Feminismus, der vom Alltag ausgeht

Luci Cavallero und Verónica Gago, Autor*innen von Una lectura feminista de la deuda, im Interview über die aktuelle Situation in Argentinien, Schulden und feministische Radikalität, die vom Alltag ausgeht. Die Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen sind unter anderem bei der Bewegung «Ni una menos» aktiv.

Interview: Julia Wasenmüller

Seit den Vorwahlen in Argentinien am 11. August schießt der Dollarpreis in der Höhe, während sich der argentinische Peso fast im freien Fall befindet. Was ist eure Erklärung für diese aktuelle Zuspitzung der Krise in Argentinien?

Luci Cavallero: Mauricio Macri musste bei den Vorwahlen eine bittere Niederlage einstecken. Das Duo Fernández/Fernández de Kirchner räumte 47,7 Prozent der Stimmen ab. Dass jetzt der argentinische Peso abgewertet wird, ist ein klares Abstrafen des Wahlverhaltens der Argentinier*innen. An die Instabilität unserer Währung sind wir bereits gewöhnt. Wenn die neoliberalen Interessen der internationalen Finanzmärkte nicht durchgesetzt werden können, weil es zu viel Widerstand aus der Gesellschaft gibt, dann ist ihre erste Maßnahme immer, unsere Währung zu attackieren.

Ihr habt im Februar ein Buch unter dem Titel „Eine feministische Lektüre der Schulden“ rausgebracht. Was ist das Feministische an euren ökonomischen Analysen?

Luci Cavallero: In erster Linie wollen wir aufzeigen, wie die Staatsverschuldung mit der Verschuldung von Privathaushalten zusammenhängt. Über private Schulden wird meist nicht gesprochen. Das Thema ist schambesetzt. In unserer feministischen Analyse und Praxis geht es darum, dieses Tabu zu brechen und das Schamgefühl kollektiv aufzufangen. Wir wollen sichtbar machen, wie Schulden und der Zwang, diese zurückzuzahlen, uns in Situationen von Gewalt und immer weitere Ausbeutungsverhältnisse bringen.
Wirtschaft und Finanzen werden oft als abstraktes Expertenthema gehandelt. In unserem Buch machen wir das Gegenteil: Wir zeigen auf, wie sich die Wirtschaftskrise in konkreten Alltagssituationen niederschlägt und wie sie die Körper von Frauen und Queers besonders trifft. Ausgehend von dieser kollektiven Erfahrung können dann auch Formen des Widerstands gefunden werden, die mehr Menschen und Lebensrealitäten einschließen, als es die traditionelle Linke vermochte.

In immer mehr Ländern wird am 8. März zum feministischen Streik aufgerufen. In Argentinien waren in den letzten Jahren besonders viele Menschen auf der Straße. Wie unterscheidet sich der feministische Streik von einem traditionellen Generalstreik?

Verónica Gago: Im feministischen Streik haben wir traditionelle Kampfmittel der Arbeiter*innenbewegung wiederbelebt, aber auch neu erfunden. Dabei werden alle Formen von Arbeit berücksichtigt, klassische Lohnarbeit, aber auch die unbezahlten Reproduktions- und Sorgearbeiten, die hauptsächlich von Frauen und Queers verrichtet werden. Es geht wie bei der Analyse von Schulden darum, ganz konkrete Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse zu betrachten.
Das muss auch beachtet werden, wenn wir von einer internationalen Organisation der feministischen Streikbewegung sprechen: Wir kämpfen gemeinsam, vernachlässigen dabei aber nicht die Singularität der einzelnen Kontexte. Wir haben die Zusammenhänge von Arbeits- und Ausbeutungsverhältnissen im Globalen Norden und Süden auf dem Schirm und ganz wichtig: Wir entwickeln die Idee des Internationalismus weiter zu einem Transnationalismus, in dem die Pluralität von Kämpfen, Erfahrungen, Identitäten und Geographien, die nationalstaatliche Grenzen übersteigen und sprengen, anerkannt werden.

Ihr wart diesen Sommer in Deutschland und habt euch in Berlin mit Aktivist*innen des dortigen feministischen Streiks vernetzt. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede seht ihr in der jeweiligen Organisation?

Luci Cavallero: Eine Gemeinsamkeit ist das Potenzial, das wir in der feministischen Bewegung sehen. Es ist die Bewegung, die es international gerade am ehesten schafft, verschiedene Konflikte zusammenzudenken, Kämpfe zu vereinen und Menschen zu politisieren. Gleichzeitig manifestiert sich die feministische Bewegung überall unterschiedlich.
In Argentinien sprechen wir von einem feminismo popular, einem Feminismus der Massen und einem Feminismus der Straße. Das heißt, unser Feminismus verortet sich nicht außerhalb von bestehenden politischen Bewegungen, Gewerkschaften, Studierendenorganisationen und so weiter, sondern versucht diese vorhandenen Strukturen von innen heraus diverser zu machen und feministische Themen auf die Agenda zu setzen. In Deutschland haben wir das nicht unbedingt so erlebt.

Die Aktivist*innen in Berlin haben euch immer wieder die Frage gestellt, wie die feministische Bewegung in Argentinien so groß werden konnte. Habt ihr eine Antwort darauf?

Verónica Gago: Es gibt natürlich nicht „das eine Geheimrezept“. Ich würde sagen, das Besondere an der argentinischen Bewegung ist, dass mit der Massivität der Bewegung nichts an ihrer Radikalität eingebußt wurde. Das ist möglich, weil wir auf eine Vielzahl von Erfahrungen der politischen Organisierung zurückgreifen können. Wir knüpfen zum Beispiel an die Kämpfe der Madres und Abuelas de la Plaza de Mayo, also die Mütter und Großmütter des Plaza de Mayo an, die in der argentinischen Diktatur den Kampf um Menschenrechte radikalisierten und immer noch aktiv sind.
Außerdem blicken wir auf über drei Jahrzehnte eines jährlichen feministischen Treffens zurück, bei dem Herausforderungen des argentinischen Feminismus diskutiert werden, sich auf neues und inklusives Vokabular geeinigt und die Agenda für das kommende Jahr bestimmt wird. Dann haben viele soziale Bewegungen ihren Ursprung in der Krise von 2001. Politischer Aktivismus aus einer wirtschaftlichen Krisensituation heraus ist also auch nichts Neues. Unser Feminismus entwickelt sich mit und aufgrund der gegebenen sozialen Probleme immer weiter.

Hier in Europa wird der argentinische Feminismus oft romantisiert als „einige und geschlossene Bewegung“. Ihr habt aber sicherlich auch eure internen Debatten und Konflikte, oder?

Verónica Gago: Eine Massenbewegung zu sein ist keine romantische Idee, sondern eine politische Praxis. Denn es bedeutet auf keinen Fall, eine homogene Bewegung zu sein. Die Frage ist, wie man die gemeinsame politische Schlagkraft aus der Heterogenität heraus konstruiert. Innerhalb der Strukturen von Ni una Menos gibt es beispielsweise Frauen und Queers aus ganz unterschiedlichen politischen Traditionen: Es gibt Feminist*innen, die aus traditionellen Gewerkschaften und Parteien kommen, Feminist*innen aus autonomen Zusammenhängen oder Feminist*innen, die vorher noch gar keine Organisationserfahrung hatten. Konsens ist, dass wir eine antineoliberale Bewegung sein, territorien- und generationsübergreifend arbeiten wollen. Und, dass wir unsere politische Radikalität ausgehend von konkreten Lebensrealitäten und Konflikten denken.

Vom 12. bis 14. Oktober wird in La Plata, nur eine Stunde von Buenos Aires entfernt, das 34. Plurinationale Feministische Treffen stattfinden. Am 27. Oktober finden die Präsidentschaftswahlen statt. Was sind die Fragen und Themen der feministischen Bewegung im Anbetracht der kommenden Woche?

Verónica Gago: Wir erwarten, dass das diesjährige Treffen eines der größten feministischen Zusammenkünfte in der Geschichte Argentiniens wird. Man spricht von 150.000 bis 200.000 Frauen und Queers. Zum einen bietet dieses Treffen die Möglichkeit einer kollektiven Reflektion über die Entwicklung der Bewegung in den letzten Jahren. Außerdem wird der nächste Streik am 8. März 2020 vorbereitet und dann gilt es ganz konkret, eine Diagnose der aktuellen Krise vorzunehmen.

An erster und dringendster Stelle steht, Präsident Macri am 27. Oktober abzuwählen. Aber auch wenn das gelingt, müssen wir einen Umgang damit finden, dass der Wertverlust des argentinischen Pesos und damit unserer Löhne, Renten und Sozialleistungen sowie die Dynamiken von Armut und Verschuldung auch mit Macris Abgang eine Realität bleiben. Wir Frauen und Queers sind wie immer die ersten Betroffenen und müssen daher untereinander Auffangnetze und alternative Ökonomien schaffen. Die kommenden Monate werden heftig.

Fotos: Gerhard Dilger

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