Feminististischer Staatsumbau als Teil einer revolutionären Realpolitik?

Viele Sozialist*innen eint inzwischen der Anspruch, revolutionäre Realpolitik im Sinne Rosa Luxemburgs zu betreiben. Statt Reform und Revolution weiter gegeneinander auszuspielen geht es ihnen darum, „die große Idee des sozialistischen Endziels in die Scheidemünze der Tagespolitik umzuwechseln und die politische Kleinarbeit des Alltages zum ausführenden Werkzeug der großen Idee zu erheben“ (Luxemburg 1903, 373). Doch darüber, was dies konkret bedeutet, kann wiederum lange gestritten werden. Und das sollte es auch. Denn es gibt keine letztgültige Antwort auf die Frage, wie eine solche Politik denn auszusehen hätte und viel zu häufig wird Rosa Luxemburgs Gedanke für eine rein rhetorische Radikalisierung von politischer Elendsverwaltung entfremdet. Als Intervention in konkrete Kräfteverhältnisse und Verschiebung einer gesellschaftlichen Realität benötigt sie ebenso sehr einen beständigen Prozess der Analyse als auch einen der Selbstreflexion, -kritik und vielmals -ermutigung. Denn der Anspruch ist hoch und die Mühen der Ebene zahlreich.

Damit die beiden Pole Reform und Revolution in ein spannungsreiches und produktives Wechselverhältnis treten können, müssen sie also immer neu bestimmt und bearbeitet werden muss. Und dafür sind viele verschiedene Stimmen notwendig, das wissen wir heute mehr denn je. So hat die Debatte um Intersektionalität inzwischen ein viel größeres Bewusstsein dafür geschaffen, dass die gesellschaftlichen Realitäten sehr unterschiedlich sein können. Unter diesem Begriff wurde und wird immer wieder Licht darauf geworfen, dass die Verschränkung verschiedener Herrschaftsverhältnisse von Herkunft, Geschlecht und sozialer Klasse jeweils spezifische Betroffenheiten und Ausschlüsse, aber auch Handlungsmöglichkeiten erzeugt. Die Kenntnis dieser Realitäten ist daher unbedingte Grundlage für eine revolutionäre Realpolitik. Nicht also gedacht als eine Aneinanderreihung von immer zahlreicher werdenden Einzelforderungen, sondern als ein Zusammenfließen in ein integrierendes Projekt. Ein Beispiel gibt Cornelia Möhring, frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag: Die historische Forderung der Arbeiterbewegung nach einer Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit beinhalte noch nicht das Fernziel, da die unbezahlte Sorgearbeit noch immer hauptsächlich an Frauen lasten würde. Sie müsse deshalb ergänzt werden zur Forderung nach einer Umverteilung von Arbeit und Zeit, sowie die Neubewertung von Care-Arbeit.

Darüber hinaus ging es Rosa Luxemburg nicht nur um inhaltlich richtige Forderungen. Sicherlich sollte es darum gehen, im Parlament für konkrete Verbesserungen breiter Bevölkerungsschichten zu kämpfen, aber dies stand immer im Dienste eines Lernprozesses. Gleichzeitig galt es deshalb deutlich zu zeigen, dass das Parlament selbst Teil der kapitalistischen Herrschaft ist und die notwendige Umwälzung deshalb nicht in ihm beschlossen werden kann. Parlamentarismus war für Luxemburg deshalb nur ein Mittel neben anderen, wie der Pressearbeit oder dem Generalstreik, die es zu verknüpfen gilt, um die Menschen dazu zu bringen, selbst das Steuer zu übernehmen. „Der lebendige Stoff der Weltgeschichte bleibt trotz einer Sozialdemokratie immer noch die Volksmasse, und nur wenn ein lebhafter Blutkreislauf zwischen dem Organisationskern und der Volksmasse besteht, wenn derselbe Pulsschlag beide belebt, dann kann auch die Sozialdemokratie zu großen historischen Aktionen sich tauglich erweisen“ (Luxemburg 1913, 252). Die parlamentarische Arbeit der Abgeordneten sollte deshalb ganz besonders auch auf eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit zielen, also darauf, „eine Politik von oben zu machen, die eine von unten befördert. Dafür sollten sie [die Abgeordneten] das Parlament als Bühne nutzen“ (Haug 2009, 21). Revolutionäre Realpolitik umschließt in diesem Sinne die strukturelle Transformation der Institutionen.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und Ansprüche erhalten jene praktischen Ansätze besondere Bedeutung, die seit einigen Jahren unter dem Stichwort einer „Feminisierung von Politik“ (oder ähnlichen Begriffen wie einer „Feministisierung“ oder „Entpatriarchalisierung“) entworfen und erprobt werden. Angetrieben von Frauen und Feministinnen, häufig auch Schwarze Frauen oder of colour, die nicht nur Institutionen einnehmen wollen, sondern gleichzeitig deren Spielregeln verändern und ihre zentrale Stellung in Frage stellen. Das hierzulande wohl bekannteste Beispiel sind dabei sicherlich die neuen munizipalistischen Bewegungen insbesondere in den spanischen Metropolen wie Barcelona en Comú und Ahora Madrid, die den feministischen Anspruch der Sorge umeinander sowohl bei ihren politischen Maßnahmen, als auch in ihrer Organisierungspraxis aufriefen. Weniger bekannt, aber äußerst bemerkenswert ist darüber hinaus die Entwicklung des Konzepts geteilter Mandate in verschiedenen Regionen Brasiliens. So etwa der Zusammenschluss Juntas (dt. Gemeinsam) im Landesparlament von Pernambucco, in dem vier Schwarze Frauen gemeinsam in den Wahlkampf gezogen sind, um ein Mandat zu erstreiten und nun gemeinsam auszufüllen. Obwohl noch immer versucht wird ihre Einheit dadurch zu spalten, dass rechtlich gesehen nur eine der vier Frauen das Mandat innehält, formen und vertreten alle vier diese Position. Auch zählt dazu die Gabinetona (dt. Großes Kabinett), die vier Mandate auf Stadt-, Landes- und Bundesebene zusammenbringt und mit einem Team von rund 100 Aktivist*innen hinterlegt. Allen Projekten ist gemein, dass sie parlamentarische Arbeit und den Alltag der Bevölkerung stärker zusammenzubringen, sei es durch Stadtteilkonferenzen in Barcelona oder bei offenen Laboratorien zur Besprechung von Gesetzesvorhaben in Minas Gerais. Sie schaffen Räume des Lernens, Aushandelns und der aktiven Selbstregierung, die auch für Frauen und andere marginalisierte Gruppen leichter zugänglich sind. Sie verbinden Organisierung und politische Bildung, mit der Zusammenführung diverser Stimmen und Forderungen und der Verbreitung über die parlamentarische Bühne. Es verbleibt damit also auch eine Verantwortung bei den organisierenden Führungspersonen.

Auf diese Weise schaffen diese Ansätze überhaupt erst die Grundlagen für eine revolutionäre Realpolitik und heben stärker als früher die feministische und anti-rassistische Perspektive darauf heraus. Auch wenn die jeweiligen Antworten folglich stark lokal und zeitlich situiert sind, sind es allem voran jene strukturellen Ansätze, die durch die Geschichte und über den Erdball hinweg Resonanz erzeugen. Aus diesem Grund formt sich derzeit auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung ein internationales Netzwerk von Frauen innerhalb und außerhalb der Institutionen mit dem Ziel, diese organisierenden Ansätze noch weiter zu verbreiten. Ganz im Sinne ihrer Namensgeberin.

 

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Haug, Frigga, 2009: Revolutionäre Realpolitik – die Vier-ineinem-Perspektive, in: Brie, Michael (Hg.), Radikale Realpolitik. Plädoyer für eine andere Politik, Berlin, 11−26.

Luxemburg, Rosa, 1903: Karl Marx, in: GW 1.2, Berlin, 369−377.

Luxemburg, Rosa, 1913: Taktische Fragen, in: GW 3, Berlin, 246−258

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