Rote Fahnen in Buenos Aires

Von Jürgen Vogt, neues deutschland
Widerstand gegen Macris neoliberale Strukturanpassung
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Buenos Aires, Dezember 2016: Rote Fahnen auf dem Platz vor dem Kongress. Der Gedenkmarsch für die 23 Opfer der sozialen Proteste vor 15 Jahren setzt sich Richtung Plaza de Mayo in Bewegung. Mit dabei – heute wie damals – ist Julieta Azcarate. »Der 20. Dezember war ein Donnerstag. Alles war im Fluss und Aufruhr. Im Fernsehen zeigten sie, wie die Polizei die Mütter der Plaza de Mayo bei ihrem traditionellen Rundgang behinderte. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.« Jetzt strömten noch mehr Menschen auf die Plaza, die Stimmung radikalisierte sich, und die Straßenkämpfe begannen.
Barrikaden, auf Kochtöpfe trommelnde Menschen, das Rütteln an Gitterrollos der Banken, der Ausnahmezustand, berittene Polizei, Tote und Verletzte und schließlich der vom Präsidentenpalast abhebende Hubschrauber mit dem zurückgetretenen Präsidenten Fernando de la Rúa: Der Dezember 2001 ging als Höhepunkt der tiefen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise in die argentinische Geschichte ein. Im Mai 2003 begann dann die zwölf Jahre währende Ära der peronistischen Linken von Néstor und Cristina Kirchner.
»2001 gab es keine Partei oder Organisation, die diesen Aufstand in eine Richtung hätte lenken können, aber ich glaube, alle, die wir damals auf der Straße waren, haben gespürt, welche Kraft von Menschen ausgeht. Wir konnten eine Regierung stürzen«, sagt Julieta Azcarate. Zum Gedenkmarsch aufgerufen haben linke Organisationen und Parteien sowie die kämpferischen Gewerkschaften.
Peronistischer Personenkult
Es gebe eine ideologische Linke, die sich als kommunistisch oder trotzkistisch ausgerichtet versteht, sagt der Politologe Eduardo Vior. Deren Problem sei, dass es in Argentinien keine breite klassenkämpferische Mentalität gebe. Zum anderen gebe es ein großes Spektrum von Bewegungen und Gruppierungen, die im politischen Lager objektiv links stehen, sich mitunter aber nicht als links bezeichnen, so Vior.
Eindeutig zur Linken gehört die sozialistische Arbeiterpartei PTS. Nicht nur wegen seiner Größe von 1,90 Meter fällt Gerardo Moraztegui auf, sondern auch wegen seiner riesigen Bambusstange, gekrönt von einem PTS-Fähnchen. Der pensionierte Buchhalter ist jedes Jahr dabei. Die meisten, die hier marschieren, sagt er, seien 2001 um die 18 Jahre alt gewesen, heute seien sie um die 35 Jahre. »Da ist eine neue Generation herangewachsen. Es ist ein schönes Gefühl, das mitzuerleben«, freut sich der 72-Jährige. Ja, auch die Kirchner-Zeit habe dazu beigetragen. Anfangs sei da eine Aufbruchsstimmung in eine neue Ära gewesen. »Aber dann holten sie den Personenkult des Peronismus wieder hervor und alle mussten Evita und Perón huldigen, später dann Néstor und am Ende Cristina.«
Argentinien 02
Nach dem Zusammenbruch 2001 musste sich auch die revolutionäre Linke neu formieren. Zersplittert in zahlreiche kleine Parteien, Gruppierungen und Grüppchen unter häufig wechselnden Namen, formierte sich erst 2011 ein solides Bündnis. Die Partido Obrero (PO), die Partido de los Trabajadores Socialistas und die Izquierda Socialista schlossen sich zu einer gemeinsamen Wahlplattform zusammen, um die 1,5-Prozent-Hürde bei den neu eingeführten Vorwahlen zu überspringen, an der sie als Einzelparteien gescheitert wären. Seither erzielen sie als Frente de Izquierda y de los Trabajadores (Front der Linken und der Arbeiter) Achtungserfolge. Gegenwärtig halten sie vier Mandate im Abgeordnetenhaus. Die Gesichter ihrer Delegierten sind bekannt und ihre Positionen werden über die Medien wahrgenommen, der realpolitische Einfluss hält sich freilich in Grenzen.
Keine schlagkräftige linke Partei
Gerardo Moraztegui macht sich über den Peronismus, der auf Juan Domingo Perón (1895-1974) zurückgehenden breiten politischen und gesellschaftlichen Bewegung, deren linkem Flügel die Kirchners angehören, keine Illusionen. Schon in seinen letzten Jahren vor der Militärdiktatur (1976 bis 1983) wären die Linken zum Abschuss freigeben worden. Ab 1976 hätten dann die Militärs die Jagd erst richtig eröffnet. »Damals wurde eine ganze linke und fortschrittliche Generation ermordet, verschwinden gelassen oder ins Exil getrieben.« Von diesem Aderlass habe sich Argentiniens Linke bis heute nicht wirklich erholt. Weiter geht es, Richtung Plaza de Mayo.
2001 war Julieta Azcarate 19 Jahre alt und studierte Soziologie. Später arbeitete sie zunächst als Soziologin. Seit 2010 ist sie Lehrerin. Über die Lehrergewerkschaft kam sie zur PTS. »Die Lehre von damals ist, dass es keine schlagkräftige linke Partei gab. Deshalb ist alles, was wir heute tun, in gewisser Weise eine Vorbereitungsphase, dass wenn wieder ein solcher radikaler, klassenkämpferischer Moment kommt, wir vorbereitet sind.«
Die neoliberale Politik unter dem Präsidenten Carlos Menem (1989-99) in den 1990er Jahren hatte die Gesellschaft demobilisiert und entpolitisiert. Arbeiter, Arbeitslose und Armen waren desorganisiert. Fabrikschließungen und Entlassungen waren an der Tagesordnung. Die Gewerkschaften verloren ihre Mitglieder, zugleich zog Menem ihre Führungsriegen durch lukrative Zugeständnisse, wie etwa die Eigenverwaltung der Sozialkassen, auf seine Seite. Als die Krise Ende der 1990er Jahre ihren Ausgang nahm und 2001 zum totalen Zusammenbruch führte, gab es ein sehr niedriges Niveau an Volksorganisationen.
Das habe sich in den vergangenen zwölf Jahren unter den Kirchners grundlegend gewandelt, sagt Eduardo Vior. »Heute können die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen innerhalb von drei, vier Tagen problemlos über 100 000 Menschen auf die Straße der Hauptstadt bringen. Es gibt den Apparat, es gibt die Struktur, es gibt die Kader, es gibt die Verwurzelung in der Bevölkerung.«
Einen populären Nachfolger hatte Cristina Kirchner nicht parat und der plötzliche Tod von Néstor 2010 machte ein verfassungskonformes »Bäumchen wechsle dich« an der Staatsspitze unmöglich. Gegen den Notnagel Daniel Scioli hatte Mauricio Macri gute Chancen. Nach seinen zwei Amtszeiten als Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires war Macri alles andere als ein Unbekannter. Seine Botschaft von einer Regierung, frei von ideologischen Grabenkämpfen, unter der alle zusammenstehen und zugleich jeder seines Glückes Schmied ist, kam auch bei Teilen der Bevölkerung an, die noch vier Jahre zuvor Cristina Kirchner ihre Stimme gegeben hatten, aber ihren autoritären und polarisierenden Führungsstil satt hatten. Es waren eher solche Stimmungsgründe und weniger harte wirtschaftliche Fakten, die Macri den knappen Vorsprung von 700 000 Wählerstimmen verschafften, der ihn im November 2015 die Stichwahl ums Präsidentenamt gewinnen ließ.
Noch immer ist die politische Opposition dabei, sich nach der Niederlage neu zu orientieren und aufzustellen. Die Kirchner-Anhänger haben sich vorläufig zurückgezogen. Dagegen setzt eine breite Strömung, bestehend aus Teilen der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, darauf, die Regierung zu Verhandlungen zu zwingen. Die Menschen haben Hunger. Armut und Arbeitslosigkeit wachsen, so die Argumentation. Es gehe jetzt nicht darum, ein paar staatliche Zuschüsse zu bekommen, meint Vior, sondern den Staat dazu zu zwingen, die sozialen Organisationen als gesellschaftliche und politische Partner anzuerkennen. »Das neue politische Subjekt ist das Bündnis zwischen den Arbeitern im formellen und informellen Sektor, sprich die Wiedervereinigung der Arbeiterklasse.«
Anfang Dezember verabschiedete der Kongress das Gesetz über den Sozialen Notstand, das zuvor mit der Regierung ausgehandelt wurde. Damit werden die informell Beschäftigten und deren Organisationen erstmals staatlich anerkannt und zugleich werden Lohnrunden zwischen den Organisationen und Regierungsvertretern ausgehandelt. Eingerichtet werden ein staatliches Register für informell Beschäftigte und ein Rat des informellen Wirtschaftsbereichs. Immerhin kann sich die Regierung Macri schon jetzt als die erste nicht-peronistische Regierung rühmen, die ihr erstes Amtsjahr ohne Generalstreik überstanden hat.
Die roten Fahnen haben die Plaza de Mayo erreicht. »Der Preis für das Sozialnotstandsgesetz ist hoch«, sagt Julieta Azcarate. Als Gegenleistung unterschrieben die beteiligten Organisationen den Verzicht auf jegliche Protestaktionen bis Ende 2019. Damit hat sich Macri bis zum Ende seiner Amtszeit den Frieden erkauft. Auch deshalb lehne die PTS den Pakt ab: »Wir sind eine antikapitalistische Partei und wenden uns gegen das bestehende System der Ausbeutung und Unterdrückung. Es geht darum, eine Arbeiterregierung in Marsch zu setzen.«
Foto: Beatrice Murch

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