Ist die Degrowth-Bewegung nur eine Sache der Industriestaaten? Teilnehmer der Konferenz in Leipzig fordern, die Perspektiven Lateinamerikas stärker zu berücksichtigen und Alternativen zur zerstörerischen Rohstoffausbeutung des Kontinents mit der Wachstumskritik aus Europa zu verknüpfen.
von Eva Mahnke
Lateinamerika verschickt seine Reichtümer. Kohle, Öl, Erdgas, Erze, Metalle, Soja, Palmöl, Mais – aus dem Kontinent strömen riesige Ressourcenmengen in den Rest der Welt. Seit Mitte der 1990er Jahre haben die Staaten Lateinamerikas den Abbau von Rohstoffen erheblich gesteigert. In Ländern mit linken Regierungen wie Venezuela, Bolivien und Ecuador kam ein guter Teil der Einnahmen aus dem Verkauf der Ressouren der Bevölkerung zugute. Mit dem Geld wurden Entwicklungs- und Sozialprogramme finanziert. Der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, ist in vielen Ländern erheblich gesunken. In den Augen vieler ist diese Politik ein echtes Erfolgsmodell.
Die Entwicklung hat aber noch eine andere, dunkle Seite. «Diese Politik ist alles andere als nachhaltig», kritisiert die brasilianische Wissenschaftlerin und Aktivistin Camila Moreno. «Um sie am Laufen zu halten, müssen die Länder ihre natürlichen Ressourcen immer weiter ausbeuten. Schon jetzt ist die Umwelt zum Teil zerstört. Die Bergbauprojekte, Ölfelder und Sojaplantagen rauben der lokalen Bevölkerung ihre Lebensgrundlage. Und was bleibt für die zukünftigen Generationen?», fragt die Forscherin.
Moreno ist Teil einer lateinamerikanischen Delegation, die zur Degrowth-Konferenz gereist ist, um von ihren Erfahrungen zu berichten und die Bewegung für die besonderen Probleme Lateinamerikas zu sensibilisieren. Der «Neo-Extraktivismus» ist Thema von gleich drei Veranstaltungen auf der 4. Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig.
«Wir entwickeln eine Opposition»
In Venezuela, Brasilien, Bolivien und Ecuador gibt es Widerstand gegen die Politik des Extraktivismus und dessen sozialpolitisch geformte Variante des Neo-Extraktivismus. «Wir sind dabei, soziale Bewegungen gegen diese Politik zu entwickeln», berichtet Moreno. Hierbei gehe es darum, vor Ort den Widerstand gegen Minen, Soja-Monokulturen und Ölförderung zu organisieren und die Menschen miteinander zu verbinden, die von solchen Projekten betroffen sind. «Uns alle eint die Idee der Umweltgerechtigkeit«, sagt die Brasilianerin. «Unter ihrem Dach entwickeln wir eine sehr vielgestaltige Opposition im Land.» Allerdings sei das Ganze ein komplexer sozialer Prozess. «Es ist nicht leicht, Strukturen aufzubauen und der Bewegung Kontinuität zu verleihen.»
Denn der Neo-Extraktivismus birgt ein gewaltiges, verlockendes Versprechen für die Bevölkerung: das Ende der Armut, die Überwindung der kolonialen Vergangenheit und den Anschluss an den Lebensstil des Westens. «Ein Großteil der sozialen Bewegungen, darunter die Gewerkschaften, unterstützt die Ressourcenausbeutung, denn sie setzen darauf, dass die Einnahmen aus dem Verkauf des Öls in Bildungsprogramme, Landreformen oder ins Gesundheitssystem fließen», berichtet Moreno. «In der Wahrnehmung vieler Menschen aus Lateinamerika haben wir nun endlich auch einmal das Recht zu konsumieren. Die Menschen messen ihren Lebensstandard daran, ob sie sich einen neuen Kühlschrank oder endlich auch einen Flachbildschirmfernseher leisten können.» Der erhoffte Wohlstand und die aus dem Verkauf der Ressourcen finanzierten Sozialprogramme tragen dazu bei, die Umweltzerstörungen zu legitimieren. In der Tat hat diese Politik für weite Teile der Bevölkerung große Verbesserungen gebracht.
«Rohstoffexport schafft keine Kreisläufe»
Damit die Entwicklung nicht immer weiter auf Kosten der Natur geht, haben Wissenschaftler aus den lateinamerikanischen Protestbewegungen heraus eine theoretische Antwort entwickelt: den sogenannten Post-Extraktivismus. Zu dessen Anhängern zählen etwa Eduardo Gudynas, der Direktor des Centro Latino Americano de Ecología Social (CLAES) in Uruguay, oder der ecuadorianische Politiker und Ökonom Alberto Acosta. Sie fordern, die Rohstoffförderung erheblich zu begrenzen und stattdessen nachhaltige, regionale Formen des Wirtschaftens zu entwickeln. «Der Extraktivismus bringt keine Entwicklung mit sich», kritisiert Acosta, der am Dienstag die Degrowth-Konferenz miteröffnet hatte. Der Exportsektor sei in der Regel vom Rest der Wirtschaft losgelöst, die nationale Industrie werde vernachlässigt. «Dynamische Wirtschaftskreisläufe können auf diese Weise überhaupt nicht entstehen.»
Zudem sei das Modell – trotz aller Vorteile, die es für die Bevölkerung hat – extrem ungerecht. Die Exportländer bekämen nur einen geringen Teil des Gewinns; den größten Profit machten die Länder, die die Rohstoffe verarbeiteten. Die Industriestaaten – und mehr und mehr auch Schwellenländer wie China – sind also ein Treiber dieser Politik. Deren scheinbar unermesslicher Ressourcenhunger macht das Wirtschaftsmodell für ressourcenreiche Staaten in Lateinamerika so attraktiv. Für Acosta sind die Prozesse im globalen Norden und die im Süden zwei Seiten derselben Medaille. Deshalb fordert der ehemalige Energie- und Bergbauminister: «Die Degrowth-Bewegung muss Hand in Hand gehen mit dem Post-Extraktivismus. Wir müssen diese Probleme aus einer globalen Perspektive heraus betrachten.»
Die «Blindstellen» der Debatten überwinden
Auch Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, sieht große Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Strömungen. Beide kritisierten das vorherrschende Modell gesellschaftlicher Entwicklung und stellten Ansätze einer neuen politischen Ökologie dar. Sie beschäftigen sich mit sozialen Strukturen und den damit verbundenen Konflikten und strebten als Lösung eine sozial-ökologische Transformationan. «Sie wollen nicht nur das Wirtschaftsmodell verändern, sondern die gesamte Gesellschaft», sagt Brand, der selbst längere Zeit in Südamerika gelebt hat. Die Bewegungen setzten dabei auf mehr Gerechtigkeit und Solidarität, mehr Partizipation, auf die Selbstorganisation der Menschen und darauf, Lebensbereiche dem Druck des Marktes zu entziehen.
Brand rief dazu auf, dass die vor allem in Europa geführte wachstumskritische Debatte und der Post-Extraktivismus Lateinamerikas sich gegenseitig befruchten sollten. «Ich sehe hier Chancen, dass wir so Blindstellen der jeweiligen Debatten überwinden können», so Brand. «Die Degrowth-Debatte läuft Gefahr, sich zu sehr auf die lokale und nationale Ebene zu konzentrieren. Wir müssen aber den kapitalitischen Weltmarkt und die damit verbundene imperiale Politik verändern.»
Erste Ansätze in diese Richtung gibt es bereits. Die Wissenschaftlerin Kristina Dietz vom Ibero-Amerikanischen Institut an der Freien Universität Berlin kündigte auf der Konferenz an, eine internationale Plattform für diese Diskussion zu schaffen. «Die Degrowth-Debatte ist eurozentrisch», meint auch Dietz. «Wir müssen den Postextraktivismus mit der Degrowth-Bewegung verbinden. Das wird uns dabei helfen, den Wachstums-Imperativ zu überwinden.»
Quelle: klimaretter.info
Foto: Wikimedia Commons, Euyasik via Wikimedia Commons, Eva Mahnke)