Rot ist die Hoffnung

Tausende Familien landen in der Megametropole São Paulo jeden Monat auf der Straße, weil sie sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten können oder geräumt werden. Jedoch setzen sich die Bewohner*innen der Randbezirke zur Wehr und erkämpfen sich urbanen Boden zurück. Ein Tag in der neuen Besetzung „Rote Hoffnung“ der Wohnungslosenbewegung MTST.
Von Niklas Franzen

Fotos Niklas Franzen
MTST – urbaner Widerstand

„Wenn wir ankommen, machen wir keinen Lärm und fangen direkt an, die Zelte aufzubauen. Falls die Polizei auftaucht, laufen wir nicht weg und lassen uns nicht provozieren“, ruft Tuca den rund 200 Menschen zu. Frauen, Männer und Kinder haben sich vor der kleinen Holzbühne versammelt. Die meisten sind schwarz. Mehrere Personen haben sich Matratzen, Decken und Töpfe unter die Arme geklemmt. Es ist eine sternenklare Nacht im äußersten Osten der Millionenstadt São Paulo.
In der Ferne bellen Hunde. Aus einer Bar unweit des Treffpunktes dröhnt brasilianische Country-Musik. Kurz nach Mitternacht geht es los. Die Gruppe wird auf zwei alte Schulbusse aufgeteilt, und einige letzte Gegenstände werden im Gepäckraum verstaut. Mehrere PKWs und Motorräder folgen den Bussen im Konvoi.
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Wohin es genau geht, weiß niemand so recht. Was alle wissen: heute Nacht wird es eine neue Besetzung der Bewegung der wohnungslosen Arbeiter*innen (MTST) geben. Die Stimmung im Bus ist ausgelassen. Über ein Handy läuft brasilianische Funk-Musik. Süßigkeiten und eine Flasche mit Saft werden herumgereicht.
Nach rund 30 Minuten Fahrt durch dunkle Gassen der Vorstadt kommt der Bus zum Stehen. „So, jetzt schalten wir alle unsere Handys aus“, lautet die Ansage. Ein riesiges Feld in einem Tal lässt sich in der Dunkelheit erahnen. Dahinter ein Meer aus Lichtern. Ein vollbeladener Lastwagen wartet bereits an Eingang des Geländes. Schweigend steigen die Aktivist*innen aus dem Bus, schnappen sich Bambus-Stangen und Planen und fangen an, Zelte auf dem senkrechten Grasland aufzubauen. Nach nicht einmal einer halben Stunde steht das Camp. An mehreren Stellen hissen die Aktivist*innen symbolisch die rote Fahne der Bewegung.
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Die erste Versammlung findet am Eingang der Besetzung statt. „Wir sind die Mütter und Väter dieser neuen Besetzung. Darauf können wir Stolz sein. Die heutige Besetzung ist eine Demonstration unserer Stärke. Wir werden weitermachen und uns unsere Rechte erkämpfen“, ruft Maria, die kleine Koordinatorin der Bewegung, den Anwesenden mit entschlossener Stimme zu. Applaus und Jubel. Hochgereckte Fäuste. „Besetzen, Widersetzen und hier Wohnen“-Rufe erschallen die Nacht. Die Besetzung wird auf den Namen „Esperança Vermelha“ (Rote Hoffnung) getauft. Die Versammlung endet mit einem Gebet.
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In São Paulo leisten urbane Bewegungen Widerstand gegen Ausgrenzung und Segregation. Während im Zentrum der Megalopolis moderne Bürotürme, Einkaufszentren und bewachte Wohnanlagen das Stadtbild bestimmen, leben Millionen von Menschen in den sozial benachteiligten Randbezirken, ausgeschlossen von den Qualitäten der urbanisierten Gesellschaft. Trotz staatlichen Wohnungsbauprogrammen, wie dem 2009 lancierten Minha Casa, Minha Vida (Mein Haus, mein Leben), ist die Wohnungsnot in der Stadt riesig: Laut Statistiken haben rund 700.000 Menschen im Großraum São Paulo keine Wohnung oder leben in inadäquaten Wohnverhältnissen – Tendenz steigend.
Demgegenüber stehen 400.000 Wohneinheiten leer. „Es ist eine Schande, dass so viele Gebäude und Flächen leerstehen und wir kein Dach über den Kopf haben“, schimpft Simone, die sich zusammen mit ihren beiden Söhnen in einem Zelt eingerichtet hat. „Ich fühle mich als Gewinnerin und Kämpferin. Die Bewegung hat mir geholfen viel mehr zu erreichen, als ich jemals hätte alleine schaffen können“, erzählt die Aktivistin mit den langen, schwarzen Dreadlocks.
„Aufwertungsprozesse“ und Immobilienspekulation machen auch vor den Randbezirken nicht halt und führen zu stetig steigenden Mieten. Bittere Konsequenz: Immer mehr Menschen landen auf der Straße. Für tausende Familien bleibt die Teilnahme an einer Besetzung die einzige Alternative.
Mitte der 2000er Jahre gründete sich die MTST, nachdem sie sich von der Landlosenbewegung MST gelöst hatte. Heute ist sie die größte Wohnungslosenbewegung des Landes und gilt als eine der wichtigsten linken Stimmen in Brasilien. Ziel ist es, mit den Besetzungen politischen Druck auszuüben und städtischen Leerstand nutzbar zu machen – und damit bezieht sich die Bewegung auf gültiges Recht.
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Brasilien gilt als Pionier für ein institutionalisiertes „Recht auf Stadt“. Die progressive Verfassung von 1988, die durch jahrelange Mobilisierung von urbanen Bewegungen erkämpft wurde, sieht vor, dass Häuser und Freiflächen eine soziale Funktion erfüllen müssen und Eigentümer auch enteignet werden können, wenn dies nicht der Fall ist. Mit dem 2001 verabschiedeten Stadtstatut-Gesetz bekam die Verfassung Gültigkeit – theoretisch zumindest. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. „In vielen Fällen wird die Verfassung durch die rechte Justiz zerrissen und in den Müll geworfen“, erklärt der Anwalt Ramon, der die MTST vertritt. Die Verbindungen zwischen Justiz, Investoren und Immobilienspekulanten sind ein offenes Geheimnis.
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Das Gelände der „Besetzung Rote Hoffnung“ ist eine sogenannte ZEIS – Zone von speziellem sozialem Interesse – und für den sozialen Wohnungsbau vorgesehen. Bislang ist allerdings nichts passiert und das Feld steht seit mehreren Jahren leer. „Die Besetzung heute ist eine Anklage und eine Forderung, dass endlich die soziale Funktion des Geländes erfüllt wird. Es werden keine Gesetze gebrochen. Im Gegenteil, der Staat wird daran erinnert. endlich Gesetze zu erfüllen“, führt der junge Anwalt im weißen Hemd aus.
Erst im Morgengrauen wird das Ausmaß des Geländes bewusst. Ein grünes Tal erstreckt sich einen Hügel hinunter. Dahinter Favelas, soweit das Auge reicht. Einige Kühe weiden in der Ferne. Zum Frühstück gibt es Kaffee und ein süßes Brot. Zwei Aktivistinnen in roten T-Shirts, die die Besetzung über Nacht bewacht haben, sitzen verschlafen auf einem Steinblock am Eingang. Noch im Morgennebel wird damit begonnen, immer weitere Teile des Geländes zu erschließen und Zelte aufzubauen.
In der Mitte des Feldes errichten die Wohnungslosen ein Holzgerüst. „Das wird mal die Hauptküche“, erklärt Nego, während er auf einem Holzbalken sitzend einen Nagel in das Gerüst hämmert. Die Sonne knallt mittlerweile unbarmherzig auf die arbeitenden Aktivist*innen. Immer mehr Familien aus den umliegenden Vierteln kommen im Laufe des Tages an und schlagen ihre Zelte auf. So auch der 25-jährige Franklin, der unterhalb des Geländes mit seiner Frau und seinem Sohn in einer selbstgebauten Hütte wohnt.
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„Ich habe gehört, dass hier eine Besetzung stattfindet – deshalb bin ich hergekommen“, sagt der junge Mann mit den blond gefärbten Haaren und der blauen Sportbrille. Nicht nur die Strom- und Wasserversorgung in seinem Viertel sind mangelhaft. „Wir überleben eher, als dass wir leben. Deshalb will ich Teil der Bewegung werden und mir eine würdige Unterkunft erkämpfen“. Die Polizei erscheint erst am späten Mittag und zieht nach einer kurzen Verhandlung wieder ab.
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Die MTST will solange auf dem Gelände bleiben, bis eine Lösung für die beteiligten Familien ausgehandelt ist. Angesichts der massiven Wohnungskrise in der Stadt wirkt die Besetzung wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Jedoch ist die „Rote Hoffnung“ auch für ein Symbol – dafür, dass eine andere Stadt möglich ist.

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