Ein Gespräch mit Casé Angatu Xukuru Tupinambá* über die Situation der Indigenen in Brasilien, das Bildungssystem und den Landraub unter Bolsonaro.
Von Lisa Pausch, Junge Welt
Die UNESCO hat 2019 zum »Internationalen Jahr der indigenen Sprachen« erklärt. Glauben Sie an die Wirkungskraft solcher Initiativen?
Eher nicht, das bleibt wohl nur ein symbolischer Akt. Ein guter Teil der brasilianischen Indigenen spricht ursprüngliche Sprachen überhaupt nicht mehr. Man sollte heutzutage überlegen, was eigentlich indigene Sprachen sind. Sie haben andere beeinflusst, sind präsent im brasilianischen Portugiesisch, im Spanischen in Chile, Uruguay oder Argentinien.
Wenn damit lediglich eine Sprache gemeint ist, die in der Natur gesprochen wird, bestätigt das ein Vorurteil, gegen das viele Indigene kämpfen: die Annahme, dass man weniger indigen ist, wenn man nicht mehr so spricht wie die Vorfahren im 16. Jahrhundert.
Sie selbst sind mit der Sprache Tupi aufgewachsen.
Ja, ich habe Portugiesisch erst mit 17, 18 Jahren gelernt. Das war enorm schwierig!
Aber als Jugendlicher besuchten Sie doch die Sekundarschule, wo Portugiesisch die Unterrichtssprache war.
An den öffentlichen Schulen bestand quasi jeder. Ich verstand kaum etwas von dem, was die Lehrer sagten.
Sie sind in einem Dorf von Indigenen im Bundesstaat São Paulo aufgewachsen. Wie kann man sich Ihre Kindheit und Jugend vorstellen?
Ich bin in einer Gemeinschaft von achtzig Xukurus aufgewachsen, das war zur Zeit der Militärdiktatur (1964–1985). Wir Indigenen wurden gedemütigt für unser Aussehen, für das, was wir sind, wie wir reden. Ich habe mich geschämt, Indigener zu sein.
Was haben Sie unternommen?
Verstecken konnte ich meine Herkunft natürlich nicht. Also versucht man alles, um auf anderen Wegen herauszustechen, die Sprache des anderen zu beherrschen, zu beweisen, dass man so gut ist wie er. Ich hatte es zwar an die Uni geschafft, konnte aber nicht korrekt sprechen und schreiben. Wenn man sich aber geschlagen gibt, sagen die Leute: Seht mal, der Indio kommt an die Uni und kann nicht schreiben.
Damals war ich, wie gesagt, 17 oder 18 Jahre alt. Ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen, zwei- oder dreimal. In Brasilien ist die Suizidrate unter Indigenen besonders hoch, vor allem unter denjenigen, die im Kontakt mit der nicht-indigenen Kultur sind. Man passt nicht zu den Schönheitsidealen, nicht zur Sprache, die ganze Zeit wird man getestet.
Sie arbeiten heute als Akademiker und beschäftigen sich viel mit dem Kampf um Land. Wie lassen sich die beiden Felder miteinander verbinden?
Manchmal laden mich Schulen von Indigenen zu ihren pädagogischen Versammlungen ein. Da frage ich die Lehrkräfte: Wofür ist diese Schule da? Sie sagen: um Ärzte auszubilden, oder Anwälte. Ich sage: Sie ist dafür da, Kämpfer in der indigenen Frage auszubilden – nicht nur Menschen für den formalen Arbeitsmarkt.
Paulo Freire (1921–1997), der Patron des brasilianischen Bildungssystems, sagte, die Schule sei dafür da, Staatsbürger zu formen. Nehmen wir also einen jungen Mann aus einem Viertel an der östlichen Peripherie von São Paulo: Er ist arm, lernt an einer Schule, um an die Uni zu kommen, Arzt zu werden und wieder zurück in seine Gemeinschaft zu gehen. Das ist die Macht der Bildung.
Die indigene Schule sollte dafür da sein, einen kämpferischen Indigenen auszubilden, der erst an die Uni geht und dann zurück in seine Gemeinschaft. Das ist nicht einfach, dafür braucht es viel Hingabe. Man kann Mathematik etwa für den Hausbau anwenden, dann kommt sie dem indigenen Kampf zugute. Es gibt Lehrer an indigenen Schulen, die diesen Zusammenhang nicht herstellen. Sie schaffen es nicht, den Unterricht zu Geschichte oder Chemie mit dem Kampf zu verbinden.
Geht es bei diesem Kampf nicht darum, vorherrschende Grundsätze der akademischen Welt aufzubrechen und traditionelles Wissen der Indigenen an Hochschulen zu etablieren? Sie sind auch an der Universität geblieben.
Ja, aber bereits mit einem Bewusstsein, das mit Kampf verbunden war. Das wird nicht immer gut angesehen. Es ist eine schwierige intellektuelle Arbeit, mit nicht-indigenem Wissen zu arbeiten. Ich versuche das, so gut es geht. Die meisten Universitäten sind auf diese Verbindung aber nicht vorbereitet.
Wie man hört, läuft Unterricht bei Ihnen anders ab als üblich …
Bei mir gibt es kaum Prüfungen, und alle bestehen, meistens mit voller Punktzahl, also mit zehn Punkten. Wer nicht kommt, bekommt sieben Punkte, denn er zeigt nicht mal Interesse. Ich bin ja nicht seine Mutter oder sein Vater, sondern Professor. Jeder ist für sein Wissen selbst verantwortlich.
Bei mir gibt es nicht viel Text. Der Unterricht ist mehr auf Dialog ausgelegt, ganz in indigener Tradition. Die Narrative in meiner Gemeinschaft sind nicht statisch. Sie kommen und gehen im Kreis. Dann fragt mich manchmal ein Student: Wie soll ich so studieren? Ich antworte: Ja, hör aufmerksam zu, wenn ich von Autoren erzähle; danach kannst du studieren. Und wenn sie dann fragen, ob sie vorher nicht lesen müssen, sage ich: Nein, komm einfach zum Unterricht, und wir unterhalten uns.
Wie reagieren die Studierenden darauf?
Einfach ist das nicht. Die Geschichtsstudent*innen mögen mich nicht sehr (lacht). Sie wollen eine Ordnung in den Texten, Schemata, Bücher lesen und Abhandlungen schreiben. Das gilt auch für die Soziologie. Dort muss man die Klassiker studieren und sich immer an eine akademische Legitimation binden, auch wenn die Idee eine eigene ist.
Sie fragen mich: Wie jetzt, ich soll einen Text schreiben, obwohl ich vorher nichts gelesen habe? Und ich antworte: Ja, dann fang an, zu konstruieren. Der rohe Diamant ist in dir. Du musst dein Wissen nach außen bringen. Sonst denkt man irgendwann, man habe selbst keine Ideen mehr. Schließlich wurde das meiste ja schon von irgendwem aufgeschrieben. Es ist also leichter, erst die eigene Idee aufzuschreiben und danach auf andere Texte zu verweisen.
Diejenigen, die Literatur und Sprachen studieren, lieben den Unterricht, weil es diese Verbindung mit Poetik gibt, weil Musik und Gesang eine Rolle spielen. Eine Abschlussarbeit besteht darin, mit den eigenen ältesten Verwandten zu sprechen und dazu einen Text zu schreiben. In diesem Jahr haben wir Filme analysiert, in denen Nicht-Indigene über Indigene reden.
So wollen wir uns deren Perspektive annähern, das ist eine Übung in Dekonstruktion. Das Wissen, das die Universität vermittelt, ist bereits gegeben, man muss es aber in seinem eigenen Kontext nachzeichnen. Nur so behält man seine spirituelle und intellektuelle Unabhängigkeit.
Zurück zum Kampf um Land: Die brasilianische Landlosenbewegung, die für Umverteilung kämpft, wird von der Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro bedroht. Ist sie eine Verbündete im Widerstand?
Es gibt Gemeinsamkeiten, aber auch große Unterschiede in der Beziehung zu Land. Der Indigene kämpft nicht für eine Agrarreform und eine kollektive Bewirtschaftung. Er kämpft für Erde nicht als einen Ort, um zu produzieren, etwa Reis im großen Stil, sondern im spirituellen Sinn für etwas, das darüber hinausgeht. Für ein Territorium, als einen Ort, an dem unsere toten Vorfahren liegen. Das ist ein anderes Konzept.
Aber wenn der Kampf gegen eine Regierung geht, die sich dem Recht auf Erde, auf würdiges Wohnen, Gesundheit oder Bildung entgegenstellt, dann arbeiten wir zusammen. Beim Generalstreik gegen die Rentenreform am 14. Juni war ich auch auf der Straße.
Sie nennen immer wieder die Mapuche als Inspirationsquelle. Für Sie wäre also ein plurinationaler Staat wie in Bolivien keine Alternative für Brasilien?
Ein großer Teil der indigenen Bewegung hier fordert seine Rechte erst einmal gegenüber dem Staat ein. Wenn das der Kampf meines Volkes ist, dann gehe ich da mit. Aber mein eigentliches Ziel und das des Kollektivs, dem ich angehöre, ist mehr Autonomie.
Mein Kampf ist zutiefst autonomistisch, das heißt, er setzt auf den Bruch mit dem Staat. Die Zapatisten in Mexiko oder die Mapuche sind unsere wichtigsten Vorbilder. Die Mapuche leben auf einem Gebiet in Chile und Argentinien, sie sehen sich nicht als Argentinier oder Chilenen, sondern als Mapuche. Der Staat wird keine autonome Selbstverwaltung dieser Gruppen akzeptieren. Der plurinationale Staat ist ein erster Schritt, den auch die derzeitige indigene Präsidentschaftskandidatin in Guatemala, Thelma Cabrera, vorschlägt. Je weniger wir vom Staat abhängen, desto besser.
Ende vorigen Jahres stellte die kubanische Regierung das Programm »Más Medicos« (Mehr Ärzte) ein, weil Bolsonaro neue Regeln für den Arbeitseinsatz Tausender kubanischer Ärzte in Brasilien aufgestellt hatte. Seit 2013 wurden über das Programm Tausende Ärzte auch in abgelegene Regionen gesendet. Die frei gewordenen Stellen wurden inzwischen von brasilianischen Fachkräften besetzt, jedoch nicht alle. Wie sieht die Situation in Ihrer Region heute aus?
Schrecklich, es gibt keine Ärzte mehr. Wir hatten vorher einen Rettungswagen, der die Leute abholte, den gibt es jetzt nicht mehr. Die Leute sterben bei Notfällen. Wir hatten eine ausgezeichnete kubanische Ärztin, die uns ganzheitlich und mit Würde behandelt hat.
Es ist nicht so, dass wir nicht auch auf traditionelle Heilung setzen, aber immer noch bietet die Medizin der Weißen Vorteile. Sie muss nur differenziert angewendet werden. Jetzt will man uns in eine generalisierte öffentliche Gesundheitsversorgung eingliedern. Dabei ist es für uns wichtig, bei der Familie zu bleiben, bestimmte Pflanzen, Tees zu nutzen.
Mit Blick auf den Verlust von Land, von Identität oder Sprache nutzen Sie den Begriff des »Ethnozids«. Was ist damit gemeint?
Der Ethnozid findet seit der Kolonialzeit statt. Zusätzlich zum Genozid, also dem physischen Mord, bedeutet er, den Indigenen in sich selbst zu töten, also seine Indigenität. Die Religiosität zu leugnen, die eigene Sprache, die Art und Weise, wie man ist. Du denkst, du bist hässlich, du redest falsch. Man mag sich selbst nicht. Das ist Ethnozid.
Wie äußert sich der Ethnozid unter Bolsonaro?
Er verteidigt seine Politik damit, dass er sagt: Wir müssen den Indio aus der Misere holen. Gemessen an seiner Vorstellung von Zivilisation ist unser Leben in der Natur gleichbedeutend mit Armut. Wenn Leute zu mir ins Dorf kommen, denken viele, wir sind arm. Das sind wir aber nicht, wir leben sehr gut, auf die Art und Weise, die wir haben. Ich will nicht leugnen, dass es Gruppen gibt, die absolut prekär leben, aber Bolsonaro will das verallgemeinern. Die Tatsache, dass der Arbeitsmarkt, die Logik einer formalen Arbeit oder das Nutzen der Erde für die Landwirtschaft nicht akzeptiert wird, ist für ihn das Gesicht der Misere.
Bolsonaro sagt: Der Indio will mit dem Flugzeug fliegen, will an die Uni, will mehr Rechte, er kann nicht weiter in der Armut und in Abschirmung leben. Ja, ein paar Verwandte mögen das wollen, und ich respektiere, dass sie das tun. Vielleicht wollen sie das auch als Mittel für ihren Kampf nutzen. Aber es gibt Indigene, die brauchen keine Unis, keine Flugzeuge, sondern wollen isoliert leben. Auch bei mir im Dorf gibt es so jemanden. Wenn du da hinkommen würdest, würde er wegrennen. Der will sich nicht unterhalten, das ist auch sein gutes Recht. Ich zum Beispiel möchte keinen Fernseher in meinem Haus und keine Dusche. Aber Bolsonaro will uns diese Dinge aufzwingen. Das ist eine Form von Ethnozid. Das betrifft auch dieses aggressive Missionieren, uns einen Gott aufzuzwingen oder eine Bibel, die nicht unsere ist.
Gibt es viele Evangelikale unter den Indigenen?
Ja, leider. Auch in meiner Gemeinschaft gibt es Evangelikale, aber auch Katholiken. Die Regierung agiert auf diesem Feld zielstrebig. Indigene beginnen, die Kultur des anderen aufzusaugen und sich etwa in Landwirte zu verwandeln, wie es Nicht-Indigene verstehen. Nur ist man dann kein Indigener mehr. Und hat auch kein Recht mehr auf Land. Dann kann man es genausogut verkaufen, und es wird gleichgültig, dass es indigener Boden ist. Wer all das nicht akzeptiert, wird mit dem Genozid bedroht.
Das passiert zum Beispiel über die Kriminalisierung. Indigene werden als faul oder gewalttätig dargestellt, als die, die sich nicht integrieren wollen und die nationale Entwicklung verhindern. Das ist nicht neu, sondern geschah schon unter den Vorgängerregierungen, wenn auch teilweise mit Widerspruch. Aber heute gibt es nur noch einen Weg: Entweder du akzeptierst, oder der Staat richtet sich gegen dich.
Um welche Interessen geht es dabei hauptsächlich?
Unser Territorium ist atlantischer Regenwald. Es gibt ursprüngliche Bäume, der Sand ist von bester Qualität für den Hausbau. Außerdem haben wir eine sehr schöne Landschaft, die für die Immobilienbranche interessant ist, für Resorts, gigantische Hotels mit Blick aufs Meer. Aber das hier ist unser Gebiet.
Noch eine Frage zur Kultur: In der BRD gibt es immer mal wieder Debatten rund um den Karneval. In einem Kindergarten wurde Eltern eine Broschüre ausgehändigt, in der stand, sie sollten ihre Kinder nicht als Indianer verkleiden. Wie kann man heute in Europa angemessen auf die Situation von indigenen Völkern aufmerksam machen?
Auch in Brasilien gibt es diese Diskussion. In den letzten Jahren haben Sambaschulen in Rio das Thema aufgriffen und Leute als Indigene verkleidet, die nicht indigen waren. Aber sie schrieben außerdem auf eine große Brasilienflagge: Indios, Schwarze, Arme. Das war eine großartige Aktion.
Wenn man einem Kind erklärt, dass die Feder das Verhältnis der Indigenen zur Natur repräsentiert, und dass dieses Volk lebt und sich im Kampf befindet, wenn man etwa »Demarkierung jetzt!« auf einem T-Shirt stehen hat und den indigenen Kampf unterstützt, dann sehe ich da kein Problem. Was zählt, ist die Intention der Seele. Wenn das allerdings als pittoreskes Beiwerk genutzt, die Sinnlichkeit indigener Frauen missbraucht oder von Indigenen als Faulenzern oder denjenigen, die die ganze Zeit nur Pfeife rauchen wollen, geredet wird, dann ist das ein Angriff.
*Casé Angatu Xukuru Tupinambá wurde 1963 im Bundesstaat São Paulo geboren. Er studierte dort Geschichte und promovierte im Bereich Architektur und Urbanismus. Im Jahr 2009 zog es Casé Xukuru zurück zu den Tupinambá in Olivença nahe der Stadt Ilhéus im Bundesstaat Bahia. Dort lebt er heute in dem Dorf Gwarini Taba Atã. Er ist Dozent für Geschichte an der bundesstaatlichen Universität des Südens von Bahia (UFSB) und an der staatlichen Universität in Santa Cruz (UESC).
Casé Xukuru nutzt die Begriffe »Indio« (Indianer) und »Indígena« (Indigener) synonym mit der Begründung, das ursprünglich kolonial geprägt »Indio« sei inzwischen eine mit Stolz belegte Selbstbezeichnung. Andere Indigene lehnen sie allerdings weiterhin ab.
Foto: Pedro Napolitano Prata