„Ich habe zum ersten Mal an der Uni von Rosa Luxemburg gehört. Gelesen haben wir ihre Texte aber nicht, wir sind bei Marx und Lenin stehengeblieben“ – so beschreibt eine Aktivistin des uruguayischen feministischen Kollektivs Minervas ihren Zugang zum Werk Luxemburgs. Nicken in der Runde.
Von Julia Wasenmüller
25 Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften Uruguays sind an diesem Freitagnachmittag im April in die Casa Bertolt Brecht (CBB) in Montevideo gekommen. Für die meisten ist es eine erste Annäherung an das Werk der sozialistischen Denkerin. „Revolution, Hoffnung, politischer Kampf, Frau“ – sind weitere Assoziationen, die in der Vorstellungsrunde fallen.
In den kommenden zwei Tagen soll es in einem vom RLS-Büro Buenos Aires organisierten Workshop darum gehen, die Gedanken Rosa Luxemburgs auf die aktuelle Situation in Lateinamerika anzuwenden.
Dem Veranstaltungsort ist die Geschichte von Jahrzehnten politischer Arbeit und Austausch zwischen Deutschland und Lateinamerika eingeschrieben. In der lichtdurchfluteten Bibliothek des frisch renovierten Altbaus: Berliner Bildbände aus den 80ern. Auf einer niedrigen Glasvitrine im Eingang: ein Sammelsurium aus mitgebrachten Broschüren und Zeitungen aus Deutschland, zum Thema NSU-Prozess sowie Infos einer kommunistischen Lokalgruppe in Bayern – und das mitten im Zentrum Montevideos. Gegründet 1964 als Freundschaftsgesellschaft Uruguay-DDR, hat die Casa Brecht den Generationenwechsel der letzten Jahre, als mehrere Gründer*innen starben, offenbar bestens bewältigt.
„Dass wir uns in der Rezeption von Rosa Luxemburg meist auf einige wenige Zitate beschränken, die aus dem Kontext gerissen sind und bei denen teilweise nicht mal klar ist, ob sie tatsächlich von Rosa kommen, hat seine Gründe. Sie war eine Frau, Polin, Migrantin, Jüdin und wurde bis zu ihrem Tod in den kommunistischen Organisationen in Deutschland als Ausländerin behandelt“, führt der Politologe und Dozent Hernán Ouviña in den theoretischen Part des Workshops ein. „Heute würden wir die Vielzahl an Diskriminierungen, denen Rosa Luxemburg ausgesetzt war, mit dem Begriff der Intersektionalität beschreiben. Sie selbst würden wir eine Feministin nennen und ihren Mord einen Femizid.“
Für Ouviña ist Rosa Luxemburg gerade deshalb spannend, weil sie eine „unbequeme“ Marxistin war und ihre Analysen komplexer und ganzheitlicher als die ihrer Zeitgenossen. Sie legte sich mit Marx genauso an wie sie die Bürokratisierung der SPD kritisierte. Laut Ouviña war sie auch eine antikoloniale Vordenkerin. „Luxemburg wurde in einen plurinationalen Kontext hineingeboren, zwischen zwei riesige Imperien, dem deutschen auf der einen Seite, dem russischen auf der anderen. Ihre polnische Muttersprache war verboten, genauso wie etwa 200 weitere Sprachen in der Region, die der Amtssprache Russisch untergeordnet wurden.“
Er vergleicht diesen Kontext mit der Situation, in der sich noch immer viele indigene Communities in Lateinamerika befinden. Wo Marx nur Arbeiter und Bourgeoisie sah, ergänzte Luxemburg diese Analyse der kapitalistischen Ausbeutung in den Kolonien. Aus heutiger Sicht zählt die unbezahlte Reproduktionsarbeit dazu, die hauptsächlich von Frauen und im Globalen Süden ausgeübt wurde und wird.
„Viele hier haben sicher mal die erste Seite des Kapitals von Karl Marx aufgeschlagen. Wenige Zeilen und schon steckt man mitten drin in Wert, Mehrwert, Warenwert, Wert der Arbeit und versteht gar nichts mehr“, bringt Ouviña auf den Punkt, was Generationen von Sozialwissenschaftler*innen auf der ganzen Welt erleben, aber selten aussprechen. „Luxemburg hingegen denkt ihre politische Ökonomie ausgehend vom Alltag und Zusammenleben und bezieht sich auf existierende Beispiele alternativer Ökonomien im Globalen Süden, die sie als „Agrarkommunismus“ bezeichnet.“
„Ihr ging es nicht nur um den Zusammenhang zwischen Arbeit und Kapital, sondern um den Zusammenhang zwischen Arbeit und dem Leben in all seinen Facetten.“ Deshalb ruft Ouviña auch dazu auf, ihre Briefe und pädagogischen Texte, ihr Nachdenken über Beziehungen und Freundschaften, nicht nur als netten poetischen Zusatz zu lesen, sondern in Luxemburgs politisches Werk einzureihen. „Solche ganzheitlichen Ansätze beschreiben wir heute in Lateinamerika mit dem Konzept des Buen Vivir.“
Ouviñas Wissen gleicht einer mentalen Bibliothek marxistischer Denker*innen unterschiedlicher Regionen und Epochen, immer wieder verknüpft und vergleicht er, fasst zusammen, und kommt auf das Hier und Jetzt zurück.
Das konkrete Hier und Jetzt Uruguays beschäftigt alle Anwesenden im Raum in ihrer täglichen politischen Arbeit. Dieses Jahr im Oktober stehen, genau wie in Argentinien, die Präsidentschaftswahlen an. Und auch wenn Uruguay als letztes Land in Lateinamerika mit dem Frente Amplio von einem Bündnis von gemäßigt linken Parteien regiert wird, sorgen sich die Aktivist*innen wegen des Rechtsrucks in der Region mit Jair Bolsonaro in Brasilien und Mauricio Macri in Argentinien.
Das Zusammentreffen von Serpaj (Servicio de Paz y Justicia), der Energiegewerkschaft AUTE, den Minervas und anderen im CBB mit dem Ausgangspunkt der gemeinsamen Lektüre Rosa Luxemburgs soll über die Differenzen der Gruppen hinausgehend dem Austausch und der Vernetzung dienen und auch zur Reflexion und Selbstkritik innerhalb der Linken anregen. Einigen Vertretern der Gewerkschaften und kommunistischen Partei Uruguays fällt es schwer, das spontane Element revolutionärer Ereignisse zu fassen, das Ouviña als Schlüsselgedanken Luxemburgs hervorhebt.
Auch die vorgeschlagene Dialektik von Reform und Revolution ruft viel Bedarf nach Grundsatzdiskussionen hervor. Die Frauen im Raum haben dabei eine klare Position: „Auch wenn wir uns alle gerne auf die Seite der Revolution schlagen, der Kampf argentinischer Frauen um die Legalisierung von Abtreibungen zeigt: Wir brauchen dringend die Reform von Gesetzen. Denn ob Abtreibungen legal oder illegal sind, hat konkrete Konsequenzen für unser Leben.“
Diese aktuellen Debatten bespricht Ouviña in seinem Buch „Rosa Luxemburgo y la Reinvención de la Politica. Una lectura desde América Latina“ (Rosa Luxemburg und die Neuerfindung der Politik. Eine Lektüre ausgehend von Lateinamerika), das er in Zusammenarbeit mit dem Büro der Rosa Luxemburg Stiftung in Buenos Aires Anfang des Jahres veröffentlich hat. Am Freitagabend wird es im CBB präsentiert.
„Hernán ist nicht in erster Linie Dozent oder Autor, er ist hauptsächlich Aktivist,“ sagt Mariana Menéndez von den Minervas. „Wir sind eine neue Generation von Theorieschaffenden aus Arbeiter*innenfamilien, die als erste in der Familie an die Universität gingen und die jetzt ihr Wissen teilen, die Bücher in verständlicher Sprache und ausgehend von sozialen Kämpfen schreiben.»
Das Buch wird im Laufe der Veranstaltung kostenlos verteilt, Ouviña ruft dazu auf, das Material zu vervielfältigen, die Gedankenanstöße vom Wochenende in die Diskussionen und Kämpfe der Kollektive mitzunehmen. Dieser konkrete Aufruf zur Partizipation ist ganz im Sinne Rosa Luxemburgs.
Foto: Gerhard Dilger