Nur als Mutter bist du heilig

Vor dem Hintergrund der weiter schwelenden politischen Krise Brasiliens spitzt sich auch die Abtreibungsdebatte erneut zu. Dies könnte zu einem historischen Rückschritt im Hinblick auf Reproduktions- und Sexualrechte führen. Schließlich versucht die fundamentalistische Fraktion von Abgeordneten, die bancada evangélica, einen Gesetzentwurf durchzusetzen, der die Verfassung verändern würde. Dabei soll das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit um den Zusatz „ab dem Moment der Befruchtung“ erweitert werden. Damit würde Abtreibung in jedem Fall strafbar

"Wir gebären, wir entscheiden" Demonstrierende beim Protest gegen den Gesetzesentwurf in São Paulo
«Wir gebären, wir entscheiden» – Demonstrierende beim Protest gegen den Gesetzesentwurf in São Paulo

Von Anna Schlidt, ila
Jährlich unterziehen sich bis zu 500 000 Brasilianerinnen einer Abtreibung. Da muten die aktuellen politischen Entwicklungen ziemlich bizarr an. Statistiken zufolge sterben jeden Tag vier Frauen an den Folgen von Komplikationen beim Eingriff. Meist sind es schwarze und arme Frauen, die sich keine Abtreibung in einer der sicheren Abtreibungskliniken leisten können und deshalb häufiger in illegalen Kliniken zu Tode kommen. Schließlich sind Abtreibungen laut brasilianischem Strafrecht nur bei Anenzephalie, einer Fehlbildung des Fötus, bei drohender körperlicher Gefahr für die Mutter oder im Falle einer Schwangerschaft als Folge einer Vergewaltigung gestattet, was viele Mädchen und Frauen dazu zwingt, riskante Eingriffe vorzunehmen.
Aktuell gibt es neue Gesetzentwürfe zum Thema, die zum größten Teil von Vertretern der bancada evangélica eingereicht werden. Diese bancada besteht seit 2003 und stellt mittlerweile die zweitgrößte Fraktion im Parlament dar, mit Abgeordneten aus 23 verschiedenen Parteien. Brasilien, ursprünglich das größte katholische Land der Welt, hat sich in den letzten 30 Jahren zunehmend „evangelisiert“. Dieser Prozess ist von der Ideologie der US-amerikanischen Pfingstkirchenbewegung beeinflusst worden. In Brasilien werden die neuen religiösen Strömungen auch Neopfingstkirchen genannt, weil sie durch ihre  besonders aggressive Expansion und Mitgliedergewinnung sozio-kulturelles Terrain markiert haben.
Im Jahr 1980 machten Protestant*innen in Brasilien lediglich gut 5 Prozent der Bevölkerung aus, 2010 war ihr Anteil bereits auf fast 25 Prozent der Gesamtbevölkerung geklettert. Durch die zunehmende Präsenz in brasilianischen Armutsvierteln gelingt es den Neopfingstkirchen, Netzwerke aufzubauen, die den Menschen eine helfende Hand reichen, sie aber auch für den „göttlichen Pfad“ instrumentalisieren. Auch aufgrund ihrer Einflussnahme  innerhalb großer Medienunternehmen wie dem Rede Record konnte eine der größten Pfingstkirchen, die Igreja Universal do Reino do Deus, ihre Mitgliederzahl in 30 Jahren vervierfachen. Wohlhabende Pfingtkirchler*innen machen den größten Teil der fundamentalistischen Fraktion im Parlament aus, hinzu kommen Pfarrer, Unternehmer und Anwälte. Gezielte Marketingstrategien ebnen charismatischen Führern den Einzug ins Parlament und verhelfen der bancada evangélica zu immer mehr Einfluss und Macht.
Mittlerweile besteht diese Fraktion aus 85 Abgeordneten und zwei Senatoren, ihre Sitze haben sich seit der Gründung im Jahr 2003 verdreifacht. Durch die politische Expansion gelingt es der Fraktion zunehmend, wichtige Kommissionen zu besetzen, die über Gesetzentwürfe beraten und abstimmen. Dabei handeln die evangélicos nach patriarchalen Werten, die eine traditionelle Familienform vorschreibt und andere Lebensgemeinschaften nicht anerkennt. Um das Fortbestehen der Gesellschaft zu garantieren, soll die „heilige Familie“ verteidigt werden. Dazu gehören nicht nur die Diskriminierung der LGBTIQ-Gemeinschaft, sondern auch Attacken auf das Recht der weiblichen Selbstbestimmung.
So verabschiedete vor kurzem eine vom evangelikalen Abgeordneten Jorge Tadeu Mudalen geleitete Kommission einen Entwurf, der die Abtreibungsgesetze radikal verändern könnte. Im November dieses Jahres stimmte die 28-köpfige Kommission, die überwiegend aus strikten Abtreibungsgegnern besteht und in der lediglich drei Frauen und kein einziger Repräsentant einer linken Partei vertreten sind, für das rückschrittliche Gesetz.
Nun soll dieser Entwurf dem Plenum vorgelegt werden. Soziale Bewegungen nennen ihn „Trojanisches Pferd“, weil der Entwurf eigentlich Regelungen zum Mutterschutz behandeln sollte und mit der Fötusklausel ergänzt wurde. Zurzeit wird in verschiedenen Kommissionen erneut über mehrere Gesetzentwürfe verhandelt, die die Rechte des Fötus in der Verfassung zu verankern suchen. Schon seit Jahren will die fundamentalistische Fraktion die Abtreibungsrechte einschränken; in der aktuellen Verfassungskrise scheint sie damit gerade ein gutes Stück weiterzukommen.
Nach der Amtsenthebung von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT, die im August 2016 mithilfe einer zweifelhaften Begründung abgesetzt wurde, hat die konservative Agenda im Kongress neuen Auftrieb erhalten. Die mehrheitlich weiße und männliche Interimsregierung unter Michel Temer hegt strategische Verbindungen zur religiösen Fraktion, die die Amtsenthebung Dilmas einstimmig und „im Namen Gottes und der Familie“ befürwortete. Und obwohl der nicht gewählte Präsident Temer selbst mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist und eindeutige Tonaufnahmen seine Schweigegeldzahlungen an einen seiner bereits inhaftierten Minister bestätigen, verhindert die konservative Mehrheit im Kongress bis heute Temers Strafprozess. Im Zuge des parlamentarischen Chaos stellt sich die Abtreibungsdebatte als hervorragendes politisches Druckmittel heraus, das die religiöse Fraktion im Gegenzug für ihre Stimmen (quasi als „göttlichen Beistand“) in der Korruptionsaffäre des Präsidenten gezielt einsetzt.
In rasantem Tempo hat die Übergangsregierung neoliberale Reformen verabschiedet, die die Kürzung von Staatsausgaben für Bildung und Gesundheit sowie die Beschneidung von Arbeitsrechten vorsehen. Die sozialen Folgen der staatlichen Sparpolitik werden erneut die ärmsten Schichten zu tragen haben, da die Drosselung der Sozialausgaben die bereits jetzt gravierende soziale Ungleichheit Brasiliens weiter verstärken wird. Aktuelle Armutsstatistiken zeigen, dass mehr Frauen als Männer von extremer Armut betroffen sind; unter den Frauen sind es wiederum überwiegend Afrobrasilianerinnen, die in extremer Armut leben. Diese Zahlen verdeutlichen den strukturellen Sexismus und Rassismus in Brasilien, was durch die politischen Maßnahmen der aktuellen frauenfeindlichen Regierung noch befördert wird.
Manifestação contra PEC181(1)Die heftigen Angriffe auf die brasilianischen Frauenrechte, die in der Abtreibungsdebatte gerade akut werden, leiten sich aus historisch gewachsenen und kulturell legitimierten Gewaltstrukturen ab, die in Brasilien auch als Rape Culture bezeichnet werden. Täglich sterben 13 Frauen an den Folgen von sexueller, häuslicher oder polizeilicher Gewalt. Somit steht Brasilien auf Platz 5 der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen.
Die soziale Ungleichheit, die daraus entstehende Prekarisierung der weiblichen Lebenszusammenhänge sowie der fehlende politische Wille, für soziale Gleichberechtigung zu sorgen, fördern die Normalisierung der Gewalt gegen Frauen. Obwohl die Weltfrauenkonferenz von Peking 1995 bereits eine parlamentarische Frauenquote von 30 Prozent gefordert hatte, liegt die weibliche Beteiligung im brasilianischen Parlament noch heute bei unter 10 Prozent. Die Anerkennung von Frauenrechten kann somit nur mühsam durchgesetzt werden.
Der brasilianische Religionssoziologe Ricardo Mariano beschäftigt sich mit verschiedenen Schwerpunkten der religiösen Expansion in Brasilien. Er beschreibt die Pfingstkirchen als religiöse Bewegung, als demografische Potenz und als politischen Player. Durch ihre Präsenz in den Medien verfügen sie über ein immenses Potenzial, um die moralischen Werte zu beeinflussen. Laut Mariano verstehen sich einige Pfingstkirchen als moderne Erlöserbewegung, deren heilige Mission die Sozialisierung und Errettung der Massen sei.
Die daraus resultierende Zunahme der Anhängerschaft machte sich bei den Kommunalwahlen von 2016 bemerkbar, als sich in Rio de Janeiro erstmals ein Pfarrer, Marcelo Crivella, gegen Marcelo Freixo von der Linkspartei PSOL durchsetzte. Crivella ist der Neffe des Gründers der Pfingstkirche Igreja Universal do Reino do Deus, die eines der größten Medienunternehmen Brasiliens gekauft hat und durch massive Präsenz fest in der populären Kultur integriert ist.
Crivella war bis vor seinem Amtsantritt Senator, Vorsitzender der religiösen Fraktion und übte bereits im letzten Wahlkampf politischen Druck aus. In der Wahlkampagne von 2015 hatte Dilma versichert, die Gesetzgebung zur Abtreibung nicht lockern zu wollen, um die religiösen Wähler*innen bei der Stange zu halten. Im Gegenzug publizierte Crivella seine „Sieben Gründe, um Dilma zu wählen“ und trug damit zu ihrem Wahlsieg bei. Durch ihre Dominanz sind die Abgeordneten der bancada evangélica in der Lage, ihren fundamentalistischen Diskurs fest in der parlamentarischen Debatte zu verankern.
Laut Mariano streben die evangélicos die politische, religiöse und ökonomische Vormachtstellung an, um die brasilianische Gesellschaft nach den fundamentalen Wertvorstellungen der Bibel umzuformen. Die Abgeordneten der bancada evangélica diskriminieren in öffentlichen und politischen Diskursen die Abtreibung, die Ehe zwischen Gleichgeschlechtlichen oder die staatliche Verpflichtung zur weltanschaulichen Neutralität im Schulwesen. Damit ignorieren sie die laizistischen Grundlagen des brasilianischen Staates.
Durch die Kooperation und Vernetzung mit konservativen Kräften im Kongress schreitet die fundamentalistische Gesinnung weiter voran und erhält dadurch ihre politische Legitimation. Die drohende Kriminalisierung der Abtreibung stellt die demokratische Verfassung Brasiliens und menschenrechtliche Grundsätze infrage, weil Frauen zur Schwangerschaft verdammt wären, auch wenn gesundheitliche, ethische oder soziale Verhältnisse gegen die Mutterschaft sprechen.
Vor dem Hintergrund des alarmierenden Frauensterbens in Brasilien ist es allerhöchste Zeit, die Grundwerte des laizistischen Staates zu verteidigen und die fortschreitende Moralisierung der Menschenrechte zu beenden. Länder wie Uruguay haben bewiesen, dass die Zahl der Abtreibungen seit der Entkriminalisierung deutlich abgenommen hat, weil Frauen begleitet sowie über gesundheitliche und psychische Risiken und Folgen informiert werden, um eine freie Entscheidung treffen zu können. Eine Legalisierung könnte Leben retten und eine Politik etablieren, die die Gesellschaft für Frauenrechte sensibilisiert und einen Wandel bei den Wertvorstellungen begünstigt, die mit den Gewaltstrukturen endlich bricht.
Fotos: Laura Burzywoda

Te puede interesar

No se ha encontrado ningun artículo relacionado