Der unerwartete Wahlsieg der demokratischen Sozialistin Alexandria Ocasio-Cortez in New York zeigt, dass Bernie Sanders kein statistischer Ausreißer war. Im Gegenteil: Sozialismus ist eine wachsende Strömung in der US-amerikanischen Gesellschaft, die die etablierte Politik nicht mehr ignorieren kann.
Von Loren Balhorn, Ada
Das meiste, was man heutzutage aus den Vereinigten Staaten mitbekommt, wirkt erschreckend. Kinder werden an der mexikanischen Grenze von ihren Eltern getrennt und in umfunktionierte, leerstehende Wal-Mart-Verkaufshallen interniert; das Oberste Gericht des Landes schafft ein weiteres institutionelles Standbein der Gewerkschaften ab und ebnet damit den Weg für weitere Angriffe auf ihre sowieso prekären Strukturen und womöglich das Ende der Gewerkschaftsbewegung, wie sie bisher existierte. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ist der Präsident des mächtigsten Landes der Welt kein anderer als der gescheiterte Immobilienhai Donald J. Trump – eine monströse Schöpfung des späten US-Imperiums, ein halluzinatorischer Mussolini für den Mittleren Westen.
Die Lage ist, gelinde gesagt, weniger als rosig und sie wird wahrscheinlich schlimmer, ehe sie sich zum Besseren ändert. Aber wie anderswo auf der Welt führt die zugespitzte gesellschaftliche Lage nicht nur zu einer Polarisierung von rechts, sondern auch von links. Unter der Oberfläche des amerikanischen Alptraums gibt es Hoffnungsschimmer und Indizien, dass nicht nur bei den Republikanern, sondern auch bei den Demokraten die alten Spielregel nicht mehr gelten. Schließlich ist es erst zwei Jahre her, dass Bernie Sanders Botschaft eines „demokratischen Sozialismus“ Millionen begeisterte und das lang tabuisierte „S-Wort“ zurück in den politischen Alltag brachte. Diese Millionen Menschen verschwanden nicht nach der Wahl, sondern sind tendenziell sogar mehr geworden. Sie bilden die Grundlage für ein kleines bisschen politische Hoffnung. Seit Dienstag dieser Woche heißt diese Hoffnung Alexandria Ocasio-Cortez.
»Bis vor einem Jahr hat sie noch als Kellnerin gearbeitet«
Mit Alexandria Ocasio-Cortez, Jahrgang 1989, die am 26. Juni in einer Vorwahl zum Repräsentantenhaus ihren etablierten und mächtigen Gegner, Joseph Crowley, geschlagen hat, lernt die USA ein neues politisches Gesicht kennen. Und zwar eins, das in vielerlei Hinsicht ein Novum darstellt: Ocasio-Cortez ist jung (sie wird das jüngste Mitglied des Repräsentantenhauses in der Geschichte), Tochter einer puertoricanischen Migrantin aus der proletarisch und migrantisch geprägten New Yorker Bronx und hat bis vor einem Jahr noch als Kellnerin gearbeitet. Sie bekam so gut wie keine Unterstützung vom Demokratischen Establishment, gab nur ein Zehntel so viel Geld für ihren Wahlkampf aus wie ihr Gegner und wurde als aussichtslose linke Außenseiterin abgeschrieben.
Umso größer war die Überraschung für die Skeptiker also, als die ersten Ergebnisse eintrudelten und Ocasio-Cortez’ eindeutiger Sieg klar wurde: sie gewann die Vorwahl haushoch mit 57 zu 42 Prozent und wird in diesem Wahlbezirk, in dem die Demokraten regelmäßig über 80 Prozent der Stimmen bekommen, bei den Wahlen im November mit Sicherheit ins Repräsentantenhaus einrücken.
Allein die Tatsache, dass ein etablierter Demokrat wie Crowley, der bereits 10 Amtszeiten in Washington absolviert hat und mit dem Fraktionsvorsitz liebäugelte, geschlagen werden konnte, ist im verkrusteten US-amerikanischen Wahlsystem ein kleines politisches Erdbeben. In der Regel werden über 90 Prozent der Amtsinhaberinnen wiedergewählt. Allgemein sinkt die Wahlbeteiligung in den USA und beide Parteien verfügen über mächtige, höchst intransparente Finanzierungsstrukturen, die der Parteizentrale weitgehende Kontrolle über die Parteipolitik sichert. Komplexe, oft einschränkende Wahlgesetze und die astronomischen Summen die der moderne US-amerikanische Wahlkampf erfordert (ihr Gegner Crowley gab knapp 3 Millionen Dollar für seinen Wahlkampf aus) machen die Aussichten für Außenseiterinnen noch düsterer.
Making Socialism Great Again
Aber spätestens seit 2016 ist in den USA das politics as usual vorbei und Ocasio-Cortez’ Kampagne schaffte es mit mutigen sozialen Forderungen und einer Kampfansage an die Elite der Stadt, eine Mehrheit der demokratischen Wählerschaft auf ihre Seite zu ziehen. Ihr Sieg stellt den jüngsten Beweis dar, dass Sozialistinnen in den USA Wahlen gewinnen können – zumindest, wenn sie sich als Demokraten aufstellen. Damit eröffnen sich sowohl spannende neue Möglichkeiten als auch schwerwiegende strategische Fragen.
Es ist ein ewiges Dilemma linker Kräfte in den USA: Einerseits ist das US-amerikanische Parteiensystem so dysfunktional, undemokratisch und fest im Griff der 1 Prozent, dass Veränderung von außerhalb fast wahrscheinlicher erscheint als von innen. Andererseits bilden Wahlen nach wie vor die zentrale politische Arena in den Augen der Mehrheit. Sie sind der Ort, wo politische Zuspitzung zurzeit stattfindet – sowohl auf linker als auch rechter Seite, und überwiegend innerhalb der Strukturen der Demokraten und Republikaner .
Nach Jahrzehnten gescheiterter Versuche, mit unabhängigen Kandidatinnen die Demokraten von links herauszufordern und damit die Hegemonie der Neoliberalen zumindest in Frage zu stellen, hat Sanders‘ Kampf für die Präsidentschaftskandidatur gezeigt, wie tief die Unzufriedenheit der demokratischen Wählerinnenbasis gerade ist und was für bisher undenkbare politische Möglichkeiten sich daraus ergeben.
»Diese Wahl dreht sich um Menschen vs. Geld: wir haben die Menschen, sie haben das Geld«
Es ist Segen und Fluch zugleich: weder Sanders noch Ocasio-Cortez wären außerhalb der Strukturen der Demokratischen Partei möglich gewesen. Mit ihren Erfolgen haben sich die Koordinaten des politisch Vorstellbaren in der US-amerikanischen Öffentlichkeit erheblich nach links erweitert und einen bescheidenen aber nicht insignifikanten Teil der Bevölkerung zu Sozialistinnen gemacht. Da ab November mindestens eine weitere sozialistische Stimme in Washington sitzen wird, kann man ruhig davon ausgehen, dass die dazugewonnene Ausstrahlung weitere US-Amerikanerinnen für den Sozialismus begeistern wird.
Doch ob sich eine Handvoll (zugegeben spektakulärer) Wahlkämpfe in dauerhafte organisierte Strukturen übersetzen lässt, bleibt abzuwarten. Beispiele von gescheiterten Versuchen, einen linken Flügel innerhalb der Demokraten zu etablieren, gibt es mehr als genug – etwas Besseres scheint allerdings gerade nicht im Angebot zu sein.
Ocasio-Cortez selbst ist Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA), einem Spätausläufer der 1972 aufgelösten Sozialistischen Partei Amerikas. Die DSA hat ihre Mitgliedschaft seit der Wahl Trumps vervierfacht – am Tag nach der Wahl traten erneut über 1.000 Menschen ein, was die Gesamtzahl auf über 40.000 brachte. Die Organisation betreibt eine Variante der sogenannten „Innen/Außen“-Strategie, die besagt, dass Sozialistinnen wo nötig als Demokraten bei Wahlen auftreten sollen, um einen sozialistischen Pol zu etablieren. Ob eine unabhängige sozialistische Partei links von den Demokraten das langfristige Ziel dieser Strategie bilden soll, ist in der Organisation umstritten. Unumstritten hingegen ist die Tatsache, dass sie gerade zu funktionieren scheint.
Neue Klassenpolitik? Macht sie einfach
Kandidatinnen wie Alexandria Ocasio-Cortez verdanken wir auch einen hilfreichen Beitrag in der Kontroverse darüber, ob „klassische“ soziale Forderungen mit sogenannten „identitätspolitischen“ Themen verbunden werden können, indem sie es einfach tut. Rhetorisch beschwört sie eine hoffnungsvolle Vision für die Zukunft, die auf allgemeinen Werten wie einem würdevollen Leben für alle beruht. Sie spricht die Probleme des Lebens in einer klaren Sprache an die ungewöhnlich ist für US-amerikanische Politikerinnen, und unterlegt dies mit populären Forderungen wie einer öffentlichen Gesundheitsfürsorge für alle (ein zentraler Aspekt ihres Wahlkampfs) und das Recht auf Wohnen und Arbeit.
Ähnlich wie Bernie Sanders bleibt sie nicht bei ihren Forderungen stehen, sondern weist darauf hin, welche gesellschaftlichen Kräfte es sind, die dieser hoffnungsvollen Zukunft derzeit im Wege stehen. Als jemand, die ihre politische Erfahrung als Grassroots-Aktivistin außerhalb der Institutionen machte, betont sie die Macht der Vielen gegenüber der wenigen Reichen und die Notwendigkeit, dass sie sich organisieren. Ihr Wahlspot, der mittlerweile fast 400.000 Mal auf Facebook angeschaut wurde, spitzt die Sache auf exemplarischer Weise zu: „Diese Wahl dreht sich um Menschen vs. Geld: wir haben die Menschen, sie haben das Geld.“
Anders als Sanders ist Ocasio-Cortez kein 76-jähriger weißer Mann. Ihre Rhetorik integriert ihre Identität als Latina und Frau in ein Narrativ, das untrennbar ist von ihrer gesellschaftlichen Stellung als Arbeiterin. Diese Aspekte ihres Lebens werden nicht gegeneinander gestellt, sondern zusammengedacht, sowohl in ihrer biographischen Erzählung als auch in ihrem Wahlprogramm. Soziale Forderungen werden in den Mittelpunkt gestellt. Nicht, weil sie wichtiger wären als Fragen von struktureller gesellschaftlicher Benachteiligung oder Diskriminierung, sondern weil sie die Grundlage darstellen, auf der wirkliche Freiheit für alle erlangt werden könnte. Diese programmatische Orientierung hält sie keinesfalls davon ab, offen über ihre eigene Lebenserfahrungen als Latina zu sprechen, rassistisch motivierte Polizeigewalt zu thematisieren oder die Abschaffung der drakonischen US-amerikanischen Migrationsbehörde „ICE“, die die jüngsten Horror-Szenen entlang der mexikanischen Grenze zu verantworten hat, zu fordern.
Und warum denn nicht? Wie sie neulich in einem Interview im immer politischer werdenden Vogue Magazine erzählte, ist Sozialismus für sie die logische Konsequenz aus ihrer Erfahrung als Aktivistin in New York. Im Laufe anderer Kampagnen in ihrer Stadt kam sie zum Schluss, dass Sozialismus diese Fragen ergänzt und miteinander verband: „Es gibt keine andere Kraft, keine andere Partei, keine andere echte Ideologie im Moment, die die minimalen Elemente fordert, die nötig sind für ein würdevolles amerikanisches Leben.“ Für sie ist ökonomische Gerechtigkeit kein separates Anliegen neben vielen anderen, sondern im Kapitalismus “intrinsisch und untrennbar” mit allen anderen verbunden.
Kritikerinnen mögen einwenden, dass eine solche Kandidatur zwar vielleicht in einer höchst multikulturellen Gegend wie der Bronx oder Queens funktionieren kann, aber nicht in der Fläche und erst recht nicht in konservativ geprägten Regionen, wo Demokraten eher rechts blinken müssen, wenn sie an der Macht bleiben wollen, um noch Schlimmeres zu verhindern. Dies ist jedenfalls die bevorzugte Erklärung von führenden Figuren in der Partei wie der Abgeordneten Nancy Pelosi, die sich bis heute weigern, sich für eine öffentliche Gesundheitsversorgung auszusprechen. Aber auch im eher konservativ geprägten Bundesstaat Virginia sitzt seit 2017 ein bekennender Sozialist und DSA-Mitglied im Abgeordnetenhaus. Es sind bloß kleine, zarte Pflänzchen, aber mitten im Grauen der Trump-Präsidentschaft scheint sich in den Vereinigten Staaten etwas zum Positiven zu wenden.
Foto: Facebook, NYC Democratic Socialists of America