Von Achim Wahl, amerika21*
Präsidentin Dilma Rousseff setzte seit ihrem Amtsantritt im Januar 2011 bis zu ihrer Wiederwahl im Oktober 2014 im Wesentlichen die Politik von Inácio Lula da Silva fort, die mit Einschränkungen als postneoliberal bezeichnet wird. Allerdings übernahm sie die Regierungsgeschäfte im Vergleich zur Präsidentschaft Lulas (2003 bis 2010) in einer sowohl national wie auch international veränderten Situation. In ihrer zweiten Amtszeit steht die Präsidentin vor schwierig zu lösenden Problemen.
Brasiliens Wirtschaft in der Krise
Die länger anhaltende Phase der wirtschaftlichen Depression der Weltwirtschaft erfasste Brasilien. Lag das Wirtschaftswachstum des Landes im Jahr 2010 noch bei 7,5 Prozent, so wies das Bruttoinlandsprodukt nach Angaben des Brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE) 2014 nur noch ein Wachstum von 0,1 Prozent auf. Nach Untersuchungen der brasilianischen Zentralbank wird in den folgenden zwei Jahren ein Rückgang des BIP erwartet, der, hervorgerufen durch äußere Faktoren, auch durch die Einschränkungen des Binnenmarktes beeinflusst wird. Von diesem Rückgang werden alle wirtschaftlichen Bereiche betroffen sein: 1,4 Prozent bis 2,3 Prozent weniger Wachstum im industriellen Sektor, 1,3 Prozent weniger im landwirtschaftlichen und 0,6 Prozent weniger im Dienstleistungssektor.
Wenig optimistisch sind die Aussichten entsprechend für die Menschen: Die Inflationsrate wird 2015 voraussichtlich die Marke von 6,5 Prozent erreichen und 2016 auf 12,0 Prozent ansteigen. Wenig stabil erweist sich demzufolge auch die nationale Währung, der Real, der Anfang 2015 zum US-Dollar weiter abgewertet wurde (ein Dollar zu 3,06 Real, März 2015). Die Abwertung des Real als Mittel gegen die Inflationstendenz wird nach Ansicht von Ökonomen strukturelle Schäden verursachen, die vor allem den industriellen Bereich betreffen werden.
Die Steigerung der Exporte um 2,4 Prozent wird vornehmlich vom Agrar- und vom extraktiven Sektor getragen. Dies ist ein Indiz für das Zurückbleiben der nationalen Industrie. Fehlende Investitionen in nationale Industriezweige führen dazu, dass Brasilien zum Beispiel Rohleder ins Ausland verkauft und von dort, unter anderem aus Hongkong, fertige Schuhe importiert. Brasilianische Waren sind teurer als chinesische Importe. Große nationale Unternehmen wie Gerdau oder Camargo Correia wachsen im Ausland schneller als im Heimatland. Brasilianische Unternehmen verlagern ihre Produktion ins Ausland, wo sie billigere Arbeitskräfte finden.
Es verstärkt sich die Tendenz, dass Unternehmen, Banken und Privatleute Schuldtitel des Staates aufkaufen, um damit höhere Gewinne zu erzielen als mit Investitionen in die Realökonomie. Brasilianische Kapitaleinlagen in Steueroasen betragen nach Angaben der britischen Wochenmagazins The Economist etwa 520 Milliarden US-Dollar, die Finanzspekulationen dienen. Diese Summe entspricht 25 Prozent des brasilianischen BIP. Das Land verliert jährlich 100 Milliarden US-Dollar, die illegal ins Ausland verbracht werden.
Auf der Grundlage von durch produktive Arbeit erzielter Einkommen, die 48 Prozent des BIP ausmachen, leben 90 Prozent der Brasilianer mit einem monatlichen Einkommen von fünf Mindesteinkommen (Mindestlohn gegenwärtig bei 788 Real), das heißt mit einem monatlichen Einkommen zwischen 3.000 bis 4.500 Real. Dagegen zählt das Land 46 Milliardäre und circa 10.300 Millionäre. Die Wege zur Konzentration des Reichtums führen über das regressive Steuersystem, das die Mehrheit der Bevölkerung stärker belastet als Reiche, die hohen staatlich festgelegten Zinssätze und das Kreditsystem, das Zwischenhändlern Gewinne von zehn Prozent zum gewährten Kredit ermöglicht. Produktive Arbeit, der die Mehrheit der Bevölkerung nachgeht, ist dagegen stark unterbewertet, da das Finanzsystem Unternehmen, Banken und Privatleuten hohe Gewinne sichert, die Mehrheit der Menschen sich mit hohen Kreditzinsen verschuldet und die Binnennachfrage behindert wird.
Der weltweite Prozess der Finanzialisierung hat auch in Brasilien das vorherrschende Finanzregime durchgesetzt. Eine tiefere Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich und die Schwächung der brasilianischen Ökonomie sind die Folge.
Widersprüchliche Wirtschaftspolitik der Regierung Rousseff
Die Wirtschaftspolitik in der ersten Amtszeit von Rousseff (2011-2014) zielte darauf ab, die Investitionsrate durch die Reduzierung der Kapitalkosten zu erhöhen und die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Produktion auf den Auslandsmärkten zu sichern. Damit sollte den Tendenzen der nichtproduktiven Verwendung von Kapital entgegengesteuert und die Investition der Ressourcen in produktive Aktivitäten stimuliert werden. Andere Maßnahmen sollten eine Reduzierung von Kosten für nationale Unternehmen bewirken. Zusammengenommen wurde Kurs auf weiteres wirtschaftliches Wachstum und Reduzierung der sozialen Ungleichheiten genommen. Bei genauer Betrachtung ging es vor allem darum, der Aneignung von überhöhten Gewinnen durch verschiedene Sektoren entgegenzuwirken. Dazu wurden verschiedene Maßnahmen eingeleitet. Im August 2011 reduzierte das Comité de Política Monetária do Banco Central (Copom) die Zinsrate von 12,5 auf 12,0 Prozent pro Jahr. Weitere Reduzierungen wurden vorgenommen, sodass sie im Oktober 2012 bei 7,25 Prozent lag und auf diesem Niveau bis April 2013 verblieb.
Jedoch wurde das Ziel nicht erreicht, die Investitionstätigkeit zu fördern und die nationale Industrie zu stärken. Ein Grund dafür war die nachlassende Nachfrage und der Preisverfall für Rohstoffe, hervorgerufen durch verlangsamtes Wachstum der chinesischen Wirtschaft mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Nachfrage nach brasilianischen Erzeugnissen auf dem Weltmarkt und die Gewinne brasilianischer Unternehmen. Für diese Unternehmen war das die Begründung für reduzierte Investitionen, sodass die Investitionstätigkeit um 8,2 Prozent zurückging. Nach Angaben des Statistikinstituts IBGE lag die Investitionsrate zwischen 2006 und 2010 bei 20,6 Prozent des BIB und sank im Jahr 2014 auf 19,7 Prozent. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass diese Sektoren begannen, ihre Entscheidungen über Investitionen als politisches Instrument zu nutzen. Die Regierung Rousseff hatte mit der veränderten Zinspolitik, den Maßnahmen zur Kontrolle über erwirtschaftete Gewinne und der sozialen Orientierung ihrer Politik Interessen mächtiger Wirtschaftskreise berührt, die diese mit der Verweigerung von Investitionen beantworteten.
Brasilien durchlebt durch fehlende Investitionen in führende Industriezweige und in die soziale Infrastruktur der Großstädte eine sichtbare Krise: fehlender Wohnraum, ausbleibende Agrarreform und mangelhafte Versorgung der Bevölkerung mit Wasser. Besonders im Großraum São Paulo kam es 2014 zunehmend zu Konflikten um die Versorgung der Menschen mit Wasser.
Mit der Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums verringerten sich die steuerlichen Einnahmen des Staates, was sich negativ auf die öffentlichen Ausgaben auswirkte. Mit der Abwertung des Real wuchs die Gefahr zunehmender Inflation, was die Regierung zwang, ab April 2013 die Zinssätze wieder anzuheben. Des weiteren reagierte die Politik mit der Reduzierung der öffentlichen Ausgaben, d.h. der Sozialprogramme. Austerität bedeutet für Brasilien Blockierung der sozialen Fortschritte und ein Fortbestehen sozialer Konflikte. Mehr Austeritätspolitik bedeutet Absenkung der Löhne und Gehälter und Anwachsen von Arbeitslosigkeit. Neoliberale Kräfte zeigten sich schon im Wahlkampf unzufrieden mit den verbesserten Löhnen und Gehältern der Arbeitenden.
Die Wahl 2014 – Ausdruck der veränderten Lage
Das Wahlergebnis vom Oktober 2014 spiegelt die veränderten Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft und den Rückgang des Einflusses des Partido dos Trabalhadores (PT) in bestimmten Bevölkerungskreisen. Mit nur 51,64 Prozent konnte Präsidentin Rousseff gegen den Kandidaten des Partido Socialdemocrático Brasileiro (PSDB), Aécio Neves, gewinnen. Verluste musste die PT besonders in den großen Städten Brasiliens hinnehmen, in denen inzwischen 80 Prozent der Bevölkerung leben. Für die PT war es das schlechteste Wahlergebnis seit dem Jahr 2002.
Diese Veränderungen fanden ihren Niederschlag in der Zusammensetzung des neuen Abgeordnetenhauses. Die PT verlor 18 Sitze, ihr Koalitionspartner Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB), eine Zentrumspartei, büßte weitere fünf Parlamentssitze ein. Gemeinsam verfügen beide Parteien mit 136 Sitzen noch über die relative Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Zugewinne verzeichnete die Oppositionspartei PSDB, die mit einem Plus von elf Sitzen nun mit 55 Abgeordneten im Kongress vertreten ist. Alle Oppositionsparteien, angeführt von der PSDB, verfügen zusammen über 119 Abgeordnetensitze.
Durch die größere Zahl der vertretenen Parteien – inzwischen sind es 28 – hat sich die Zusammensetzung des Hauses verkompliziert. Nach offiziellen Angaben sind von 513 Abgeordneten 248 Millionäre. Gewählt wurden Abgeordnete, die sowohl religiöse Fundamentalisten wie auch die sogenannte Ruralisten, also Großagrarier beziehungsweise Latifundisten vertreten. Das neue Abgeordnetenhaus gilt als das konservativste seit 1964. Es zeichnet sich ziemlich deutlich die konservative Ausrichtung des Abgeordnetenhauses ab, die zusammenhängt mit der Schwäche der PT und der Krise der Regierungskoalition PT-PMDB.
In der Regierungskoalition hat sich zudem die Bedeutung der PMDB erhöht. Deutlich gestärkt wurden Kräfte in dieser Partei, die das knappe Wahlergebnis Rousseffs auszunutzen versuchen. Sie forderten eine Erhöhung der Anzahl der Ministerposten, um die «Regierung zu retten». Der hauptsächliche Koalitionspartner der PT ist gleichzeitig ihr direkter Widerpart, denn im Abgeordnetenhaus und im Senat setzten sich führende Vertreter der PMDB als deren Präsidenten durch: Eduardo Cunha, ein konservativer Politiker und Lobbyist des Gesundheitssektors, als Präsident des Abgeordnetenhauses und Renan Calheiros als Präsident des Senats, obwohl eine Volksinitiative seinen Rücktritt wegen Korruption verlangte.
Noch Ende 2014 ernannte Rousseff den Chicago Boy Joaquim Levy zum Finanzminister und die Großgrundbesitzerin Kátia Abreu (PMDB) zur Ministerin für Landwirtschaft, Viehzucht und Versorgung. Levy ist ein Repräsentant der neoliberalen Schule, war im Internationalen Währungsfonds und in der großen Privatbank Bradesco tätig. Abreu ist langjährige Präsidentin der Konföderation für Landwirtschaft und Viehzucht mit mehr als 10.000 Farmern. Abreu vertritt offen die Interessen des Agrobusiness und lehnt eine Agrarreform ab.
Die PT verlor im Abgeordnetenhaus wesentliche Positionen, sie ist nicht mehr im Direktorat der Kammer und in zwei wichtigen Kommissionen, der für Verfassung und Justiz und der für Finanzen und Besteuerung, vertreten. Die Regierung Rousseff ist damit eine Regierung des moderaten Zentrums, in der sowohl linke Kräfte wie auch stark nach rechts tendierende Kräfte vertreten sind. Verloren hat die Rousseff-Regierung an öffentlichem Ansehen. Als Exekutive scheint sie mehr und mehr von der Legislative, dem Abgeordnetenhaus und dem Senat, abzuhängen. Eine Ausweitung des Kabinetts auf 39 Ministerien erschwert die Regierungstätigkeit, zumal sich auch mit der Besetzung der Minister die PMDB noch weiter durchgesetzt hat. In dieser Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses sind Mehrheiten zur Durchsetzung neoliberaler Projekte möglich.
Neoliberalismus und Ende des neodesarrollismo?
Entgegen den im Wahlkampf von Rousseff vertretenen Positionen zur Weiterführung der Sozialpolitik und Stärkung der nationalen Industrie wurde mit der Ernennung dieser Minister die Politik des neodesarrollismo (1) infrage gestellt, das heißt eine vom Staat bestimmte und orientierte Wirtschaftspolitik mit Schwerpunkt auf industrielle Entwicklung, die Produktion von Kapitalgütern, die den privaten Sektor direkt einbezieht und mit Nachhaltigkeit einen neuen Zyklus wirtschaftlicher Entwicklung einleitet. Das schließt ein, Ressourcen bereitzuhaben, mit denen wesentliche soziale Veränderungen für breite Teile der Bevölkerung erzielt werden können. Ausgerichtet ist diese Politik auf die Herstellung einer neuen Beziehung Staat–Gesellschaft mit dem Ziel, das Zusammenwirken beider zu verbessern und eine Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft zu erreichen.
Mit Levy als neuem Finanzminister setzten sich nun die Kräfte durch, die schon vor der Wahl 2014 eine Wende zur Austeritätspolitik gefordert hatten. Levy übernahm es, die Wende zur «fiskalischen Anpassung» (ajuste fiscal) einzuleiten. Konkret heißt das Erhöhung der öffentlichen Zinsen und Kürzung der Sozialprogramme. Die Elemente dieser Austeritätspolitik sind:
- erneute Erhöhung der Zinsrate auf 13,25 Prozent. Damit ist Brasilien Negativweltmeister in Sachen Zinsen;
- Kürzung staatlicher Ausgaben und Subsidien in einer ersten Runde von circa 111 Milliarden Real, um die für 2015 festgelegte Marke des Primärüberschusses – das heißt Staatseinnahmen minus Staatsausgaben ohne Zinszahlungen – von 1,2 Prozent des BIP einzuhalten;
- Kürzung der Arbeitslosenunterstützung und Lohnzuzahlungen. Konsequenz: bei Löhnen und Gehältern ca. 1,5 Prozent weniger Einkommen pro Kopf der arbeitenden Bevölkerung, Kürzung der Witwenrenten um 18 Milliarden Real;
- Erhöhung der Steuern auf Importwaren, einschließlich kosmetischer Waren mit einem Gewinn von 20,6 Milliarden Real;
- Reduzierung der Ausgaben für Pensionsfonds um 5,35 Milliarden Real;
- Blockade des Programa de Aceleração do Crescimento (PAC) für im Rahmen des Programms realisierte und geplante Baumaßnahmen, das heißt Kürzungen bei öffentlichen Investitionen und Einschränkung der Kreditvergabe durch die Banco Nacional de Desenvolvimento Económico e Social (BNDES)
- Erhöhung der Steuern in Industrie und Handel von 1,0 auf 2,5 Prozent und im Dienstleistungsbereich und der Bauwirtschaft von 2,0 auf 4,5 Prozent
- Veränderungen in der Arbeitsgesetzgebung zuungunsten der Arbeitenden im Rahmen der Medidas Provisórias 664 e 665 (Präsidialdekrete 664 und 665), die eine Absage an eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 40 Stunden ohne Lohneinbuße vorsehen und neue Regeln zum Outsourcing beinhalten.
- Veränderungen in der Struktur des Erdölunternehmens Petrobras und anderer staatlicher Unternehmen, was bei Petrobras den Abbau der Produktionskette bedeutet.
Mit diesen Maßnahmen hat sich Präsidentin Rousseff den Forderungen der neoliberalen Kräfte um Minister Levy untergeordnet. Die Erhöhung der öffentlichen Zinsen mit sozialen Kürzungen und der öffentlichen Investitionen bringt Brasilien in einen neuen Teufelskreis, in dem die wirtschaftliche Dynamik wesentlich reduziert wird. Vorteile ergeben sich daraus für den Finanzsektor und die 20.000 reichsten Familien.
Nach Angaben der Zentralbank für März 2015 hat Brasilien öffentliche Schulden in Höhe von 33 Prozent des BIP, das heißt 2,44 Billionen Real. Mit der Erhöhung der Zinsrate auf 13,25 Prozent werden die Schulden bis Ende 2015 auf 35,3 Prozent des BIP ansteigen.
Das Land befindet sich in einer völlig neuen Situation, da die verschlechterte wirtschaftliche Lage Präsidentin Rousseff zwang, ihre zweite Amtszeit mit einer 180-Grad-Wendung zu beginnen. Hinzu kommen Fehlentwicklungen wie zum Beispiel die Subventionierung der Verbraucherpreise für Benzin und für Elektroenergie oder großzügige Kredite der BNDES an große Unternehmen (30 Milliarden Real 2014). Diese Fehler erwiesen sich als Schwäche ihrer Wirtschaftspolitik.
Der Handlungsspielraum der Präsidentin ist ein halbes Jahr nach Beginn ihrer zweiten Amtszeit stark begrenzt. Sie ist Gefangene der zuletzt begangenen Fehler. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation ist der Zyklus des Wachstums beendet, das heißt, Brasilien durchlebt eine Phase der Stagnation im Rahmen der globalen kapitalistischen Krise. Die politische Dimension der Krise äußert sich in der Entscheidung der internen Bourgeoisie, die Allianz mit der PT-Regierung aufzukündigen und die sogenannte Frente Desenvolvimentista (Entwicklungsfront) zu verlassen.
Damit reagierten Sektoren der Bourgeoisie auf Rousseffs Wirtschaftspolitik und stellen die Allianz zwischen der PT, den mit ihr verbundenen politischen Kräften und Sektoren der internen Bourgeoisie infrage. Vor sich ging eine Neuformierung der Bourgeoisie, die eine Annäherung oder gar Fusion zwischen Industriekapital und Finanzkapital widerspiegelt. Es erfolgte eine Verschiebungen innerhalb der brasilianischen Bourgeoisie, die eine stärkere Orientierung auf das internationale Finanzkapital mit sich brachte. Kapitalfraktionen sehen ihre Interessen berührt und drängen darauf, eine neoliberale Austeritätspolitik durchzusetzen. Sie richten sich gegen die Reduzierung der Basiszinsen, gegen die Bevorteilung öffentlicher Banken und gegen die gesetzlichen Regelungen der Exploration der kürzlich entdeckten Erdölvorkommen. Diese Pre-Sal-Ölvorkommen befinden sich in einer Meerestiefe von ca. 7000 Metern unter einer dicken Salzschicht an der Atlantikküste Brasiliens.
Offensive der neoliberalen Opposition
Rousseff versuchte, die Interessen einiger Sektoren der Bourgeoisie in einer Situation zunehmender wirtschaftlicher Probleme zu beschneiden. Schon vor der Wahl 2014 kündigte sich eine Tendenz zunehmender Feindseligkeiten dieser Sektoren an, unterstützt von Teilen der oberen Mittelklasse. Erstes Anzeichen der Ablehnung der Politik Rousseffs war die erzwungene Ablösung des Finanzministers Guido Mantega, eines Exponenten des neodesarrollismo. Im Jahr 2013 verließ der Präsident des Partido Socialista Brasileiro (PSB), Eduardo Campos, die Koalition der PT-Regierung. Er war 2004 von Präsident Lula zum Minister für Wissenschaft und Technologie berufen worden. Während des Wahlkampfs kam Campos im August 2014 durch einen Flugzeugabsturz ums Leben.
Innerhalb der Koalitionspartei PMDB wurden Stimmen gegen Rousseff laut, und die Ereignisse und Mobilisierungen des Juni 2013 waren Anzeichen wachsender Unzufriedenheit, die besonders in Teilen der Mittelklasse zum Ausdruck kamen. Die wirtschaftliche Lage führte zu einem relativen Rückgang ihres Lebensstandards. Sie fühlten sich im Vergleich zu den durch die Sozialprogramme der Regierung geförderten unteren Schichten benachteiligt. Rechten Medien gelang es, sowohl im Juni 2013 als auch in nachfolgenden öffentlichen Protesten diese Kräfte als Druckmittel gegen die PT-Regierung und Präsidentin Rousseff zu instrumentalisieren.
Legitime soziale Forderungen, die von der Regierung vernachlässigt wurden, wurden aufgegriffen und von den rechten Medien genutzt, um die Mittelklasse gegen die Regierung zu positionieren. Anfang 2015 wandelte sich der Forderungskatalog: Der Kampf gegen die Korruption der PT wurde propagiert, Forderungen nach einem Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff wurden erhoben, und laute Rufe nach einem Militärputsch ertönten.
Mit zunehmender aggressiver Haltung dieser Sektoren und der oberen Mittelklasse wurde eine restaurative Offensive eingeleitet. Beispielhaft sind die Kampagne der Medien gegen den Einsatz kubanischer Ärzte im Gesundheitswesen, die Ausnutzung der Korruptionsfälle im halbstaatlichen Erdölunternehmen Petrobras (2) und die Proteste gegen das Gesetz zur Durchführung von Versteigerungen der neu erschlossenen Erdölvorkommen.
Ausgelöst durch Enthüllungen ehemaliger Direktoren der Petrobras, nahm die Bundespolizei Untersuchungen zu den Korruptionsfällen auf. Da sie an einer Tankstelle aufgedeckt wurden, hieß die Aktion «Lava-Jato» (Autowäsche). Beteiligt sind Bauunternehmen, leitende Angestellte der Petrobras und Politiker, darunter Ex-Minister, Minister, Parlamentarier der Opposition und der Regierung. Diese Manipulationen begannen schon vor 2002 zu Zeiten des Präsidenten Cardoso. Verhaftet wurden 26 Personen, darunter auch der Schatzmeister der PT, João Vaccari. Auch die Namen von Beteiligten wurden inzwischen veröffentlicht, darunter führende Vertreter der PSDB, der PT wie auch der PMDB. Ihre Kampagne richten die Medien aber im Wesentlichen gegen die PT und Rousseff, nutzen deren defensive Haltung und führen diese Gegenoffensive in breiter Öffentlichkeit aus.
Einstweiliger Höhepunkt dieser Offensive waren die Aktionen der Opposition am 15. März 2015. Zur Zeit einer Rede der Präsidentin im TV rief die Opposition zum panelaço (Kochtopftrommeln) auf, an dem sich vor allem die obere Mittelklasse in begüterten Stadtteilen der Großstädte beteiligte. (3) Diese Aktion ließ sich nur in die Richtung deuten, dass die Beteiligten nichts von der Regierung hören und nicht mit Menschen zusammenleben wollen, die die PT-Regierung unterstützen.
Gleichzeitig mobilisierte die Opposition zu Straßenprotesten, an denen sich circa 1,5 Millionen Menschen beteiligten. Während dieser Proteste wurden Losungen wie «Fora Dilma» (Weg mit Dilma), «Impeachment» (Amtsenthebung Rousseffs) und sogar ein «Militärputsch» gefordert. Obwohl sich die Opposition in ihren Forderungen nicht einig ist, geht es ihr um die Schwächung der Regierung und um die Durchsetzung ihres neoliberalen Programms, zu dem die Forderung nach der Privatisierung der Petrobras gehört.
Begleitet und unterstützt wurden diese Aktionen durch eine bisher nie da gewesene Hasskampagne gegen die PT in den Medien. Die Aktion «Lava-Jato» wird zu einem großen Medienspektakel aufgeblasen, und bestimmte Ereignisse werden ohne Verbindung zum Gerichtsprozess in der Öffentlichkeit gegen die PT-Regierung inszeniert. Der Opposition gelang es, im Abgeordnetenhaus einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Zusammenhang mit den Korruptionsfällen der Petrobras durchzusetzen.
Exemplarisch ist ebenfalls die Auseinandersetzung um die Petrobras, die im Zusammenhang mit den Korruptionsfällen im Unternehmen geführt wird. Die Opposition wendet sich gegen die 2010 im Gesetz 12351 Artikel 10 festgelegte 30-prozentige Beteiligung der Petrobras an allen Konsortien bei der Versteigerung von Explorationsrechten. Gleichzeitig wendet sie sich gegen die Festlegung, die Petrobras als zentralen Operateur bei Versteigerungen der Erdölvorkommen an der Atlantikküste einzusetzen. Schon realisierte Versteigerungen in diesem Bereich sollen rückgängig gemacht werden.
Das im Gesetz von 2010 festgeschriebene System der Teilung soll wieder durch die Vergabe von Konzessionen ersetzt werden. Beim System Teilung verbleibt Brasilien als Eigentümer der Fundstätte und das Operationsmonopol bei der Petrobras, die in der Lage ist, die gesamte Produktionskette in der Hand zu behalten und die entsprechende Technologie des technisch schwierigen Abbaus zu entwickeln. Im Abgeordnetenhaus und im Senat wurden durch Vertreter der Opposition Vorstöße gegen das Gesetz von 2010 unternommen. Mit der Operation «Lava-Jato» wird versucht, das durch die Korruptionsfälle entstandene negative Image der Petrobras als Schwachstelle zu nutzen.
Entgegen allen Behauptungen der wirtschaftlichen und technologischen Schwäche des Unternehmens steht die vor Kurzem erhaltene Auszeichnung der Petrobras durch die Offshore Technology Conference (OTC) als bestes Offshore-Unternehmen in den letzten Jahren.
Die PT, die Regierung Rousseff und die Linke
Die gegenwärtig im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehenden Medidas Provisórias 664 e 665 sind Gesetzesvorlagen, die darauf abzielen, die Liberalisierung des Arbeitsmarktes zu vertiefen. Sie beinhalten Maßnahmen des Outsourcing und der Zeitarbeit. Wenn bisher nur bei Dienstleistungen wie Reinigung, Versorgung und Sicherheit Subkontrakte möglich waren, wurde die Anzahl möglicher ausgegliederter Bereiche wesentlich erweitert, zum Beispiel wird es möglich, Lehrer als Zeitarbeiter einzustellen.
Diese «Maßnahmen» sehen somit Möglichkeiten vor, die Kette der ausgegliederten Bereiche beliebig fortzusetzen und Zeitarbeit durchgehend zu ermöglichen. Diese Maßnahmen bringen einen wesentlichen Rückschritt in der brasilianischen Arbeitsgesetzgebung mit sich. Obwohl sich der Gewerkschaftdachveband Central Única dos Trabalhadores (CUT) und PT-Abgeordnete gegen diese Veränderungen im Abgeordnetenhaus aussprachen, wurden die Medidas Provisórias 664 e 665 von der Mehrheit des Abgeordnetenhauses angenommen.
Die Verkündung des Sparprogramms in seiner neoliberalen Form, die Durchsetzung der Liberalisierung des Arbeitsmarktes und eine angekündigte Öffnung der Bundessparkasse für das Auslandskapital sind Indizien für die Schwäche der Rousseff-Regierung und der PT im Abgeordnetenhaus. Sie sind Ausdruck der Zugeständnisse, die die Regierung Rousseff den alten und neuen Eliten macht.
Frei Betto, Vertreter der Befreiungstheologie und Ex-Minister in der ersten Regierung Lula – er trat wegen grundlegender Differenzen vom Amt zurück –, kommentierte die Jahre der PT-Regierungen folgendermaßen: Die PT habe keine grundlegenden Strukturreformen realisiert, weder eine Agrar- noch Steuer- oder gar politische Reform. Sie habe das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen gelockert, sich von ihren Gründungsprinzipien entfernt und dadurch den Verlust ihrer sozialen Basis riskiert.
Die Politik Lulas wurde charakterisiert durch eine Vertretung korporativer Interessen der Arbeiterschaft und der Vermittlung von Konflikten mit der internen Bourgeoisie. Dieses Phänomen wurde in Brasilien als lulismo bezeichnet. Er ist eine starke Identifikation des Subproletariats mit der Person des Präsidenten, das heißt von Personengruppen, die unter schlechteren sozialen Bedingungen als Lohnabhängige leben (Hausangestellte, Lohnempfänger in Kleinunternehmen, im informellen Sektor tätige Menschen).
Es ist eine der Paradoxien des modernen Brasiliens: Das Wahlvolk teilte sich auf in Menschen mit geringsten Einkommen und solchen der reicheren Schichten, die sich durch die Lula-Politik bevorteilt sahen. Mit dem lulismo betrat eine neue politische Kraft die politische Szene.
Das Aufkommen des lulismo hatte für die Volksbewegung bedeutende Konsequenzen. Er führte zu einer Schwächung der sozialen Kämpfe und brachte eine Demobilisierung mit sich. Besonders die soziale Linke, aber auch Teile der politischen Linken, setzte sich in unterschiedlicher Weise mit diesem Phänomen auseinander, was nicht dazu beitrug, dass sich eine starke linke Kraft formieren konnte und einheitliches Handeln zustande kam. Der eigentliche Konflikt, das heißt die Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus, wurde in den Hintergrund gedrängt.
Die Proteste und Massendemonstrationen in den Monaten Juni und Juli 2013, die sich gegen die kommende Fußballweltmeisterschaft richteten, veränderten dieses Bild: Erstmalig seit Jahren kam es zu Mobilisierungen dieses Ausmaßes. Rund eine Million Menschen nahmen an den Protesten im Juni 2013 teil. Ausgelöst wurde die Bewegung durch das Movimento Passe Livre, das die Forderung nach Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen auf die Straße trug. Regierung, Medien und politische Parteien – rechts wie links – wurden vom Ausmaß der Mobilisierungen überrascht.
Auf die Straße ging weniger die etablierte Mittelklasse, auch weniger die Arbeiter. Es waren vor allem Jugendliche und Studenten, die in den 1990er-Jahren zu Zeiten der Durchsetzung des Neoliberalismus geboren wurden. Alles das macht sichtbar, welche Veränderungen sich in der Zusammensetzung der sozialen Basis des Landes, in der Bevölkerungsentwicklung (mit einer enormen Landflucht) und in der Klassenstruktur vollzogen haben.
Nach einer Zeit der Sprachlosigkeit und der Passivität trat Präsidentin Rousseff im Juni 2013 im öffentlichen Fernsehen auf, unterstützte die Massenforderungen und schlug einen nationalen Pakt vor, der fünf Vorschläge umfasste: Durchführung eines Plebiszits über eine politische Reform, Maßnahmen gegen die Korruption, Investitionen in das Gesundheitswesen, Investitionen in die öffentlichen Verkehrsmittel (50 Milliarden Real) und mehr Investitionen ins Bildungswesen.
Eine politische Reform bedeutet Durchführung einer verfassunggebenden Versammlung, die wesentliche Veränderungen einleitet, insbesondere die Annullierung der Finanzierung von Wahlkampagnen durch große Unternehmen, die Festschreibung von Volksplebisziten, die Absenkung der Zahl der Unterschriften in Volkskampagnen, die Abschaffung des Senats und neue Mechanismen für die direkte Partizipation des Volkes. Rousseff äußerte sich positiv zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung.
Für die PT-Regierung eröffnete sich damit die einmalige Gelegenheit, die Forderungen der Demonstranten aufzugreifen und politisch wieder in die Offensive zu kommen. Das wurde im Rückblick versäumt. Weder die Regierung noch die PT als Regierungspartei waren in der Lage, die positiven Ansätze aufzugreifen und sie mit Unterstützung der Straße durchzusetzen. Das Abgeordnetenhaus und der Senat blockierten alle Bestrebungen, die politische Reform umzusetzen. Die Opposition und rechte Kräfte verstanden es vielmehr, die Proteste nach und nach zu nutzen und die Regierung Rousseff unter Druck zu setzen.
Die gegenwärtige Lage ist durch eine verschärfte Spaltung und Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft gekennzeichnet. Die Linke sucht nach Auswegen aus dieser schwierigen Lage. Soziale Bewegungen und politische Parteien riefen in den Monaten März und April 2015 zu Gegenmanifestationen auf, an denen sich etwa eine Million Menschen beteiligten. Ihr Protest richtete sich gegen die Radikalisierung der Auseinandersetzung durch die Opposition.
Es war aber gleichzeitig eine Aufforderung an die Regierung, sich aktiv gegen die Offensive der Opposition zu positionieren. Im Zentrum der Forderungen stand die Durchführung eines Plebiszits zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. An diesen Aktionen beteiligten sich vor allem Gewerkschaftszenztralenen wie die CUT und die Coordenação Nacional de Lutas (Conlutas) und Rousseff gegenüber kritische Akteure wie das Movimento de Trabalhadores sem Teto (MTST), die sich trotz unterschiedlicher Haltung zur Regierung gegen die im Abgeordnetenhaus angenommen Arbeitsgesetze mit Streiks, Straßensperren und Demonstrationen wandten.
Die Linke in ihrer Gesamtheit aber ist geschwächt und steht kritisch zur bisher führenden linken Kraft, der PT. Real betrachtet hat die PT ihre Fähigkeit zur Führung in der Gesellschaft verloren. Selbst Lula erklärte, dass sich die PT von ihrer Basis entfernt habe, sich bürokratisiert und in eine Kabinettspartei verwandelt habe. Sie durchlebt die bisher schwerste Krise in ihrer 35-jährigen Geschichte, die hervorgerufen wurde durch sich verschärfende Konflikte in der PT: Konzentration auf Wahlkämpfe, parlamentarische Auseinandersetzungen, politischen Stillstand und teilweise Aufgabe der Gründungsgrundsätze, besonders aber auch der Verstrickung in Korruptionsfälle.
Risse innerhalb der Partei, die sich in Auseinandersetzungen der verschiedensten Flügel manifestierten, schwächten die PT und sind für die Gegner willkommener Anlass, auf eine Spaltung der Partei oder auf ihre Bedeutungslosigkeit hinzuarbeiten. Damit steht die PT vor der Frage, ob sie in der Lage ist, sich einer selbstkritischen Analyse zu stellen oder ob sie versuchen wird, Korruption und Unmoral in der Partei zu überdecken.
Gelegenheit zur selbstkritischen Reflektion und kritischen Einschätzung der Lage hatte die PT, da sie vom 11. bis 13. Juni 2015 in Salvador da Bahia ihren fünften Parteitag abhielt. Im Vorfeld des Parteitags wurden in der PT starke kritische Stimmen laut, die in einem Dokument («Die Krise der Partei überwinden») forderten, die Position der Partei zu radikalisieren, politisch sich neu zu positionieren und die Auseinandersetzung mit der Opposition auf den Straßen und Plätzen zu suchen. Es sei an der Zeit, die Politik zu verändern und das Überleben der PT zu sichern. Es erging der Aufruf an die Delegierten, sich der neuen Situation zu stellen.
In den Thesen, die dem Parteitag vorlagen, («Stärker verändern: Für einen neuen Zyklus demokratischer Veränderungen in unserem Land») werden ebenfalls kritische Einschätzungen der Lage gegeben. Es wird gesagt, dass die PT die Fähigkeit zur Kommunikation verloren habe. Sie hat Niederlagen im Abgeordnetenhaus hinnehmen müssen und ohne öffentliche Gegenwehr einen Prozess der Destabilisierung und Kriminalisierung der PT durch neoliberal-konservative Kräfte zugelassen.
Unklar war, ob Präsidentin Rousseff am Parteitag der PT teilnehmen würde, da sie zur gleichen Zeit in Brüssel an dem Gipfeltreffen der EU und Lateinamerikas teilnahm. Angesichts der anstehenden Auseinandersetzungen entschied die PT-Leitung, dass sie kurzfristig nach Brasilien zurückkehrte.
Eine im Moment mögliche Einschätzung der Ergebnisse des Parteitags muss zum Schluss kommen, dass die PT entschuldigend die Medien für die Lage verantwortlich macht, um Geduld bittet und nicht bereit ist, offen und kollektiv Fehler einzugestehen und die Politik zu ändern. Verwunderung rief hervor, dass Rousseff die Politik der Austerität verteidigte, um – wie sie sagte – schnell wieder den wirtschaftlichen Aufschwung einleiten zu können. Es bleibt der Eindruck, dass der Parteitag nicht dazu beitrug, die defensive Haltung der PT zu überwinden.
Offenkundig besteht ein Unterschied in der Einschätzung der Lage zwischen der Basis der PT und deren Führung. Im Beschluss des Parteitags «Carta de Salvador» findet sich keine Kritik an der Austeritätspolitik der Regierung. Auch Forderungen von Delegierten, Joaquim Levy persönlich zu benennen, beziehungsweise die Bündnispolitik zu verändern, fanden keinen Niederschlag im Beschluss. Insgesamt wird der Parteitag als wenig aufregend eingeschätzt. Eine realistische Selbstkritik fand nicht satt. Mehr entsteht der Eindruck, dass die PT gespalten ist.
Die Linke in ihrer Gesamtheit weiß, dass sie sich gegen einen Rückfall Brasiliens in eine Phase neoliberaler Politik positionieren muss. Sie ist sich aber über die Wege, Methoden und konkreten Zielstellungen im Unklaren. Für große Teile der progressiven Kräfte geht es um die Durchführung eines Plebiszits zur Einberufung einer außerordentlichen verfassunggebenden Versammlung. Der Weg zu einem Plebiszit führt unter den gegenwärtigen Bedingungen nur über eine breite Mobilisierung aller demokratischen und sozialen Kräfte.
In dieser Situation geht es darum, den Kampf um eine tiefgreifende Reform des politischen Systems als erste Aufgabe in Angriff zu nehmen. Erreicht werden kann das nur, wenn es gelingt, eine «Demokratische Volksfront» zu bilden, die von progressiven Kräften außerhalb der PT angestrebt wird, und wenn die PT bereit ist, sich aktiv an dieser zu beteiligen.
Alles das deutet darauf hin, dass sich die Rousseff-Regierung und die PT politisch in der Defensive befinden. Hatten noch viele Wähler angesichts des Stärkerwerdens der Opposition im Wahlkampf für Rousseff und die PT gestimmt, ist aufgrund der Wendung, die Präsidentin Rousseff vollzog, damit zu rechnen, dass die Wählerbasis sich verringern wird. Die politische Entwicklung der letzten Jahre seit dem Amtsantritt Lulas 2003 ist in Gefahr. Es droht in kommenden Auseinandersetzungen mit der Opposition und in zukünftigen Wahlen eine Niederlage für die PT und damit für die politische und soziale Linke Brasiliens und darüber hinaus für die Linke Lateinamerikas.
*Achim Wahl leitete von 2003 bis 2005 das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.
Fußnoten
(1) Als neodesarrollismo wird eine postneoliberale Politik bezeichnet, die den Staat als wichtigen Akteur betrachtet und – wie im Falle Brasiliens – Sozialprogramme im Kampf gegen die Armut realisiert.
(2) 1997 wurde das Staatsunternehmen Petrobras durch den damaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die halbstaatliche Petrobras ist ein Mischunternehmen, in dem der Staat die Mehrheit der Stimmrechte hält.
(3) Der panelaço ist eine lateinamerikanische «Erfindung» des Protestes, die erstmalig in Chile 1971 gegen die Allende-Regierung angewandt und vornehmlich von Vertretern der Mittelklasse getragen wurde. 2001 wurden solche Proteste in Argentinien gegen die Regierung von Fernando de la Rua durchgeführt.
Foto: Blog do Planalto/Flickr