techniken entwickeln, um diese absolute Isolation zu überstehen: von einfachen Kopfrechnungen bis hin zu Liebesgedichten von Bertolt Brecht.“ Taufers Rettung war nicht das Schach. Es war das Schreiben: „Dann habe ich begonnen, Briefe zu schreiben – lange Briefe. Das war meine Erlösung aus der Einsamkeit.”
Neben ihm sitzt Flávio Tavares, Journalist und Schriftsteller. Als militanter Gegner der brasilianischen Militärdiktatur (1964-85) hatte er den Horror politischer Gefangenschaft in Brasilien und Uruguay kennengelernt, war gefoltert worden. In Isolationshaft sei man „vom Rest der Welt komplett abgeschottet. Man lebt allein, weit weg – wie auf dem Mars oder auf dem Mond – und weiß nie, ob man je zurückkehrt”, erklärt Tavares, der für die brasilianische Ausgabe von Taufers Buch das Vorwort schrieb.
Auch 50 Jahre nach 1968 bekennt sich Taufer auf seiner Lesetour zur Parole „Kapitalismus führt zum Faschismus, der Kapitalismus muss weg”. Er will mithelfen, entsprechende Modelle zu entwickeln. „In der Favela kann man nicht mit Marx oder Lenin argumentieren. Nicht nur in Brasilien, bereits in meiner Haftzeit habe ich viel darüber nachgedacht, wie Revolution heute funktionieren könnte. Ich glaube, das Grundproblem der Linken – nicht erst seit ’68, sondern seit 150 Jahren – ist, dass sie kein wirtschaftliches Modell anbieten konnte, das attraktiver ist als das kapitalistische System.“
Um so eines zu entwickeln, müsse man neue Wege gehen, sagte er und warnte: „Jede
Fotos: Gerhard Dilger, #hackeandoaflip, Verena Glass