Herausforderungen für die Linke in Brasilien

Eine Schlüsselrolle spielt die Solidarität zwischen neueren sozialen Bewegungen, insbesondere der Bewegung wohnungsloser Arbeiter MTST und der Bewegung landloser Landarbeiter MST
fora temer

Von Manuel Larrabure, LuXemburg
Am Dienstag, den 18. Mai, tauchte eine belastende Audioaufnahme mit der Stimme des brasilianischen Präsidenten Michel Temer vom rechten Partido do Movimento Democrático Brasileiro (Brasilianische Partei der Demokratischen Bewegung) auf. In der Aufnahme ist Temer dabei zu hören, wie er mit dem Parteikollegen und früheren Sprecher des Abgeordnetenhauses, Eduardo Cunha, über Bestechung diskutiert. Cunha sitzt seit 2016 wegen Korruptionsvorwürfen im Gefängnis. Beschafft wurde die Aufnahme vom Milliardär Joesley Batista.
Dessen anschließende Aussage – der es an Beweisen mangelte – enthielt Beschuldigungen der Bestechung gegen 1829 Kandidaten aus 28 Parteien, einschließlich der ehemaligen Präsident*innen Luís Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff vom Partido dos Trabalhadores (PT, Partei der Arbeitenden). Dies ist der bislang letzte Akt des Dramas, welches auf das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma im Jahr 2016 folgte – einem Ereignis, das sich am besten als fortgesetzter Putsch verstehen lässt.
In der Folge verlor Temer auch die letzte öffentliche und institutionelle Unterstützung: Fast alle gesellschaftlichen Gruppen, auch die mächtigen Medien der Rechten, verlangen seinen Rücktritt. Brasiliens oberster Staatsanwalt eröffnete nun eine Ermittlung wegen Behinderung der Justiz, Korruption und Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation gegen ihn. Zuletzt erhob die brasilianische Anwaltskammer offiziell die Forderung, ihn seines Amtes zu entheben. Diese unberechenbare politische Lage fällt zusammen mit der sich vertiefenden ökonomischen Krise des Landes, mit zweistelligen Arbeitslosenzahlen und schwächelnder Währung. Es kann gemutmaßt werden: Die Tage Temers im Amt sind gezählt.

Proteste gegen Temer
In Reaktion auf das Schwanken der Regierung Temer hat die Linke am 19. Mai große Proteste im ganzen Land organisiert, zu denen sie ein weites Spektrum progressiver Organisationen und sozialer Bewegungen unter den Slogans Fora Temer (Temer raus) und Diretas Já (Direktwahlen jetzt) zusammenbrachte. Dem vorausgegangen war ein erfolgreicher Generalstreik, organisiert von der Central Única dos Trabalhadores (CUT), Brasiliens bedeutendster Gewerkschaftsföderation. Der Streik zielte darauf, die geplanten, radikalen neoliberalen Reformen der Arbeitsgesetzgebung und zur sozialen Sicherung der Regierung zu bremsen.
Die jüngsten Mobilisierungen überzogen das Land, mit der Hauptstadt Brasília als Epizentrum. Am 24. Mai versammelten sich dort 200 000 Menschen vor dem Präsidentenpalast und bekräftigten die zentrale Forderung der Bewegung nach direkten Wahlen. Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden, während derer es auch zu Schäden an öffentlichen Gebäuden kam, eskalierte Temer den Konflikt: Unter Berufung auf einen präsidentiellen Erlass, auf den zuletzt 1986 zurückgegriffen worden war, rief er die Streitkräfte zu Hilfe.
Die Anwendung des Dekrets zog umgehend ein Handgemenge im Kongress nach sich, in dessen Zuge Beschuldigungen zwischen Temer und vielen seiner Unterstützer*innen hin und her gingen. Dennoch wurden 1 500 Soldaten in den Einsatz geschickt, darunter 200 Scharfschützen. Der Erlass sollte bis zum 31. Mai wirksam bleiben. Auf den steigenden Druck hin setzte Temer ihn jedoch weniger als 24 Stunden nach Inkraftsetzung wieder aus.
Vor dem Hintergrund dieses politischen Klimas wächst die Wahrscheinlichkeit für eine mögliche Neuwahl in den nächsten Wochen, ob durch Rücktritt oder durch eine Amtsenthebung Temers. Verfassungsgemäß vorgesehen wäre dann die Wahl einer neuen Präsident*in durch den Nationalkongress. Gleichwohl ist auch eine direkte Wahl durch die Bevölkerung in der Debatte, was allerdings eine Verfassungsänderung erfordern und entsprechend länger dauern würde.
Im Gegensatz zur Linken setzt die Rechte auf die Wahl eines Präsidenten durch den Kongress, in dem sie durch ihre derzeitige Vormachtstellung einen Nachfolger für Temer bestimmen könnten. Jedoch hat die Rechte bisher keinen Kandidaten, und ihre dogmatische Bindung an ein radikal neoliberales Programm stößt auf wachsende Ablehnung. Da der Nationalkongress durch das Ausmaß der Korruptionsvorwürfe diskreditiert ist, ist keineswegs gesichert, ob eine Wahl des Präsidenten nur durch den Kongress ausreichend Legitimität besitzen würde.
Die Situation der Linken ist nicht weniger schwierig als die der Rechten. Obwohl Lula, der beste und einzig einsetzbare Kandidat der PT, sich anhaltend hoher Popularität erfreut und jüngste Umfragen zeigen, dass er eine Wahl gewinnen könnte, ist ungewiss, ob er die juristischen Verfahren gegen ihn unbeschadet überstehen wird. Da die neuen Anschuldigungen Batistas sich überdies auch gegen Lula und Dilma richten, wird – ungeachtet des Mangels an Beweisen – die Glaubwürdigkeit der PT vor dem Gericht der öffentlichen Meinung weiter unterminiert.
Beunruhigender vielleicht noch ist, dass die PT kein adäquates Programm gegen die ökonomische Krise hat. Ihre Politik der Klassenkompromisse und Konfliktvermeidung war während des ökonomischen Aufstiegs des Landes in der vergangenen Dekade realisierbar. Ergebnis waren riesige Gewinne für das Kapital und deutliche, aber im Vergleich bescheidene Verbesserungen für die Ärmsten des Landes. Eine Wiederholung dieser Politik ist unter Bedingungen der Krise und mit einer radikalisierten Rechten als Gegenüber, die versucht, die Gewinnspannen des Kapitals trotz Krise zu erhalten, unrealistisch.
Die Linke müsste daher in eine offene Klassenkonfrontation gehen, mithin ein Weg, den die PT nie einschlagen wollte. Nach Jahren an der Macht zahlte sie dafür einen hohen politischen Preis. Wie Perry Anderson 2016 beklagte: »Die Partei der Arbeitenden glaubte, dass sie die etablierte Ordnung in Brasilien zum Vorteil der Armen nutzen könnte, ohne Schaden für die Reichen – vielmehr mit deren Hilfe. Sie erreichte tatsächlich Vorteile für die Armen, wie sie es sich vorgenommen hatte. Doch nachdem sie einmal den Preis dafür akzeptiert hatte, in ein erkranktes politisches System einzutreten, schloss sich die Tür hinter ihr. Die Partei selbst verdorrte, wurde zu einer Enklave im Staat, ohne Bewusstsein ihrer selbst, ohne strategische Linie.« Es wäre naiv zu glauben, die PT wäre plötzlich zu einer radikaleren Haltung fähig, wie sie der geschichtliche Moment erfordern würde.

Links der PT?
Die parteipolitische Linke außerhalb der PT bleibt klein, verwirrt und fragmentiert und zeichnet sich durch Spaltungsprozesse aus. So stimmten sowohl die trotzkistische Partido Socialista dos Trabalhadores Unificado (Sozialistische Partei der Vereinigten Arbeiter) und die von inneren Spannungen gebeutelte pluralistischen Partido Socialismo e Liberdade (Partei des Sozialismus und der Freiheit) für das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma. Wenn es also irgendeine Hoffnung für die Linke inmitten dieser Konjunktur gibt, liegt diese in den sozialen Bewegungen und deren Fähigkeit, die Militanz und Kreativität der Aufstände vom Juni 2013 mit der Reife der aktuellen Mobilisierungen gegen Temer und den Putsch zu kombinieren.
Eine Schlüsselrolle in diesem Prozess spielt die Solidarität zwischen neueren sozialen Bewegungen, insbesondere dem Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (Bewegung wohnungsloser Arbeiter) und etablierteren Bewegungen wie dem Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (Bewegung landloser Landarbeiter) und der organisierten Bewegung der Arbeitenden zu stärken. Grundlegend ist auch die Entwicklung neuer Formen von demokratischer Partizipation und Führung, um der tiefen Krise der Repräsentation, die sich als tiefes Misstrauen gegen alle politischen Parteien der Elite manifestiert, zu begegnen. Die Entwicklung neuer, demokratischer Kapazitäten wird unvermeidlich ein langsamer Prozess sein, der sich erst in Jahren bemerkbar machen wird.
Angesichts der Schwäche sowohl der Rechten wie der Linken besteht momentan ein politisches Patt. Jede Seite bewegt sich in einem Strom von Skandalen und tiefer werdenden Krisen. Die Rechte scheint aus der Situation kurz- und mittelfristig besser Nutzen zu ziehen, insbesondere mit Blick auf ihre Kontrolle der Medien. Sie setzt auf Zeitgewinn. Das heißt auch, dass die von der Rechten eingebrachten neoliberalen Reformen, die wahrscheinlich radikalsten in der Geschichte des Landes, voranschreiten werden: eine direkte Bedrohung für das, was vom einstigen Linksruck in Lateinamerika übrig ist.
Das Ausmaß der Reformen macht eine gewisse Stärke erforderlich, die andererseits mit Temer nicht gegeben scheint. Das Kapital braucht jemand mit breiter Unterstützung, Vertrauen und der Fähigkeit, die Linke zu demobilisieren; jemand mit politischem Genie, der der arbeitenden Klasse die neoliberale Politik auf irgendeine Weise schmackhaft machen kann. Jemand redegewandtes, charismatisches. Wer wird das sein? Wir können nur raten.
Dies ist zweifelsohne eine gefährliche Wendung der Ereignisse in Brasilien. Aber darin wird auch die Sackgasse der linken Regierungen Lateinamerika deutlich: Eineinhalb Jahrzehnte lang waren soziale Bewegungen und linke Regierungen eine scharfe Herausforderung für den Neoliberalismus. In den meisten Fällen war der Erfolg begrenzt. In Venezuela und Bolivien wurde zumindest möglich, ernsthaft eine Vision einer gerechten und radikalen Gesellschaft, mithin eines Sozialismus für das 21. Jahrhundert zu denken.
Nach dem Sieg der Rechten in Argentinien im Jahr 2015, Venezuela in der Krise und Brasilien in den Wirren des Putsches wird ein Prozess wirklicher Neuerfindung der Linken nötig, der die demokratischsten Impulse der Gesellschaft aufgreift und den autoritären Charakter der neuen Rechten angreift. Dafür braucht es auch neuer Allianzen, die eine » tiefgreifende Transformation des politischen Systems« zum Ziel haben, wie es Guilherme Boulos, der Führer der brasilianischen Bewegung wohnungsloser Arbeitender, ausdrückt.
Der Artikel erschien zuerst in The Bullett No. 1421. Aus dem Englischen von Corinna Trogisch

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