Keine abstrakte Krise

Von Julia Wasenmüller

Bereits Stunden vor dem Einlass stehen die Zuhörer*innen Schlange auf den Fluren und sitzen in kleinen Gruppen wartend auf dem Teppichboden. Die Szene erinnert an ein ausgebuchtes Rockkonzert. Wir befinden uns aber auf der Internationalen Buchmesse in Buenos Aires. Der erwartete Star: Keine Ikone aus dem Radio, sondern die feministische Anthropologin Rita Segato, die an diesem Abend am Gespräch über das Buch «Eine feministische Lektüre der Schulden» von Luci Cavallero und Verónica Gago teilnehmen wird.

Dass Frauen wie Segato riesige Auditorien füllen und mit Jubelrufen begrüßt werden, während der rechtsliberale Kulturminister Pablo Avelluto bei seiner Eröffnungsrede der Buchmesse über Minuten ausgebuht wird und keinen Satz beenden kann, zeigt, wie politisch aufgeladen derzeit alle öffentlichen Räume Argentiniens sind. Dabei ist die Buchmesse eigentlich ein ziemlich kommerzielles Ereignis.
Auf jeder freien Fläche des 45.000 Quadratmeter großen Messegeländes prangt das fette Logo der Tageszeitung Clarín. Und auch wenn die Messe auf den ersten Blick den Eindruck einer florierenden Verlagswelt vermitteln will, geht es unter den Fachbesucher*innen hauptsächlich um die Situation der argentinischen Wirtschaft und die Dauerschwankungen des Dollarkurses.

Außerdem stehen im Oktober die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an und die Frage, wie es weitergehen wird, ist allgegenwärtig. Die linksperonistische Expräsidentin Cristina Fernández de Kirchner, die sich gute Chancen auf ein Comeback ausrechnet, hat in diesem Kontext ihr 600-Seiten-Überraschungsbuch «Sinceramente» (Ehrlich gesagt) veröffentlicht, das sogleich zum Bestseller des Jahres avanciert ist.

Politisierung des Privaten

Das handliche Büchlein von Cavallero und Gago, welches von der RLS Buenos Aires publiziert wurde, gibt es kostenlos. Nebst Rita Segato und den beiden Autorinnen sitzen drei Aktivistinnen auf dem Podium, deren Erfahrungsberichte das Werk erst zu dem machen, was es ist: Eine Aufforderung zum politischen Tätigwerden. Cavallero erklärt, wie die Idee entstand, mit einer feministischen Perspektive auf das Thema Schulden zu blicken: «Die Erfahrungen, die wir seit drei Jahren mit der Streikorganisation am 8. März machen, gaben uns die Möglichkeit, die Gewalt des Finanzsystems ausgehend vom Alltag von Frauen und Queers zu verstehen. Wir wollten Wirtschaftsthemen, die uns oft als super abstrakt, algorithmisch und unverständlich präsentiert werden, ins Hier und Jetzt holen, um sie politisch angreifbar zu machen. Denn deren Auswirkungen spüren wir Tag für Tag am eigenen Körper.»

Staatsschulden und private Schulden haben dabei laut Cavallero einen konkreten Zusammenhang. «Wenn der Staat aufgrund der Spardiktate des Internationalen Währungsfonds die Ausgaben in den Bereichen Bildung oder Gesundheitsversorgung kürzt, dann sind es Privathaushalte, die diese Kürzungen auffangen müssen und sich wiederum verschulden, um beispielsweise Medikamente bezahlen zu können.»

Das Offenlegen privater Schulden sei oft schambesetzt und tabuisiert. Viele Menschen nähmen ihre finanziellen Sorgen als persönliches Versagen war – eine individuelle Verkörperung der Krise des Kapitalismus, findet Cavallero: «Über all diese Probleme müssen wir öffentlich sprechen und sie kollektiv angehen. Die Politisierung des Privaten ist ja schon lange eine bewährte feministische Praxis.»

Und so setzt das Buch den Abstraktionen des Finanzsystems drei sogenannte «Gegenabstraktionen» entgegen: 1. Die Sichtbarmachung der Gewalt der Finanzmärkte an konkreten Körpern, und zwar den Körpern von Frauen und Queers. 2. Das Aufzeigen konkreter Bilder davon, wie Schulden sich in Gewalt verwandeln. 3. Das Offenlegen der Mehrfachbelastung von Frauen und Queers durch Lohnarbeit und unbezahlten Reproduktionsarbeit. Und all das auf 94 Seiten in zugänglicher und klarer Sprache, ohne unnötige Verkomplizierungen.

Autorin Verónica Gago ergänzt: «Ein feministischer Blick auf die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt, dass es gerade nur nicht explodiert, weil die Krise implodiert und in den privaten Haushaltskassen stattfindet. Um Klartext zu sprechen: Gerade verschulden sich Menschen in Argentinien, um Nahrungsmittel, lebensnotwendige Medikamente oder die Stromrechnung bezahlen zu können. Und diese Schulden bedeuten eine Zukunft in Prekarität und Unfreiheit, denn sie zwingen uns dazu, auch Jobs unter ausbeuterischsten Bedingungen anzunehmen, nur um unsere Schulden begleichen zu können.»

Nach den beiden Autorinnen kommen die Aktivistinnen zu Wort, die ihre Lebensrealitäten in Interviews und Erfahrungsberichten mit Cavallero und Gago teilten.

Stimmen von unten

Eva Reinoso ist Teil des feministischen Kollektivs «Yo no fui» (Ich war´s nicht), das künstlerische und politische Arbeit mit Frauen und Queers innerhalb und außerhalb von Gefängnissen organisiert. Sie berichtet davon, wie sie und andere Inhaftierte gemeinsam das Buch lasen und darüber reflektierten, welche Bedeutung das Thema Schulden im Kontext von argentinischen Frauengefängnissen habe.

Jetzt sitzt sie neben Segato auf einem Podium der Buchmesse und liest einen von ihr verfassten Text vor: «Schulden belasten unsere Körper vor dem Gefängnis, bringen uns ins Gefängnis und machen uns drinnen Probleme. Wenn wir uns anschauen, wer in Argentinien im Knast landet, wird deutlich: Es sind diejenigen, die in einem bestimmten Territorium, einer bestimmten sozialen Klasse und mit einem bestimmten Geschlecht geboren werden: Migrant*innen, schwarze Frauen*, arme Frauen*, Frauen* ohne festen Wohnort, Prostituierte, Trans* und Travestis.» Im Publikum sitzen weitere Aktivist*innen der Gruppe, die Reinoso zujubeln, jeden Absatz beklatschen und ihr Mut zusprechen, weiterzulesen. Es sind diese Momente und Menschen, die den Abend prägen.

«Viele sind alleinerziehende Mütter und müssen ihre Kinder außerhalb des Gefängnisses weiterversorgen. Da sie für die vielen Stunden Arbeit in der Haft kaum bezahlt werden, versuchen sie sich zum Beispiel durch zusätzliche Näharbeiten über Wasser zu halten. Und all das, nur um sich nicht zu verschulden, während sie inhaftiert sind. Männer sind im Gefängnis nicht dem gleichen Druck ausgesetzt.»

Die letzten Absätze liest Reinoso mit besonderer Bestimmtheit: «Früher dachte ich, meine Strafe sei gerechtfertigt. Ich habe mich schuldig dafür gefühlt, dass ich klauen musste. Ich habe mich geschämt. Heute weiß ich, dass jede Gefangene eine politische Gefangene ist.»

Daisy Balcera und María Benítez von der FOB (Federación de Organizaciones de Base), einer Basisorganisation von Frauen, Lesben, Travestis und Trans im Hauptstadviertel Lugano, knüpfen an Reinosos Worte an. «In unserem Viertel leben hautsächlich Migrant*innen, die im Reinigungssektor arbeiten. Wir sind diejenigen, die sich darum kümmern, dass die Haushalte laufen und das Essen auf den Tisch kommt. Die Konsequenzen der Krise treffen uns am stärksten», berichtet Balcera. Die Mitglieder der FOB haben daher Mechanismen entwickelt, um kollektiv mit dieser Belastung umzugehen. Einmal wöchentlich treffen sie sich in einer Versammlung und zum so genannten Pasanaku.

«Pasanaku ist ein Quechua-Wort und beschreibt ein System des kollektiven Sparens. Es funktioniert so: Zehn Personen kommen zusammen. Jede steuert 100 Pesos bei und eine Person bekommt die zusammengelegten 1000 Pesos. Allein würde diese Person niemals einen solchen Betrag auf einmal erwirtschaften können. Dann wird jeden Monat zusammengelegt und das Geld geht immer an eine andere.»

Balcera erklärt, dass sich die Frauen so erstmals größere Anschaffungen leisten können, ohne sich bei Banken oder Geschäften zu verschulden. «Beim Pasanaku gibt es keine Zinsen oder persönliche Interessen. Wir vertrauen und helfen uns gegenseitig. Dieses Konzept ist nicht neu, es exisitert schon ewig. Meine Mutter zum Beispiel hat sich zu ihrer Zeit genauso mit Frauen organisiert. Nur müssen wir hier in Argentinien wegen der Inflation wöchentliche Runden anstatt monatlicher machen. Sonst hat die letzte Person in der Runde einen Nachteil.» Das Publikum zeigt sich amüsiert über dieses Pasanaku a la Argentinien.

Gemeinschaft, Vertrauen und Solidarität

Rita Segato, die Berühmtheit in der Runde, hat bis hierhin nur zugehört und spricht als letzte, sichtlich bewegt: «Ich bin beeindruckt von der kollektiven Leistung, die dieses Buch verkörpert und welche Debatten ihr damit angestoßen habt.»

Sie wendet ihre Worte an die Aktivistinnen neben sich: «Ein Thema, das mich als Anthropologin beschäftigt, ist die Verwurzelung von Menschen mit ihrer Kultur, ihren Traditionen und Territorien. Schulden machen es Menschen unmöglich, so zu leben, wie sie wollen. Sie zwingen sie in menschenunwürdige Arbeitsbedingungen oder zur Migration. Schulden entmenschlichen und objektifizieren, sorgen für Misstrauen und Missgunst untereinander. Mit dem Pasanaku wird genau diesen Prozessen entgegengewirkt, denn hier geht es um Gemeinschaft, Vertrauen und Solidarität.»

Reinoso rät sie, weiterhin Texte zu schreiben und sonst hat Segato inhaltlich gar nicht mehr viel hinzuzufügen. Ein bisschen haben Reinoso, Balcera und Benítez ihr die Show gestohlen.

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