Das Versagen der Bundesrepublik

Wann werden die Opfer der Sekte «Colonia Dignidad» entschädigt? Angesichts des Besuchs einer deutschen Parlamentariergruppe in Chile fordert Völkerrechtler Andreas Schüller «die längst überfällige Unterstützung» ein.

 Interview von Kersten Knipp, Deutsche Welle
Colonia Dignidad Parral, Chile Juli 2005 Foto: Gerhard Dilger
Seit Jahren drängen die deutschen und chilenischen Opfer der Colonia Dignidad auf Entschädigung und Wiedergutmachung durch die deutsche Regierung. Zurzeit besucht eine deutsche Parlamentariergruppe erneut die ehemalige Siedlung der deutschen Sekte im Süden Chiles. Die sogenannte Kolonie der Würde wurde von dem Jugendbetreuer und Laienprediger Paul Schäfer in den 1960er Jahren gegründet.
Schäfer pflegte enge Beziehungen zum Militärregime von Augusto Pinochet. Die Colonia Dignidad diente dem Militärregime auch als Folterstätte. Schäfer errichtete ein Regime von Zwangsarbeit und Unterdrückung, Kinder wurden sexuell missbraucht, Sektenmitglieder gefangen gehalten. Die deutsche Botschaft in Chile kümmerte sich nicht um die Opfer. Im Juni 2017 stimmte der Deutsche Bundestag einstimmig für die Aufarbeitung der in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen.
Deutsche Welle: Herr Schüller, derzeit halten sich mehrere deutsche Parlamentarier auf dem Gelände der Colonia Dignidad auf. Es ist nicht die erste Reise dieser Art. Wie bewerten Sie die jüngste Entwicklung in dieser Frage?
Andreas Schüller: Vor einem Jahr stimmten alle Fraktionen für den Antrag zur Aufarbeitung der Verbrechen. Ich bewerte es als positiv, dass die Parlamentarier zu einem Zeitpunkt dorthin reisen, wo auch Gespräche des Auswärtigen Amtes und der Ministerien in Chile stattfinden. Das verleiht dem Beschluss des Bundestages noch mehr Nachdruck.

Andreas Schüller ist Völkerrechtler und Mitarbeiter des «European Center for Constitutional and Human Rights» (ECCHR). Er ist Mitautor der Anklageschrift gegen den Arzt Hartmut Hopp, der gemeinsam mit Sektenchef Paul Schäfer die Colonia Dignidad aufbaute.

Der Beschluss des Bundestages kam erst knapp 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur in Chile zustande. Ist das nicht etwas spät?
Der Bundestag hätte sich schon viel früher und viel deutlicher äußern können und müssen – nämlich bereits zu Zeiten der Diktatur (1973-1989) in Chile. Die damaligen Bundesregierungen hätten im Grunde sogar noch früher, nämlich bereits in den siebziger Jahren, aktiv werden müssen. Damals wurde erstmals bekannt, was in der Colonia Dignidad passiert – nämlich Zwangsarbeit, sexueller Missbrauch von Kindern. Ab 1973 gab es dann die sehr enge Kooperation mit dem Geheimdienst DINA des Pinochet-Militärregimes. Insofern kommt es jetzt sehr spät – einzelne Täter sind bereits verstorben. Und viele sind jetzt im Rentenalter.

Chile Colonia Dignidad ( Asocacion por la Memoria y los Derechos Humanos Colonia Dignidad) Gedenken an die Opfer der Colonia Dignidad im September 2015

Sie haben die Anklage formuliert, die das «European Center for Constitutional and Human Rights» (ECCHR) im Jahr 2011 gegen den damaligen Arzt der Colonia Dignidad, Arzt Hartmut Hopp, eingereicht hat. Hopp wurde wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch in Chile zu fünf Jahre Haft verurteilt, wird aber als deutscher Staatsbürger nicht nach Chile ausgeliefert und lebt derzeit in Nordrhein-Westfalen. Was ist Gegenstand der Anklage?
Hartmut Hopp setzte sich nach Deutschland ab, als er in Chile mit einem Haftbefehl gesucht wurde und kurz bevor das Urteil gegen ihn rechtskräftig wurde. Danach hätte er in Chile seine Haft antreten müssen. Daraufhin haben wir 2011 eine Strafanzeige gegen Hopp eingereicht. Kurz danach eröffnete dann die Staatsanwaltschaft Krefeld ein Ermittlungsverfahren gegen ihn. Darin geht es um Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern. Es geht um Körperverletzung durch den missbräuchlichen Einsatz von Psychopharmaka. So wurden Personen auf dem Gelände oder im Krankenhaus der Colonia Dignidad ruhig gestellt. Und es geht um Beihilfe zum Mord – nämlich zum so genannten «Verschwindenlassen» von chilenischen Oppositionellen in den siebziger und achtziger Jahren.
Und wie ist der Stand des Prozesses?
Bislang hat es die Staatsanwaltschaft versäumt, alle in Deutschland lebenden Verantwortlichen von damals zu vernehmen. Die Staatsanwaltschaft hat Akten angefordert, die dann auch kamen. Aber es war immer ein sehr schleppender Prozess. Er wurde nie priorisiert vom Land Nordrhein-Westfalen. Seit sieben Jahren ist er vollkommen ergebnislos. Hartmut Hopp, der in Chile schon längst eine Freiheitsstrafe hätte verbüßen müssen, läuft in Deutschland immer noch frei herum – ohne sich einem gerichtlichen Verfahren stellen zu müssen.
Warum bleibt die Unterstützung in NRW aus?
Es sind natürlich schwierige Ermittlungen. Es geht um Taten, die lange zurückliegen und die teilweise in einem anderen Land passiert sind. Das ist immer schwierig zu ermitteln. Aber gerade dann muss man die Ermittlungen priorisieren. Man muss der Staatsanwaltschaft – oder einem einzelnen Staatsanwalt – entsprechenden Raum gewähren, und es müssen endlich die Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, damit das Verfahren ordentlich geführt werden kann und der Gesamtkomplex Colonia Dignidad endlich aufgeklärt wird – und zwar unter Berücksichtigung aller Zeugen und Beweismittel, die in Chile und in Deutschland verfügbar sind. Wir gehen davon aus, dass noch weitere Tatverdächtige in NRW und in Deutschland leben, gegen die ebenfalls ermittelt werden muss.
Nun soll ein Hilfsfonds eingerichtet werden, wenn auch noch offen ist, wie das geschehen soll und wie er ausgestattet sein wird. Wie bewerten Sie diesen Entschluss?
Zum einen ist es wichtig festzuhalten, dass es auch ein Versagen der Bundesrepublik gibt. Das hat der damalige Außenminister Steinmeier auch so benannt und festgehalten. Deshalb muss es schnell und unbürokratisch die längst überfällige Unterstützung geben. Viele Personen, die aus der Colonia Dignidad nach Deutschland kamen, sind auf Unterstützungsleistungen angewiesen. Sie haben teilweise Zwangsarbeit verrichtet, ohne in irgendein Sozialsystem eingezahlt zu haben. Das Gleiche gilt allerdings auch für chilenische Betroffene – auch sie müssen berücksichtigt werden. Darum ist ein unbürokratisch zugänglicher Hilfsfonds in jedem Fall erforderlich. Da steht Deutschland in der Verantwortung. Es geht im Übrigen um einen relativ überschaubaren Personenkreis.

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