Feminismus in den Stadtvierteln

 „Die Gewalt, die wir in unseren Vierteln erleben, ist an erster Stelle ökonomische Gewalt“

Die Arbeit der geschlechterpolitischen Kommission der Organisation La Poderosa (dt. Die Mächtige)

 

Wie sollen wir soziale Rechte aus feministischer Perspektive (nicht) denken? Die Frauen der Frente de Géneros La Poderosa kennen die ökonomische Gewalt, prangern sie an und organisieren sich dagegen. Denn sie wissen, dass ökonomische Gewalt, die die Menschen in den Stadtvierteln (er)leben, die vielfältigen Formen der Gewalt (physisch, symbolisch, institutionell, rassistisch) strukturiert.

In verschiedenen Arbeitszusammenhängen haben wir in Buenos Aires (auf Spanisch abgekürzt CABA) und in Rosario über die Formen gesprochen, die ökonomische Gewalt im Alltag annehmen kann: Über die Problematik der Wohnsituation, die beschränkten Möglichkeiten der Stadtsanierung und den fehlenden Zugang zu Wasser. Aber auch über Verschuldung zur Sicherung des täglichen Überlebens und über die Formen der Prekarisierung des Lebens von Frauen und und Queers, gegen die wir uns tagtäglich auflehnen.

Sie berichteten uns von den Alternativen, die sie geschaffen haben, und denen, die sie einfordern. Etwa der Dringlichkeit staatliche Maßnahmen zu ergreifen, die eine konkrete Antwort auf Situationen physischer Gewalt bieten und die der produktiven Rolle von Frauen in den Kooperativen wirtschaftliche Wertschätzung zukommen lassen. Sie erzählten uns davon, wie aus der Organisierung heraus durch den Feminismus eine Praxis der gegenseitigen Fürsorge und des Widerstands entstanden ist.

Wohnraum und der Kampf um ein Grundrecht in den Armenvierteln: das Wasser

Milena: Die Wohnsituation in den Villas, den Armenvierteln von Buenos Aires, hier in Rosario oder im Rest des Landes unterscheidet sich natürlich. Doch wir sind alle von Problemen bei der Wasserversorgung, der Energieversorgung und von der fehlenden Erschließung betroffen. Bei unseren Treffen haben wir uns organisiert, um kurzfristig Lösungen zu finden. Ein Beispiel dafür war im letzten Jahr die Kampagne „Contagia potabilidad“ (Dt. etwa: „Trinkbarkeit übertragen“, im Sinne, dass anstelle von Krankheitserregern durch verunreinigtes Wasser, trinkbares verbreitet wird, Anm. d. Ü.), bei der wir Tanks in den Vierteln aufgestellt haben, da im Sommer der Wassermangel das größte Problem ist. Und so haben wir begonnen uns zu organisieren. Selbstverständlich haben wir deshalb nicht aufgehört, eine staatliche Lösung für das Problem zu fordern, denn Zugang zu Wasser ist ein Grundrecht. Doch das waren Mittel und Wege, die wir unter uns Nachbarinnen entwickelt haben.

Jesica: Es sind ja arme und nicht erschlossene Viertel und die Wasserproblematik findet man in allen Villas im ganzen Land. Bei vielen unserer Versammlungen, etwa in der Villa 21-24, einer der größten der Hauptstadt, haben die Schulen bei den Jungen und Mädchen Tests durchgeführt, denn viele hatten Bauchschmerzen und mussten sich häufig übergeben… Daher entschieden die Familien, das Wasser und alle Kinder zu untersuchen und dabei kam heraus, dass die Mehrzahl der Kinder Parasiten hatten, die aus dem Wasser stammten, und dass das Wasser nicht als Trinkwasser geeignet war. Die Villa 21-24 ist in verschiedene Abschnitte gegliedert. In den meisten wurde der Boden untersucht und dabei festgestellt, dass das Grundwasser kontaminiert und nicht trinkbar war. Ein großer Teil unserer Löhne, unseres Familieneinkommens geht also dafür drauf, abgepacktes Wasser zu kaufen.

Und dann diese Kampagnen, die sie in der Pandemie zur Bedeutung von Hygiene und Sauberkeit unserer Häuser und unserer Hände gemacht haben. Dass unser Recht auf garantierte Wasserversorgung missachtet wird, wirkt sich ganz handfest auf unseren Alltag aus. Wir haben kein Wasser, um alle Anweisungen zu befolgen, die in den Kampagnen zur Covid-Prävention verkündet werden. Das war beispielsweise einer der Kämpfe, den unsere Mitstreiterin Ramona aus der Villa 31 geführt hat, die dann aufgrund der Untätigkeit des Staates verstorben ist.

Lockdown, Verschuldung und Neuerschließung ohne Gender-Perspektive

Johana: Die Pandemie hat in der strukturellen Armut, in der wir leben, viele Nöte noch einmal verschärft. Denn das alles ist ja nicht neu, unsere Kinder werden in diese strukturelle Armut hineingeboren.

Anita: Ich habe drei kleine Mädchen und muss ihnen die Hände waschen, sie baden, für sie kochen. Und ohne Wasser kann ich das nicht. Gerade bin ich mit dem Thema Umsiedlung beschäftigt und ich bin damit allein. Hinzu kommen das faulige Wasser und die vielen Mücken, aber ich wehre mich und habe mich ans Ministerium gewandt. Mich werden sie nicht umsiedeln, bloß weil eine Hälfte meines Hauses sich unter einer Schnellstraße befindet und die andere nicht.

Johana: Bei keiner der neuen Siedlungen, die sie überall im Land bauen, haben sie eine Gender-Perspektive. Darüber sprechen wir am häufigsten, denn es gab viele Verfahren, wo wir wissen, dass sich eine betroffene Frau von ihrem gewalttätigen Partner getrennt hat und ein Näherungsverbot ausgesprochen wurde und naja, dann wohnt er eben gegenüber, es ist immer die gleiche Geschichte. Und oft, wenn die Stadt das Liegenschaftskataster aktualisiert hat, um zu wissen, wessen Häuser das sind, dann stand die betroffene Frau während der Bestandsaufnahme neben dem gewalttätigen Mann und ins Register hat er sich dann eintragen lassen.

Jesica: Was ein bisschen zugenommen hat, sind die Schulden. Uns Frauen verschulden sie mit diesen AUH-Darlehen (Darlehen die Empfänger*innen des staatlichen Kinderzuschusses „Asignación Universal por Hijo“ beantragen können, Anm. d. Ü.). Denn diese Darlehen haben zugenommen und wir haben uns beim Staat verschuldet. Außerdem mussten wie mehr außer Haus arbeiten gehen. Wir arbeiten bei uns Zuhause, wir arbeiten in der Gemeinschaft und wir arbeiten außerhalb. Und wir haben uns untereinander Geld geliehen, um uns auszuhelfen.

Und noch etwas, wofür wir weiter streiten und es immer wieder sagen, ist, dass unsere gemeinschaftlichen Küchen in den Villas ihre Rationen um 200 % erhöht haben. Auch das Tauschen untereinander hat zugenommen: Wenn eine zwei Pakete Zucker hat und eine andere hat ein Päckchen Mate und das passt gerade, dann wird getauscht.

Selbstorganisierte Schutzhäuser für Frauen und Queers als Orte der Bildung, der Produktion und der Begegnung

Anita: Die Begleitung und Betreuung von Frauen mit Gewalterfahrung organisieren wir unter den Nachbarinnen hier im Viertel. Es gibt viele Frauen, die Gewalt erfahren und keinen Platz zum Schlafen haben, viele, die eine Anzeige machen wollen und Angst haben, und viele, die Ihre Familien ernähren oder sich nicht trennen können, weil der Gewalttäter das Geld oder das Essen nach Hause bringt. Auch deshalb haben wir uns in selbstorganisierten Schutzhäusern Kooperativen ausgedacht, damit diese Frauen ihre Familien ernähren können. Seit Beginn der Pandemie hat es hier in Villa 31 viele Fälle von Gewalt gegeben und wir bemühen uns, all diese Frauen zu begleiten.

Johana: Der Lockdown hat auch etwas kaputt gemacht, denn wir waren es gewohnt zusammen zu leben. Wir haben immer gesagt, dass in den Armenviertel sogar die Gefühle eine kollektive Angelegenheit sind und nicht nur der Teller mit Essen. Die Frauen hatten nun niemanden mehr, bei dem sie ihre Kinder lassen konnten, um beim Gesundheitszentrum anzustehen, entweder um sie nicht zu gefährden oder damit sie ein bisschen Abwechslung haben. Denn in einem kleinen Zimmer mit Doppelstockbetten leben 5 oder 12 Personen und teilen sich ein Bad. Es kommt auch vor, dass wir die Kinder anderer Frauen betreuen, damit diese eine Anzeige machen können. Denn die Stellen, wo die Anzeigen gestellt werden können, wurden in der Pandemie geschlossen, und jetzt müssen die Anzeigen virtuell gemacht werden. Andere Frauen, die kein Internet hatten, sagten sich, gut, das will ich niemandem erzählen, also gehe ich ins Internetcafé und mache von dort aus die Anzeige. Außerdem gibt es sehr viele Frauen, die Quechua sprechen und nicht verstanden werden, wenn sie anrufen, um ihre Anzeige telefonisch zu machen. Es gibt Frauen, die weder lesen noch schreiben können, und so mussten wir noch mehr Netzwerke knüpfen als bisher.

Die tägliche Gewalt eines abwesenden Staates

Jesica: Die Gewalt, die wir in unseren Vierteln erleben, ist an erster Stelle ökonomische Gewalt. In vielen Fällen bringt der Gewalttäter das Geld nach Hause. Das führt dazu, dass viele von uns aus ihrer Situation nicht herauskönnen, weil sie in einem Teufelskreis stecken. Deshalb arbeiten wir in den selbstorganisierten Schutzhäusern  zum Thema Arbeit: Es gibt Handwerkskurse, es gibt Strom, es gibt Workshops in Buchbinderei, eine sehr tolle Kooperative für Unterwäsche, eine Siebdruck-Werkstatt. All diese Arbeit haben wir als Kooperative und als Frauen selbst geschaffen. Sobald wir Zugang zu Einkommen haben, ändert sich die Situation. Danach halten wir uns solange zurück, bis unsere Genossin von selbst darauf kommt, dass das kein gutes Leben ist. Für die Kooperativen konnten wir die Maschinen selbstverwaltet kaufen, in Verbindung mit „komplementären Soziallöhnen“ (Staatliches Nothilfeprogramm während der Pandemie, Anm. d. Ü.), die 10.000 Peso betragen und unterhalb des existenzsichernden Mindestlohns liegen. Anders gesagt, mit zehntausend Pesos kannst du keine Familie mit vier oder drei oder auch nur zwei Kindern durchbringen. Schon gar nicht, wenn du auch noch Miete zahlen musst, denn viele von uns leben nicht im eigenen Haus … Wenn du dich aus einer Gewaltsituation herausarbeiten musst, wie sollst du das anstellen? Dafür haben wir unser Fürsorgenetzwerk geknüpft, um uns gegenseitig zu helfen. Doch es ist sehr schwierig, wenn der Staat das nicht unterstützt. Wichtig wäre, dass der Staat mit einer richtigen Entlohnung der Kooperativen, jede der Frauen würdigt.

Außerdem fordern wir seit Ewigkeiten Lohnzahlungen in Notsituationen (salarios de urgencia) bei Fällen häuslicher Gewalt. Bisher unterstützen wir uns durch gemeinschaftliche Netzwerke selber, doch wenn eine Genossin plötzlich ihr Haus verlassen muss, schaffen wir es allein nicht immer eine Lösung zu finden, und dann handhaben wir es so, dass die Betroffene zwei Tage mit ihren Kindern bei einer von uns bleiben kann und dann einen Tag bei einer anderen unterkommt und so weiter. Das wäre lösbar, wenn der Staat Verantwortung übernimmt und finanzielle Unterstützung in Notsituationen garantiert, so dass die betroffene Person Miete bezahlen und aus der Gewaltsituation so schnell wie möglich rausgehen kann.

Johana: Die Vernachlässigung seitens des Staates, die wir hier erleiden, ist offensichtlich, sobald man eines der Armenviertel betritt. Und unersetzlich sind in unseren Vierteln vor allem die gemeinschaftlich organisierten Arbeiterinnen der Küchen und diejenigen, die zur Sensibilisierung in Genderfragen arbeiten. Der Staat muss diese Arbeit nicht nur symbolisch hochhalten, sondern auch tatsächlich ökonomisch. Der Lohn, den die Mitstreiterinnen erhalten, sollte nicht nur eine Aufwandsentschädigung für ihre soziale Tätigkeit sein, sondern ein wirklicher Lohn, der ihrer Aufgabe gerecht wird und mit dem sie als Arbeiterinnen für die Gemeinschaft gewürdigt werden.

Und was hier in den Vierteln eben auch passiert, weil sie sehr groß und dicht bevölkert sind, mit vielen schmalen Gassen: Wenn ein Gewalttäter angezeigt und ein Näherungsverbot ausgesprochen wird, dann wohnt gegenüber der betroffenen Frau oft ein Angehöriger von ihm, bei dem er unterkommt. Und die Frau lebt dann in ihrem eigenen Haus wie in einem Gefängnis. Sie kann nicht mal zum Laden um die Ecke oder ihre Kinder einkaufen schicken, weil sie Übergriffe fürchten muss. Und wenn mal der Anti-Panik-Knopf gedrückt wird, bleibt die Reaktion lange aus, das haben wir in den Medien oft genug gesehen.

Jesica: Unsere Frente de Géneros hat sich im Jahr 2015 auf dem Nationalen Frauentreffen in Mar del Plata gegründet. In den vergangenen sechs Jahren konnten wir in unseren Vierteln viele Menschenleben retten. Wenn wir als Organisation und als Frauen, die strukturelle Gewalt erleben, eine Lösung finden konnten, hat der Staat unsere Forderungen gefälligst anzuhören! Diese Räume, in denen wir uns treffen und gemeinsam über uns nachdenken können, sind notwendig, denn wir sind politische Subjekte und wir sind Frauen, deren Gedanken und Arbeit dem Viertel zugutekommen.

Zahlen des zu unserer Organisation gehörenden Observatorio Villero zufolge leben in der Villa 21 etwa 71.000 Familien und in allen Vierteln gibt es Millionen Frauen, die in Armut leben. Wir sind Frauen, die in struktureller Armut leben, und wir selbst retten das Leben anderer Frauen mit unseren Fürsorgenetzwerken. Durch die engen Gassen der Villas passen für gewöhnlich weder Steifen- noch Krankenwagen. Solche Probleme treten auf, wenn Viertel nicht erschlossen sind.

 

Übersetzung Sebastian Landsberger, Bettina Hoyer und Kristina Vesper vom Übersetzer*innenkollektiv lingua transfair

 

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