Das Saatgut ist das Herz der Ernährungssouveränität. Das ist für uns genauso klar wie wir auch wissen, dass das Leben endet, wenn unser Herz aufhört zu schlagen; wenn unser Saatgut verschwindet, endet das Leben, unser Leben, das Leben der Bauerngemeinschaften, der indigenen Gemeinschaften. Aber es endet auch das Leben derer, die in unseren Ländern atmen.
Francisca Rodríguez
Wann hat man angefangen, von Ernährungssouveränität zu sprechen? Wie wurde die Agrarökologie zu einer der schlagkräftigsten, politischen Anschauungen des 21. Jahrhunderts? Welche Rolle spielt der Feminismus in der Zukunft der Lebensmittelproduktion? Um die Neugestaltung der Landbewegung als wichtigstem Akteur im Kampf gegen das neoliberale, Extraktivismus-basierte Modell zu verstehen, muss das Samenkorn ins Licht gerückt werden: der Kampf der Landfrauen und Bäuerinnen gegen die patriarchale Unterdrückung der Körper und der Territorien. Um zu verstehen, wo wir heute stehen, muss man die Prozesse kennen, die uns an diesen Punkt gebracht haben. Ein Gespräch mit Francisca „Pancha“ Rodríguez vom chilenischen RLS-Partner Anamuri.
Von Natalia Tangona, Biodiversidad
Die kontinentale Kampagne 500 Jahre indigener, schwarzer und Volkswiderstand (1989-1992), zu der Bäuer:innen und Indigene der Andenregion und die Bewegung der Landlosen (MST) in Brasilien aufriefen, war der Auslöser dafür, sich in den 90er Jahren gegen die Politik der Ausplünderung und die Einführung des Agrobusiness in den Landregionen zu organisieren. So entstand 1994 die Coordinadora Latinoamericana de Organizaciones del Campo (CLOC – Lateinamerikanische Koordination der Landbewegungen). Zwei Jahre später fand in Rom der Welternährungsgipfel statt, wo fünf Tage lang über die Ausrottung des Hungers in der Welt und die Garantie auf Nahrungssicherheit diskutiert wurde.
Zu diesem Zeitpunkt definierte CLOC-Via Campesina den Begriff „Nahrungssicherheit“ neu. Denn was verstehen die Besitzer dieser Welt unter Sicherheit? Sicherheit im Hinblick auf Quantität oder auf Gerechtigkeit? Ist das Recht auf Nahrung nicht mit dem Recht der Bauerngemeinschaft verbunden, über ihre eigene Produktion zu entscheiden, wie es der Volkskultur entspricht? Im Hinblick darauf wurde der Begriff Ernährungssouveränität ausgehend vom Kampf um Land und traditionelle Landwirtschaft geprägt und gab den Land- und Bauernbewegungen im Widerstand gegen das Agrargeschäft und das Monopol der Großgrundbesitzer einen politischen Rahmen.
25 Jahre später hat die Diskussion Wurzeln geschlagen. Francisca „Pancha“ Rodríguez ist Vertreterin von Anamuri – Asociación Nacional de Mujeres Rurales e Indígenas de Chile (Nationale Vereinigung von Bäuerinnen und indigenen Frauen Chiles) innerhalb der CLOC und Mitbegründerin von La Vía Campesina. Sie ist eine der Hüterinnen der Erde, des Saatguts, der Ressourcen und der Zukunft, Impulsgeberin von kollektiven Antworten auf Gewalttaten gegen das Leben und die Freiheit.
Wie begannen die Frauen sich innerhalb von CLOC zu organisieren und welche Aktivitäten führen sie durch? Wann begannen sie, sich als Feministinnen zu identifizieren, wie hat das die Organisation beeinflusst und wie war dieser Prozess?
Die Frauen begannen sich nicht im Rahmen von CLOC zu organisieren, wir waren schon vorher organisiert und der Aufbau von CLOC war eine gemeinsamen Arbeit von Männern und Frauen. Die Frauenorganisation hat ihre eigene Geschichte, aber manchmal wird sie sogar von uns selbst nicht anerkannt. Tatsache ist, dass wir schon immer dabei waren, wir waren immer schon Hauptakteurinnen der Produktion, in schwierigen Momenten wird das sichtbarer.
So war das mit der Gründung von CLOC. Der Prozess der Vereinigung und des Kampfes musste in Allianz mit neuen Sektoren gestaltet werden. Die Sektoren der Fischer, der indigenen Völker und vor allem der Frauen, die sich in den unterschiedlichen Tätigkeiten des Landlebens ausdrücken, was ich gerne „Überlebensstrategie“ nenne und was wir Frauen geschaffen haben. Sie drehen sich um unsere Identifikation mit der Mutter Erde, besonders das Kunsthandwerk, die Lebensmittelverarbeitung oder Erntearbeiten. So rücken in schwierigen Zeiten wie der gegenwärtigen all das Wissen und die Tätigkeiten der Frauen in den Vordergrund.
Ich glaube, dass die lateinamerikanische Frauenbewegung in den verschiedenen Ländern einen starken Druck im Kampf um die Wiedererlangung der Demokratie ausgeübt hat. Das ist ein Feminismus, der sich sehr stark mit dem Kampf der Völker identifiziert. Das hat auch eine neue Frauenkultur mit sich gebracht; wir stehen nicht abseits, ein wichtiger Prozess der Beteiligung der Frauen, die ihren Platz in den Organisationen einfordern und die sich ermächtigt haben, ist im Gange. Das steht im Zusammenhang mit der internationalen Situation, auch wenn unser Prozess sich etwas davon unterschied und das Jahrzehnt der Frau sich angeblich hinter unserem Rücken abspielte.
Ich glaube, wir haben noch nicht erkannt, was dieser Prozess bedeutet hat, nämlich die Verschmelzung der feministischen Frauen mit den ärmeren Bevölkerungsschichten. Wir waren ein angeblich neuer Sektor, der gestärkt aus der Kampagne 500 Jahre indigener, kleinbäuerlicher, schwarzer und Volkswiderstand auftauchte, beim Aufbau der Vía Campesina und der CLOC waren die Frauen immer präsent. Schritt für Schritt kamen wir in den letzten Jahrzehnten voran, unsere Geschichte ist geprägt vom Protagonismus im Kampf um die Ernährungssouveränität, um das Recht auf das Land und bei der Verteidigung unserer natürlichen Ressourcen.
In jenen Jahren wurde die kleinbäuerliche Landwirtschaft von der industriellen Produktion verdrängt, die mit der Anfang der 70er Jahre eingesetzten „Grünen Revolution“ einherging. Die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern waren (und sind) ein Hindernis für die Marktmonopolisierungspläne der großen, multinationalen Konzerne und für die neuen Formen der Einmischung und Aneignung, die mit den Freihandelsabkommen entstanden. Der Rolle der Frau, die historisch unsichtbar war, wurde zunehmend mehr Beachtung im Bereich der Lebensmittelproduktion für die Welt geschenkt. Widerstehen, um weiter zu existieren. In diesem Existenzkampf der traditionellen Landwirtschaft, der Völker, der Identitäten und der Ressourcen entstand mit der Ermächtigung der Frauen ein neuer politischer Rahmen, der perfekt mit der Ernährungssouveränität verknüpft ist: der Feminismus der Kleinbäuerinnen.
Wir engagieren uns politisch, um zu verstehen, wo wir stehen und wohin wir uns bewegen wollen. Damit haben wir innerhalb der CLOC und der Vía Campesina die Gleichstellung der Frauen erreicht, wir sind Teil der politischen Debatte, machen uns sichtbar, schaffen unsere eigenen Diskussionsfreiräume, wo wir Beiträge zu den wichtigen Entscheidungen der Kleinbauernbewegung erarbeiten, die auch berücksichtigt werden.
Auf diese Art und Weise entsteht die Gleichstellung, so entstehen die Kampagne für die Ernährungssouveränität und die Kampagne für unser Saatgut. Auch die Kampagne gegen Gewalt an Frauen auf dem Land und weiterführend gegen Gewalt in allen seinen Formen, gegen die Gewalt, die es in den Gemeinschaften gibt, die aber vor allem uns Frauen trifft und betrifft. All dies schürt eine rasante politische Entwicklung der lateinamerikanischen Kleinbauernbewegung, die immer offenkundiger wird. Es geht nicht nur um den Kampf um die Ernährungssouveränität: es geht um die Agrarreform, den Kampf um das Wasser, die Verteidigung der Territorien und um unsere Biodiversität. Wir Frauen sind an diesem Kampf beteiligt, wir sind sichtbar und sensibilisiert.
Für uns war es nicht einfach, uns als Feministinnen zu definieren. Wir diskutieren dieses Thema seit mehr als zehn Jahren. Aber es war ein politscher Schritt in einem Moment, in dem die Kleinbauernbewegung die Politik zur Errichtung eines neuen sozialistischen Gesellschaftsmodells definierte. Unser erstes Postulat war, dass wir unsere gesamte historische Erfahrung in die Diskussion mit einbringen und Prozesse vergegenwärtigen, die vom Standpunkt des Kapitals abgetan worden waren – wir fingen nicht bei null an. Demnach sagten wir: es kann hier keinen Sozialismus geben, solange es keinen Feminismus gibt. Also „ohne Feminismus kein Sozialismus“.
Und wir rekonstruierten einen Prozess, wir entwarfen Theorien, erforschten die Vergangenheit, um die historische Rolle der Frau in der Landwirtschaft zu untersuchen. Den Zeitpunkt auszumachen, an dem die Frauen sich in den Hintergrund zurückgezogen haben, war eine wichtige Erkenntnis. Zu erkennen, wie der Kapitalismus sich ausdrückt und diese tiefen Unterschiede zwischen den Geschlechtern hervorruft; wie das Patriachat zu einem Werkzeug zur Aufrechterhaltung des Systems und wie die Diskussion und die politische Arbeit verteufelt werden. Ich glaube, in dieser Hinsicht sind wir weit gekommen.
Was ist der kleinbäuerliche Feminismus und wie kommt er zustande?
Wir tun es, indem wir die Anschauung der indigenen Völker übernehmen, die von der Vision des Dualismus, von der Komplementarität ausgeht und überlegen, wie diese duale Weltanschauung das neue Denken nährt. Dazu gehören zum Beispiel der Wert und die Bedeutung des Samenguts, das das Leben verkörpert und und uns die Ernährungssouveränität zurückgibt; wir Bäuerinnen und Bauern haben die enorm wichtige Aufgabe, die Nahrung zu produzieren, die die Völker benötigen. Aber darin liegt auch unsere eigene, unendliche Kreativität , die die Produktion in Nahrung vewandelt, in einen Raum der Begegnung, der Wiederbegegnung und des Aufbaus in der Küche, was für einige Frauen aus der Stadt und für einige Feministinnen unannehmbar ist.
Ich glaube, es wird eine Zeit dauern, bis man versteht, dass wir einen feministischen Blickwickel brauchen, der die Kultur der Völker und die Identität berücksichtigt; wir Frauen haben allgemein gesprochen viel von unserer Identität verloren. Man hat uns unsere Identität geraubt, um uns Schilder umzuhängen, die uns sogar von unserer eigenen Wirklichkeit distanzieren. Wir sind keine Bäuerinnen mehr sondern Produzentinnen, Kleinunternehmerinnen, wir sind wettbewerbsorientiert, innovativ.
Aber keine dieser Identitäten löst die großen Probleme, denen wir Frauen heute gegenüberstehen, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch in Bezug auf Politik und Kultur, auf die Verbesserung der Lebensqualität, auf die Erhaltung unseres Territoriums und innerhalb unserer Territorien, das was unsere Kultur und unsere Spiritualität ausmacht. Deshalb glaube ich, dass es heute zwar eine große Bewunderung für die Ausstrahlung und den Mut der jungen feministischen Bewegung gibt, aber gleichzeitig gibt es seitens der Landbevölkerung, seitens des weitverbreiteten Konservativismus eine Furcht, eine Angst und Ablehnung, die uns in der Diskussion zurückwerfen kann, wenn wir keine gemeinsamen Nenner finden.
Wir sagen deshalb, dass unser Feminismus ein politischer und klassenbedingter Feminismus ist, ein befreiender Feminismus, ausgehend vom Kampf der Völker und der Gemeinschaften. Es ist ein Feminismus, der gegen die Gewalt kämpft und dafür, dass der sexuellen Belästigung als einer Praxis des Patriachats ein Ende gemacht wird. In ländlichen Gebieten setzt sich die Kommunikation durch, um diese Gewohnheit aufzubrechen, um die frauenfeindlichen Traditionen zu beenden, die verdeckt und verschwiegen werden.
CLOC–Vía Campesina organisiert alle zwei Jahre eine Kontinentale Schule für Frauen vom Land, deren Schwerpunkte die politische Weiterbildung besonders in Genderfragen, Reflexion, Treffen und Austausch im Hinblick auf den kollektiven Aufbau eines Feminismus der Kleinbäuerinnen sind.
Wie bauen wir Brücken zwischen den unterschiedlichen Körper-Territorien? Vielleicht erlaubt der Blick auf das Konkrete, das Greifbare, auf jeden einzelnen Schritt, historische Prozesse der Territorien in der Geschichte unserer eigenen Körper zu identifizieren. Die Identität, das Gedächtnis des Saatguts, das Wasser, das uns verbindet und die Nähe zum tiefen Abgrund, an den uns der Weg des unkontrollierbaren Kapitalismus geführt hat, müssen uns davon überzeugen, dass der Abriss der Zäune und der Sturz des Patriachats wesentliche Synonyme sind für diesen Prozess der Wende, in dem die Agrarökologie eine zentrale Rolle spielt.
In welcher Beziehung steht die Agrarökologie, die sich auf das Prinzip der Ernährungssouveränität beruft, zum Feminismus der Kleinbäuerinnen? Welche Stärken konnten mit Blick auf die Zukunft ausgebaut werden und wie sieht der kämpferische Horizont aus?
Zweifellos benötigen wir ein erneutes Zusammentreffen von Land und Stadt, um eine umfassendere Debatte zu führen. Ich glaube, die Pandemie hinterlässt einen tiefen Eindruck in uns. Denn auf dem Land muss die Quarantäne eingehalten werden, aber gleichzeitig muss weiter produziert werden, sodass die Ernährungssouveränität, die wir in all diesen Jahren als eine Identität aufgebaut haben, einen noch viel größeren Stellenwert für uns bekommt. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass das Bewusstsein für die Ernährungssouveränität rein diskursiv bleibt. Diese Diskussion ist notwendig, denn sonst ist die Agrarökologie in Gefahr.
Die Ernährungssouveränität hat uns unsere Identität in Bezug auf die Arbeit der Frauen zurückgegeben. Sie bestätigt uns die Gültigkeit unserer Produktionssysteme, die umweltfreundlich sind und sorgsam mit der Erde umgehen, die uns unsere Nahrung liefern und die eine wichtige Brücke zwischen Land und Stadt geschaffen haben, welche den Völkern und Gemeinden Kultur und Identität verleihen.
Nach der Krise werden wir diese wichtige und notwendige Diskussion führen müssen. Ich bin voller Hoffnung und glaube, dass die Losung „Lasst uns den Kampf globalisieren, lasst uns die Hoffnung globalisieren“, die Vía Campesina ausgegeben hat, heute umgedreht werden muss: wir müssen die Hoffnung globalisieren, um uns zu stärken und um weiter zu kämpfen, wir müssen neue Wege des Dialogs eröffnen.
In dieser Zeit werden sich die Bande zwischen Stadt und Land stärken, denn die Stadtmenschen haben verstanden, dass die Nahrungsversorgung, die Kraft, eine solch schreckliche Krisensituationen zu meistern, nur gemeinsam mit den Kleinbäuer:innen erreicht werden kann, mit Blick auf die Früchte des Landes. Die Ernährungssouveränität erhält einen ungeheuren Stellenwert, aber vor allem steigt auch die Anerkennung der Arbeit, des Kampfes und des Widerstandes der Frauen. Die Zeiten ändern sich, es ist Zeit wieder Gemüse anzubauen, die Gärten wiederzubeleben, dem Leben einen neuen Sinn zu verleihen. Und das bringt die Frauen vom Land und aus der Stadt zusammen.
Es entsteht wieder ein wichtiges Band zwischen dem Land- und dem Stadtleben und das dürfen wir nicht wieder verlieren. Wir müssen diesen Weg neu begehen; das wird uns an den entscheidenden Wendepunkt bringen, die Welt nach unseren Überzeugungen zu gestalten: gleichberechtigt, unseren Rechten und den Rechten der Völker verschrieben, so dass die indigenen Völker ihre Territorien zurückerhalten und wir uns als Schwestern und Brüder in die Augen blicken können. Man könnte sagen, dass sei der Traum einer alten Frau, aber ich glaube, das sind Zukunftsträume.
Daheim in der Stille des Hauses beginnt man über die Vergangenheit nachzudenken, über das eigene Leben und was man gelernt hat und was man in den kommenden Zeiten noch lernen wird und man denkt über die Ungewissheit nach, die entsteht, weil wir bisher nicht in der Lage waren, die Prozesse hin zum definitiven Wandel zu festigen. Wichtig sind die Kleinstarbeit, die politische Arbeit, die Nutzung unserer sozialen Netzwerke, die Schürung der Hoffnung…, all das wird uns ermöglichen, eine neue Welt hervorzubringen.
Obwohl die Prozesse langwierig sind, entstehen weiterhin Zukunftsträume. Die integrale, feministische und volksnahe Agrarreform ist weiterhin unser Ziel. Wie bei der Aussaat muss man abwechseln , neue Standpunkte mit einbeziehen, altes Saatgut für eine neue Menschheit neuentdecken, handeln, alles noch einmal anders machen, Knospen schlagen, neue Knospen schlagen, weiter gebären, weiter träumen und Zäune abreißen, die durch Agrargifte, Vorurteile und Abhängigkeit verursachten Schäden heilen. Die Ernte kommt gewiss. Mit Agrarökologie und Feminismus werden wir frei sein.
Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Vertiefende Diskussionen über agrarökologische Erfahrungen hin zur Ernährungssouveränität“, das mit der Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung umgesetzt wird.
Übersetzung: Inge Stache in Zusammenarbeit mit Carla Imbrogno
Foto: Nic Paget-Clarke