Nirgendwo wurde der 150. Geburtstag von Rosa Luxemburg begeisterter gefeiert als in Lateinamerika. Eine neue Generation von Aktivist:innen entdeckt hier die Revolutionärin für sich.
Gerhard Dilger*, WOZ
Rosa Luxemburg streitet mit Manuel Ugarte: Die polnisch-jüdische Revolutionärin und der argentinische Antiimperialist debattieren über Reform und Revolution, über Liebe und Nationalismus.
Ein junger Frager und Zweifler mit Notebook und gelber Pickelhaube kommentiert den interkulturellen Austausch.
Luxemburg und Ugarte, so viel ist belegt, haben an den internationalen Sozialistenkongressen 1904 in Amsterdam und 1907 in Stuttgart teilgenommen. Am 5. März nun, zum 150. Geburtstag Luxemburgs, war das Teatro Calibán in Buenos Aires ihre Bühne. «Das Verhalten der Vögel», so heißt das Stück der argentinischen Theaterlegende Norman Briski, geht in seine dritte Saison – so es die Pandemie erlaubt, jeden Freitagabend bis Ende April.
Gespielt wird Rosa Luxemburg von Eliana Wassermann, im Hauptberuf Menschenrechtsanwältin. «Rosa legt die Latte sehr hoch, sie denkt die Revolution im Alltag», sagt Wassermann. «Sie hat sich nicht mit dem Kapitalismus abgefunden. Sie ist hochaktuell und nötiger denn je, heute wäre sie sicher Veganerin. Entweder siegt Rosa, oder der Planet explodiert.»
Vorbild für die Landlosen
In Lateinamerika ist Rosa Luxemburg so präsent wie nirgendwo sonst auf der Welt. Der Kunstkritiker Mário Pedrosa, im Trotzkismus großgeworden und 1980 Mitglied Nummer eins von Lula da Silvas unorthodoxer Arbeiterpartei PT, entdeckte sie bereits nach dem Zweiten Weltkrieg für Brasilien. Im Gefolge der Student:innenbewegungen ab 1968 wurde Luxemburg vielfach ins Spanische übersetzt. Heute findet man in den Buchläden von Mexiko, São Paulo oder Buenos Aires unendlich mehr Bücher von und über Luxemburg als in jeder Hauptstadt Europas. Von «Red Rosa», der biografischen Graphic Novel von Kate Evans, sind die südamerikanischen Ausgaben vor der deutschen erschienen.
Die jüngste Rosa-Renaissance hängt eng mit dem Erstarken der neusten sozialen Bewegungen zusammen. Im Tagungszentrum Florestan Fernandes der Landlosenbewegung MST bei São Paulo ist der größte Saal nach ihr benannt. Zwar steht die MST in ihren Organisationsprinzipien Lenin näher als Luxemburg, doch so verbohrt wie der preußische Kommunismus war der brasilianische nie. Vor Jahren sorgte in ganz Brasilien eine von der MST produzierte Radionovela über das Leben Rosa Luxemburgs für Furore: von den Träumen ihrer Kindheit im südostpolnischen Zamosc bis zu ihrem blutigen Ende 1919 im revolutionären Berlin. In der Kaderschmiede der Landlosen ist die rote Rosa fester Bestandteil der Grundausbildung – undogmatische Marxist:nnen wie der austrobrasilianische Ökosozialist Michael Löwy aus Paris oder Isabel Loureiro aus São Paulo dozieren dort regelmäßig.
Die widerborstige Marxistin
Loureiro lernte sogar Deutsch, um über Luxemburg promovieren zu können. Über 30 Jahre lang hat sie unermüdlich und kreativ das Werk ihres intellektuellen Vorbilds propagiert, Hunderte Youtube-Videos zeugen davon. Luxemburg als Ökosozialistin avant la lettre zu bezeichnen, sei nicht übertrieben, meint Loureiro: «Ihre Verbindung mit der Natur in den Gefängnisbriefen ist ein wirklich konstitutiver Charakterzug, ohne den kann man sie nicht verstehen.» Heute stünde sie auf der Seite all jener, «die das harmonische Zusammenleben zwischen Mensch und Natur verteidigen, jener, die die Vorstellung ablehnen, dass der Mensch das Recht hat, die Natur als Ressource um des Profits willen auszubeuten.»
Das argentinische Kulturmagazin Ñ wiederum feiert Rosa Luxemburg als Vorläuferin des Ökofeminismus. Eine Feministin im heutigen Wortsinn war sie allerdings nicht, ganz im Gegensatz zu ihrer Freundin Clara Zetkin. Über bürgerliche Frauenrechtlerinnen machte sie sich lustig, Klassengegensätze überstrahlten für die widerborstige Marxistin alles andere. Doch ihre unabhängige Lebensführung und ihre Diskussionen auf Augenhöhe mit den Patriarchen des europäischen Sozialismus vor dem Zweiten Weltkrieg werden auch in Lateinamerika bewundert.
Am Río de la Plata oder auf den Straßen Santiagos, des Epizentrums einer bunten, ausdauernden Revolte gegen Chiles Neoliberalismus samt Pinochet-Verfassung, ist Rosa Luxemburg lebendiger denn je. Ihre Überlegungen zu «Massenstreik, Partei und Gewerkschaften» (1906) lesen sich im Kontext der jüngsten Massendemonstrationen erstaunlich aktuell, ebenso ihre weit über Marx hinausweisenden und daher von ihren Genossen scharf kritisierten Imperialismusanalysen in «Die Akkumulation des Kapitals» (1913) oder «Antikritik» (1915). Dort finden sich neben spröden volkswirtschaftlichen Kapiteln sehr plastische Passagen über die Ausplünderung des kolonialen Südens und die Vernichtung indigener Völker.
Vom argentinischen Politologen Hernán Ouviña stammt der einführende Essay «Rosa Luxemburg und die Neuerfindung der Politik. Ein Blick aus Lateinamerika». Das Buch erscheint nun in einer Neuauflage; auch in Mexiko und Kolumbien, in Chile und Brasilien wurde es schon gedruckt. Ouviña liest Luxemburg als Vorläuferin der antikolonialen, ökologischen, feministischen und demokratischen Linken von heute. Ihre Ermordung durch präfaschistische Paramilitärs bringt er mit der tödlichen, alltäglichen Gewalt gegen Frauen und Aktivist:innen in Verbindung.
Lernen von Rosa
Am 6. März hatte Luxemburg ihren großen Tag auf dem Internationalen Theaterfestival von Buenos Aires. Unter den Baumriesen im restlos besetzten Garten des Sívori-Museums rezitierte die Schauspielerin Alejandra Arístegui ihr neues Werk «Rosa Luxemburgo. Constelación Sur» zu einem Klangteppich des 21. Jahrhunderts.
Zuvor hatte die Rapperin Karen Pastrana mit ihrer artistischen Begleittruppe Superpoderosas Crew ihren umjubelten Auftritt – im Wechsel mit einer szenischen Lesung von neu übersetzten Briefen Luxemburgs an ihre Freundinnen und vier Liebhaber unter dem Motto «Rosas Revolutionen». «Rosa ist unsere Komplizin», sagt Pastrana. «Mit ihren Freundinnen teilt Luxemburg ihre Ängste und Schmerzen, sie ist wie wir. Wir wissen, wie wichtig es ist, zusammenzustehen.»
Buenos Aires ist die Hochburg eines neuen gender-, generations- und schichtenübergreifenden Feminismus. Eine sehr junge Massenbewegung hat jüngst nach jahrelanger Mobilisierung endlich ein vernünftiges Abtreibungsrecht erstritten, Chile will nachziehen. Claudia Korol, die sich den Auftritt ausgedacht hat, organisiert seit langem Luxemburg-Lesekreise. «Wir Feministinnen wissen: Das Private ist politisch», betont die Volkspädagogin. Ihre öffentlichen Texte habe Luxemburg so verfasst, dass sie die ArbeiterInnen verstehen konnten: «In ihren sehr intimen Briefen knetet und formt sie Ideen, deren Synthese sich dann oft in den präzise formulierten theoretischen Schriften wiederfindet.»
Und wo liegt bei all dem die Aktualität für die sozialen Kämpfe in Lateinamerika? «Wir können von Rosas Methode lernen», sagt Korol. «Das Dilemma ‹Sozialismus oder Barbarei› hat sie im ganz konkreten Kontext ihrer Zeit entwickelt. Jetzt sind wir dran.»
*Gerhard Dilger war Korrespondent der WOZ, der taz und von Le Monde diplomatique in Porto Alegre, bevor er 2012 zur Rosa-Luxemburg-Stiftung wechselte. Nach sechs Jahren in São Paulo leitet er seit zwei Jahren das Regionalbüro in Buenos Aires.
Fotos: Lulet Noseda Dombrecht, Lucía Fernández Ares, Gerhard Dilger