Chance zur Aufarbeitung

Der Abschlussbericht der Nationalen Wahrheitskommission bringt wenig neue Fakten für die Aufklärung der Diktaturverbrechen, aber er setzt ein politisches Zeichen für Aufarbeitung und Gerechtigkeit.
Von Sara Fremberg

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Denkmal Tortura Nunca Mais in Recife, das erste (1993) für die Opfer der Diktatur in Brasilien (Foto: Sara Fremberg)

«Es ist leicht zu sagen, dass wir im Namen der nationalen Versöhnung alles vergessen müssen, während es so viele Familien gibt, die ihre Kinder suchen, ohne zu wissen, ob sie am Leben sind oder wo sie sind, ob sie tot sind und auf welchen Friedhöfen sie liegen. Wir wollen keine Rache, sondern Gerechtigkeit.» (Rosalina Santa Cruz, deren Bruder Fernando 1974 verhaftet wurde und seitdem «verschwunden» ist)
Der Abschlussbericht, den die Nationale Wahrheitskommission Präsidentin Dilma Rousseff heute – am Tag der Menschenrechte – übergeben wird, ist ein Meilenstein in der Aufarbeitung der brutalen Menschenrechtsverletzungen, die während der Diktatur (1964–85) vom brasilianischen Staat und seinen zivilen Kollaborateuren begangen wurden.
Auf Polizeirevieren, in Krankenhäusern und in den Folterkammern und «Todeshäusern» der Geheimpolizeien quälten die Militärs etwa 50.000 Menschen, die sie aufgrund ihrer politischen Überzeugungen als Feinde der «inneren Sicherheit» identifiziert hatten. Mehr als 420 von ihnen wurden, so erkennt der Staat seit heute offiziell an, dabei getötet, etwa 200 gelten nach wie vor als «verschwunden».
Auf dem Land verfolgten und töteten Privatmilizen im Auftrag von Großgrundbesitzern tausende camponeses, brasilianische Landarbeiter*innen und Kleinbauern, wenn sich diese der herrschenden feudalistischen Ordnung widersetzten. Ganze indigene Völker wurden von Siedlern und Unternehmen ausgelöscht, weil sie wirtschaftlichen Interessen im Weg standen wie z. B. dem Bau der Überlandstraße Transamazônica.
Nach dem Ende der Diktatur reagierte der neue demokratische Staat mit Verdrängung oder Ignoranz und ging im besten Fall defensiv auf die Forderungen der zivilgesellschaftlicher Gruppen und Organisationen ein, die versuchten, die Lücke zu füllen, die der Staat in der historischen Aufarbeitung dieser Verbrechen hinterließ. Wie wenig der diktatoriale Staat und insbesondere die Militärs auch politisch an Macht verloren hatten, wurde 2009 deutlich.
Als der erste Entwurf für das Gesetz zu einer Nationalen Wahrheitskommission bekannt wurde, erzwangen der damalige Verteidigungsminister und die Chefs der drei Streitkräfte mit Rücktrittsdrohungen eine Schwächung des geplanten Mandats. Der Untersuchungszeitraum wurde von 1964-85 auf 1946-88 erweitert, und inhaltlich strich man den «Kontext der politischen Repression» der zu untersuchenden Menschenrechtsverletzungen.
Nach ihrer Einsetzung im Mai 2012 fokussierte die Kommission ihre Arbeit zwar trotzdem auf die politische Repression der Jahre 1961-85, doch die Ergebnisse, die die sieben Mitglieder nach zweieinhalb Jahren vorweisen können, sind ernüchternd. In vielen Fällen gelang es ihnen nicht, wirklich neue Erkenntnisse vorzulegen. Viele Fälle politischer Verfolgung  wurden seit dem Ende der Diktatur von Opferverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen akribisch aufgelistet und nachgezeichnet. Ihre endgültige Aufklärung war jedoch oft nicht möglich, da die Archive der Militärs, mit Akten, die die Geschehnisse bürokratisch detailliert dokumentieren, zum Großteil nicht zugänglich sind.
Groß war daher die Hoffnung, dass eine staatliche, gesetzlich legitimierte Wahrheitskommission es schaffen würde, das Schweigen der Militärs zu brechen. Doch die Kommission kapitulierte: Vorgeladene Militärs ließen sich stolz und vor laufenden Kameras über ihre brutalen Verbrechen aus, wiederholten die Lügen der Diktatur oder hüllten sich weiterhin in Schweigen. Im Schutz des Amnestiegesetzes hielten sie Akten und Beweismittel bewusst zurück und verweigerten jede öffentliche Stellungnahme zu den Zwischenergebnissen der Kommission.
Ein entmutigendes Zeichen für die Angehörigen, aber auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen und die vielen staatlichen und nicht-staatlichen Wahrheitskommissionen, die landesweit in der Aufarbeitung aktiv sind. Wichtig ist daher, dass die Kommission in ihrem Bericht diese Probleme thematisiert, damit zukünftige oder bereits existierende Institutionen besser vom Staat unterstützt werden und die Wahrheit nicht weiterhin politisches Unterpfand der Täter bleibt.
Die politisch bedeutsamste Aussage des Berichts, die die Kommission bereits im November 2014 öffentlich machte, ist ihr klares Bekenntnis zur Notwendigkeit einer juristischen Aufarbeitung der untersuchten Menschenrechtsverletzungen und damit die Eröffnung von Strafprozessen gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen. Doch so wichtig diese Empfehlung von einer staatlichen Institution ist, so wenig liegt ihre Umsetzung in der Hand der Kommission.
Die Nationale Wahrheitskommission hat im Rahmen ihres sehr engen Mandats Menschenrechtsverletzungen untersucht und dokumentiert, von denen ein großer Teil der brasilianischen Bevölkerung nichts wusste oder nichts wissen wollte. Doch darüber, ob dieser Bericht den Anfang oder das Ende der Aufarbeitung der brasilianischen Diktatur darstellt, entscheidet nicht die Kommission, sondern der Staat – und die brasilianische Gesellschaft.
Wird der Staat tatsächlich Prozesse gegen Folterer und Mörder einleiten und ihre Bestrafung durchsetzen? Wie energisch, umfassend und kurzfristig werden der Bericht und seine Ergebnisse in nationale Schullehrpläne oder Gedenkstättenpolitiken integriert, um ein kollektives Bewusstsein für das vergangene Unrecht zu schaffen und vor allem ein Geschichtsbild jener Zeit zu entwickeln, das die bis heute kolportierten Mythen der brasilianischen Diktatur als Lügen entlarvt?
Nur so würden neue Generationen dazu befähigt, die anstehenden Aufarbeitungsprozesse selbstbewusst zu begleiten und fortzuführen und vergangene Menschenrechtsverletzungen als solche zu identifizieren und ihre Wiederholung zu verhindern.
Und wie bereit ist die brasilianische Mehrheitsgesellschaft, sich nicht nur mit den Opfern politischer Verfolgung zu solidarisieren, sondern auch die Aufklärung der Verbrechen an den Kleinbäuer*innen und Indigenen voranzutreiben, die aufgrund der komplizierten Beweislage eine besondere Herausforderung darstellt? Die detaillierte Aufarbeitung und Anerkennung der von Großgrundbesitzern, Siedlern, Unternehmen und anderen zivilen Gruppen begangenen Menschenrechtsverletzungen und damit der zivilen Kollaboration mit den Militärs wäre ein weiterer wichtiger Schritt der  brasilianischen Vergangenheitsbewältigung. Sie bietet die Chance,  menschenverachtende feudalistische Machtstrukturen, wie sie heute noch in vielen ländlichen Gegenden Brasiliens herrschen, zu hinterfragen und aufzubrechen, und weitere Verbrechen zu verhindern.

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