Vormarsch der Koalition aus Kugel, Kuh und Kirche

Von Niklas Franzen

homofobia
Foto: Jeso Carneiro/Flickr

„Unseren Schmerz zeigen“. So erklärte Viviany Beleboni ihre Kunstaktion, die landesweit Aufsehen erregte. Hunderttausende feierten am 7. Juni in der brasilianischen Metropole São Paulo die größte Gay-Pride-Parade der Welt. Während die Teilnehmer*innen bunt und ausgelassen über die Prachtstraße Avenida Paulista tanzten, ließ sich das transsexuelle Model auf einem Lautsprecherwagen symbolisch an ein Holzkreuz nageln. An diesem ein Schild mit der unmissverständlichen Forderung: „Schluss mit Homophobie“. Halbnackt, blutverschmiert, in den offenen Haaren eine Dornenkrone: wie einst Jesus harrte Beleboni über fünf Stunden am Kreuz aus.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Innerhalb weniger Stunden erhielt die Künstlerin hunderte Morddrohungen. Unbekannte veröffentlichten im Internet ein Foto mit der angeblichen Leiche Belebonis – eine Fälschung wie sich schnell herausstellte.

Die Evangelikalen-Lobby im Kongress, die bancada evangélica, unterbrach mit Vater-Unser-Gebeten und „Es lebe Jesus Christus“-Rufen eine Abstimmung im brasilianischen Unterhaus und positionierte sich aus Protest gegen die Kunstaktion hinter einem Banner mit Fotos vom vermeintlichen Moralverfall der brasilianischen Gesellschaft. Der Abgeordnete und evangelikale Pastor Marco Feliciano, der in der Vergangenheit mehrfach wegen homophober und rassistischer Aussagen im Fokus stand, schimpfte in einer TV-Talkshow über die Respektlosigkeit des Models und nannte die Aktion ein „Verbrechen“.

„Ich habe die Spuren von Jesus benutzt – gedemütigt, geschlagen, getötet. Genau dies passiert vielen LGBT, aber niemanden schockiert es“, verteidigte Beleboni ihre Aktion im Anschluss. Die Gewalt gegen LGBT ist Alltag in Brasilien und steht im Kontrast zu den schillernden Paraden und der relativ starken Sichtbarkeit sexueller Vielfalt in den großen Städten.

Das Land hat die weltweit höchste Rate an homophob motivierten tödlichen Verbrechen: Alle 27 Stunden stirbt ein Mensch in Brasilien aufgrund von Homo- oder Transphobie. Laut der Organisation Grupo Gay da Bahia kam es im Jahr 2014 zu 326 Tötungsfällen – ein Anstieg von 4,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Mitte Juni wurde die erschlagene Leiche des 14-jährigen Rafael Barbosa de Melo in der Stadt Cariacica im Bundesstaat Espírito Santo gefunden. Die Mutter des Opfers sagte aus, dass ihr Sohn sterben musste, weil er schwul war. In São Paulo starb am 17. Juni die Transsexuelle Laura Vermont nach einem Polizeieinsatz.

Laut Guilherme Morais, LGBT-Aktivist aus São Paulo, durchzieht die Ablehnung sexueller Vielfalt fast alle Bereiche der Gesellschaft. „Ich wollte in einem Seminar ein Journalismus-Projekt zu LGBT-Themen vorstellen, doch es wurde mir untersagt, da meine Universität schwul-lesbische Themen verbietet“, erzählt Morais den Lateinamerika Nachrichten. Als im Fernsehen eine Werbung des Kosmetikherstellers Boticario ausgestrahlt wurde, die unter anderem ein schwules Paar zeigte, hagelte es einen Sturm der Entrüstung. Solche Bilder gefährdeten die traditionelle brasilianische Familie, hieß es von den Kritiker*innen.

„Als ich mich vor meiner Familie geoutet habe, war es, als hätte ich einen Mord gestanden“, erinnert sich Morais. Der Student stammt aus einer evangelikalen Familie und ist am Stadtrand der Mega-Metropole aufgewachsen. Lange Zeit verleugnete der heute 23-Jährige seine Identität. Halt fand er zunächst in der Kirche, die versuchte dem Jugendlichen einzutrichtern, dass er in die Hölle komme, sollte er seine Sexualität ausleben. „Ich habe gedacht wenn ich mich der Kirche zuwende, könnte ich heterosexuell werden“. Erst mit 20 Jahren löste sich Morais von der Gemeinde und begann seine Sexualität zu akzeptieren. „Ich fühlte mich wie neu geboren“, erzählt der junge Mann, der heute in der LGBT-Bewegung aktiv ist.

Im größten katholischen Land der Welt wenden sich immer mehr Menschen den evangelikalen Kirchen zu. Bereits 22 Prozent der Brasilianer*innen bekennen sich zu den protestantisch, evangelikalen Gemeinden, vor allem zu den Pfingstgemeinden. An fast jeder Straßenecke finden sich die kleinen Kirchen, denen oft ein paar Plastikstühle und ein Mikrophon mit Boxen für ihre lautstarken und emotionalen Predigten ausreichen. Jedoch entstehen auch, ähnlich wie in den USA, riesige Prestigebauten.

Im Juli 2014 eröffnete die Universale Kirche des Königreichs Gottes, eine vom selbsternannten Bischof und Multimillionär Edir Macedo gegründete Pfingstbewegung, den Salomo-Tempel in São Paulo. Die hochmoderne Megakirche, mit Hubschrauberlandeplatz und TV-Studio, bietet mehr als 10.000 Gläubigen Platz. Obwohl gegen etliche Kirchen wegen Korruption, Betrug und Geldwäsche ermittelt wird, ist ihr Vormarsch nicht zu stoppen. Man rechnet damit, dass im Jahr 2050 die Hälfte aller Brasilianer*innen evangelikal sein wird.

Auch in der Politik gewinnen die Evangelikalen immer mehr Einfluss. Das Thema Homosexualität entwickelt sich dabei zu einer der zentralen Fragen und bestimmte bereits im Wahlkampf im vergangenen Jahr viele Debatten. So verglich Levy Fidelix, Präsidentschaftskandidat der rechtskonservativen PRTB, während eines TV-Duells Homosexualität mit Pädophilie und sagte, dass Schwule, Lesben und Transsexuelle psychologisch behandelt werden müssten.

Präsidentschaftskandidatin Marina Silva erklärte in ihrem Regierungsprogramm ihre Unterstützung für die Zivilehe zwischen Homosexuellen und das Adoptionsrechts für Schwule und Lesben. Keine 23 Stunden nach der Veröffentlichung zog sie das Programm zurück und stellte eine Version vor, in der alle wesentlichen Punkte in Bezug auf die Gleichbehandlungen von Homosexuellen verändert oder gestrichen waren. Grund für den Rückzieher: Evangelikale, angeführt von Pastor Silas Malafaia, hatten Silva, die selbst Mitglied der US-amerikanischen Pfingstkirche Assembly of God ist, öffentlich unter Druck gesetzt.

Im aktuellen Kongress geben neben Vertreter*innen der Waffenindustrie und des Agrobusiness auch die Evangelikalen den Ton an. Diese neue Dreifaltigkeit im Kongress wird in Brasilien von Kritiker*innen treffend als die Fraktion von bala, boi und bíblia, also Kugel, Kuh und Kirche bezeichnet. 373 der 513 Kongressabgeordneten zählen zumindest zu einer der Fraktionen, viele von ihnen zu mehreren.

Zum Präsident der Abgeordnetenkammer wurde der konservative Hardliner Eduardo Cunha gewählt. Der evangelikale Politiker aus Rio de Janeiro erklärte, dass das Thema Abtreibung nur „über seine Leiche“ im Kongress verhandelt werde und positionierte sich vehement gegen die Eheöffnung für gleichgeschlechtliche Paare. Aufgrund des immer stärkeren Einzugs der Religion in die Politik sehen viele den laizistischen Staat in Gefahr.

Die regierende Arbeiterpartei PT tut sich mit eindeutigen Positionierungen zu LGBT-Themen weiterhin schwer. Im Wahlkampf versprach Präsidentin Dilma Rousseff zwar, die von Aktivist*innen lange geforderte Kriminalisierung von Homophobie in Angriff zu nehmen. In der aktuellen politischen Krise stehen LGBT-Themen jedoch nicht auf der Agenda der Partei. „Rousseff hat uns die kalte Schulter gezeigt“, stellt Morais enttäuscht fest. Aufgrund fehlender Mehrheiten ist die PT auf breite Koalitionen angewiesen – auch mit den Evangelikalen. Eine Kriminalisierung, die eine strafrechtliche Verfolgung von Homophobie als Hassverbrechen wie in Fällen von Rassismus vorsieht, scheint damit in weiter Ferne.

Nur einzelne Gemeinden distanzieren sich vom homophoben Gedankengut des christlichen Mainstreams. Der katholische Pater Júlio Lancelotti und der evangelikale Priester José Barbosa Júnior aus São Paulo wuschen kurz nach der Gay-Parade symbolisch die Füße von Beleboni und baten das Model um Entschuldigung für die transphoben Anfeindungen. „Für uns war dies eine Bitte um Vergebung für die vielen Kreuzigungen, die LBGT-Menschen in Brasilien durchleben müssen. Wir glauben, dass Christen den Unterdrückten, Ausgeschlossenen und denjenigen, die alle Arten Vorurteilen erleiden müssen, dienen sollten“, erklärte Júnior die Aktion im Anschluss.

Die LGBT-Community bietet dem reaktionären Rückschritt im Parlament starken Gegenwind. Auch gesellschaftlich lassen sich langsame Wandel beobachten und LGBT sind im öffentlichen Leben so sichtbar wie nie zuvor: Das Medienimperium Globo zeigte den ersten homosexuellen Kuss in einer Telenovela, mit Rico Dalasam hat Brasilien seinen ersten offen schwulen Rapper und nach der Legalisierung der Homo-Ehe in den USA färbten in kaum einem Land so viele Facebook-Nutzer*innen ihre Profilbilder in Regenbogenfarben wie in Brasilien – sogar Präsidentin Rousseff beteiligte sich an der Aktion.

Vor allem das Internet bietet neue Möglichkeiten und hat bereits „viele Köpfe verändert“, so Morais. „Wo wir jetzt stehen, hätten wir uns vor drei Jahren niemals ausgemalt“. Neben der Öffentlichkeitsarbeit ist gerade die Bildung entscheidend um Vorurteile abzubauen. „Erst wenn ein Kind versteht, das etwas normal ist, kann es akzeptieren“, erklärt Morais. „Und eine bunte Welt ist ein bessere Welt“.

Text zuerst erschienen in den Lateinamerika Nachrichten 493/494.

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