Regionale Integration statt "Freihandel"?

Während Europa über TTIP streitet, stehen auch Lateinamerika neue «Freihandelsabkommen» ins Haus. Soziale Bewegungen und Organisationen warnen auf einem Seminar der RLS vor weiteren neoliberalen Deregulierungen und formulieren gemeinsam Alternativen 

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Öffentliche Veranstaltung im ehemaligen chilenischen Kongress mit (v. l.): Lucía Sepúlveda (RAP-AL), Javier Couso (Izquierda Unida), Paula Correa (Moderatorin), Gerhard Dilger (RLS), Luciana Ghiotto (attac Argentina), Yuri Vásquez (Berater der KP-Fraktion im chilenischen Parlament)

Von Nils Brock
Lucía Sepúlveda hat es normalerweise nicht leicht, in Chile ein Publikum zu finden, wenn sie gegen die sozialen und ökologischen Folgen von so genannten Freihandelsverträgen wettert. Das Land ist mit über 25 solcher Abkommen Weltmeister in Sachen zwischenstaatlicher Verträge, die den Austausch von Waren, Dienstleistungen und Finanztransaktionen erleichtern. Und auch wenn das reichste Fünftel der chilenischen Bevölkerung heute 29 mal so viel Kapital vereint wie das ärmste – mehr als doppelt so viel wie zur Zeit der sozialistischen Regierung Salvador Allendes (1970-1973) – glauben nicht wenige weiterhin an das Versprechen gesellschaftlichen Wandels durch neoliberalen Handel.
Doch beim Treffen der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brasilien/Cono Sur muss sich Sepúlveda, Sprecherin des lateinamerikanischen Aktionsnetzwerks gegen Pestizide (RAP-AL), nicht wie sonst auf Kundgebungen heiser schreien. Vom 26. bis 28. April versammelten sich in Chile gut 40 Aktivist*innen sozialer Bewegungen und NGOs, die die Bedenken der Mittsechzigerin teilen.

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Besuch bei Anamuri

Sie hören aufmerksam zu, wenn sie vor Gesetzesänderungen warnt, die den Anbau genetisch modifizierter Pflanzen erleichtern und die Existenz von Kleinbauern und ökologischer Agrarprojekte bedrohen. Und sie sind gekommen, um gemeinsam zu diskutieren, wie sich verlängerte Laufzeiten von Patenten, die weitere Deregulierung der Finanzmärkte und die Prekarisierung des Dienstleistungssektors verhindern lassen. „Denn das alles steht uns bevor, falls unsere Parlamente die Transpazifische Partnerschaft tatsächlich ratifizieren sollten, für die die Regierung bereits im Februar grünes Licht gegeben hat“, sagt Sepúlveda.
Die Transpazifische Partnerschaft (TPP) ist der aktuell am heftigsten umstrittene Vorstoß, der weltweit zwölf Länder umfassen soll, darunter „die Großen“ wie USA und Kanada und aus Lateinamerika neben Chile auch Peru und Mexiko. Konnten die Linksregierungen der Region 2005 noch eine neoliberale gesamtamerikanische Freihandelszone (ALCA) verhindern, ist in vielen Ländern heute die Rechte auf dem Vormarsch. Deshalb sind auch die Anwesenden aus Argentinien und Brasilien extrem beunruhigt, denn selbst wenn derzeit keine Mitgliedschaft bei TPP ansteht, fürchten sie in der nahen Zukunft den Abschluss bilateraler Abkommen.

Petrobras vor dem Ausverkauf?
„Brasilien ist ein interessanter Markt für transnationale Unternehmen, gerade weil die regierende Arbeiterpartei in den vergangenen Jahre deren massive Beteiligung gebremst hat“, erklärt Adhemar Mineiro vom Netzwerk zur Integration der Völker (Rebrip). Der Ökonom prognostiziert für die nähere Zukunft unter anderem den Ausverkauf des staatlichen Erdölunternehmens Petrobras und des derzeit völlig unter Wert gehandelten Bausektors. Vor allem Unternehmen aus China und den USA sollen bereits in den Startlöchern stehen.
Doch Lateinamerika sei zugleich geopolitische Spielball einer weiteren „Weltmacht“, gaben zwei europäische Gäste zu bedenken. Javier Couso, spanischer Abgeordneter der Izquierda Unida im EU-Parlament, kritisierte die Europäische Union für ihre aktive Rolle, „den Neoliberalismus nicht nur intern, sondern weltweit zu normalisieren.“ Die EU verhandle gerade mit den Ländern, die dem „Gemeinsamen Markt Südamerikas” (Mercosur) angehören, über eine weitere Liberalisierungen der bilateralen Handels- und Finanzpolitik, die sich qualitativ in keinster Weise vom gescheiterten ALCA-Projekt unterscheiden würden.

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Gaby Küppers

Gaby Küppers, die Cousos Kolleg*innen der Grünen-Fraktion berät, wies zudem auf eine Studie der Universität von Groningen hin, die belegt, dass das bereits anderthalb Jahrzehnte alte Abkommen der EU mit Mexiko wie auch das wesentlich  jüngere, 2013 in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru der Geldwäsche und Steuerflucht Haus und Hof öffnen. Ein Indiz dafür ist beispielsweise der Rückgang wegen Geldwäsche verurteilter Personen oder Unternehmen in Peru, während sich zugleich der illegale Abfluss von Finanzmitteln 2014 aus Peru in europäische Länder im Vergleich zu den beiden Vorjahren fast verdoppelte.
„Wer auf europäischer Seite dieses Abkommen ausgehandelt hat, hat sich entweder über den Tisch ziehen lassen oder muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Komplize zu sein“, sagt Küppers. Wie auch immer, großer Aufmerksamkeit erfreute sich die Präsentation der Studie im EU-Parlament am 21. April jedenfalls nicht.
Um so wichtiger sei es, diese und weitere Informationen direkt an die Bevölkerung weiterzugeben, findet Alicia Muñoz von der Vereinigung Anamuri, die in vielen Teilen Chiles die Interessen von Kleinbäuerinnen, Saisonkräften und Fischerinnen vertritt. „Wir tragen unseren Teil zum Kampf gegen den neoliberalen Freihandel bei, indem wir als Frauen das Saatgut traditioneller Feldfrüchte und Bäume erhalten und wieder in Umlauf bringen“, sagt Muñoz. „Aber wir geben auch weiter, was wir auf dem Treffen dazugelernt haben.“ Zugleich lädt sie die anderen Organisationen ein, die Arbeit der Kleinbäuerinnen näher kennenzulernen und in direkten Austausch zu treten.

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Francisca Rodríguez von Anamuri und Nils Brock

Agrarökologie als Alternative
Wie ernst es Anamuri mit diesem Vorhaben ist, konnten die Teilnemenden des Seminars bei einem Ausflug in das Dörfchen Aunquinco, drei Fahrtstunden südlich von Santiago, erleben. Dort entsteht gerade das erste unter der Regie von Frauen organisierte Agrarökologische Institut Lateinamerikas (IALA). Noch befindet sich die die Schule im Aufbau, aber bald schon wollen hier Frauen aus ganz Chile gemeinsam landwirtschaftliche Alternativen zu Monokultur und ausbeuterischer Saisonarbeit teilen und weiterentwickeln. Heute werden unter dem gelben Laub der Weinreben dagegen vor allem Pläne diskutiert, um ein breites Bündnis gegen die aktuelle Freihandelsoffensive zu organisieren.
Natalia Carrau von der uruguayischen NGO Redes schildert, wie Nichtregierungsorganisationen in Uruguay im letzten Jahr erst die Gewerkschaften und gemeinsam dann die linke Regierung überzeugen konnten, nicht das zwischenstaatliche Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (TISA) zu unterzeichnen. „Es gibt auch innerhalb der Linken immer wieder Sympathisanten, die daran glauben, dass eine Deregulierung und Öffnung der Arbeitsmärkte die Entwicklung eines Landes beflügeln könnte“, meint Carrau. „Deshalb ist wichtig, als soziale Bewegungen wachsam zu sein und konkrete Ideen für eine gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel einzubringen.
Das findet auch ihre brasilianischer Kollege Mineiro. Die regionale Integration zu stärken, sei entscheidend und dazu gehöre auch eine kritische Aufarbeitung der bisherigen Zusammenarbeit im Mercosur: „Nicht nur die Regierungen auch die Unternehmen unserer Länder müssen bereit sein, wirtschaftlich zu kooperieren. Denn bis heute haben sie den Mercosur und andere Bündnisse vor allem dazu genutzt, um sich kurzfristig kommerzielle Gewinne zu sichern.“
Dem Mercosur eine post-kapitalistische Perspektive verpassen? Dass sei ein hartes Stück Arbeit, aber regionale Integration neu zu denken, sei ein entscheidender Ansatz, sind sich die Versammelten einig. “Wir müssen neue Beziehungen aufbauen, die sich nicht an Wettbewerb, sondern an Kooperation orientieren,” fasst Carrau die vielen Debattenbeiträge zusammen. „Wir müssen weiterhin für ökologische Landwirtschaft, Ernährungssicherheit aber auch den Abbau von Patentrechten und der Landtiteln kämpfen. Handel sollte zwischen den Menschen und für die Menschen stattfinden.“

„Kontinentaler Aktionstag gegen Freihandelsabkommen“
Für November diesen Jahres ist zugleich der erste „Kontinentale Aktionstag gegen Freihandelsabkommen“ geplant. Auch die Gegner und Gegnerinnen des TPP-Abkommens in Chile werden sich beteiligen, ist sich Sepúlveda sicher. „Unsere Regierung traut sich derzeit nicht, das Projekt zur Abstimmung im Kongress vorzulegen, da viele Abgeordnete uns bereits Unterstützung signalisiert haben. Wie es scheint, haben unsere öffentlichen Aktionen eben doch Wirkung gezeigt.“
Fotos: Verena Glass (3); Gerhard Dilger (G. Küppers)

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