In Salvador da Bahia leisten arme Bewohner*innen Widerstand gegen Gentrifizierung und die massive Wohnungsnot. Die Wohnungslosenbewegung MSTB hält zahlreiche Gelände besetzt. Doch viele Besetzungen sind von der Räumung bedroht
Von Niklas Franzen
Es dauerte nur wenige Minuten. Dann war fast alles zerstört, was Frederico besaß. Am Tag nach der Räumung wandert der junge Mann immer noch spürbar mitgenommen über den steilen Hang. Er zeigt auf eine kahle Stelle am Boden. „Hier stand meine Hütte“. Frederico – 25, Schnurrbart, verschnörkeltes Tattoo auf dem Unterarm – war gerade Zuhause, als die Polizei anrückte. Mit Gummigeschossen und Tränengas trieb sie die Bewohner*innen auseinander. „Als ich einen Polizist filmte, richtete er sein Gewehr auf mich und sagte, dass er mich verhaftet werde. Meine Nachbarin wurde ins Gesicht geschlagen.“ Die Polizisten zerstörten nicht nur Fredericos Hütte – sondern auch seinen Traum endlich in Würde zu leben.
Wagner Moreira sitzt auf dem Beifahrersitz eines klapprigen Schulbusses und spricht nervös in sein Mobiltelefon. Seine langen Dreadlocks schwingen bei jedem Schlagloch durch die Luft. Moreira ist Aktivist der Wohnungslosenbewegung MSTB. Die Bewegung aus Salvador da Bahia ist langjährige Projektpartnerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das diesjährige Weltsozialforum (WSF), das in der Küstenmetropole stattfindet, ist für die MSTB ein Heimspiel. Mit mehreren Veranstaltungen ist die Bewegung an dem linken Mega-Gipfel beteiligt. Viele Fäden laufen bei Moreira zusammen.
Nach einer schier endlosen Fahrt durch einen dichten Wald aus rotem Backstein und Wellblech kommt der alte Schulbus auf einer Landzunge zum Stehen. Die mondänen Strandpromenaden und die touristische Altstadt von Salvador fühlen sich ganz weit weg an. Unweit vom Parkplatz steht eine verfallene Zementfabrik verlassen auf einem Hügel, am Horizont glitzert die Allerheiligenbucht. Die Mittagssonne knallt unbarmherzig auf den Asphalt. Auf einem Hang unterhalb des Parkplatzes lebten bis gestern noch hunderte Familien – bis die Polizei sie vertrieb. Von oben erinnert das nun kahle Grundstück an ein gehäutetes Tier. Sieben Mal haben Frederico und die Aktivist*innen der MSTB ihre Besetzung auf dem Hang aufgebaut. Sieben Mal wurde sie von der Polizei vertrieben.
Fotos von der Räumung des Quilombo Marielle Franco
In der Mitte des Geländes haben sich die ehemaligen Bewohner*innen zwischen zwei dicken Bäumen versammelt. Auf einer behelfsmäßig zusammengezimmerten Bühne steht Vera Guimarães. Die Aktivistin spricht mit voller Leidenschaft, ihre Stimme zittert: „Wir sind Kämpfer und werden zurückkehren. Daran werden auch die uns nicht hindern“. Mit „die“ meint Guimarães eine Gruppe von Polizisten, die das Geschehen von einem schattigen Platz oberhalb der Versammlung misstrauisch beobachtet. Die Polizisten tragen schusssicheren Westen. Ein Polizeibeamter hat den Finger auf dem Abzug seiner Waffe, ein anderer läuft demonstrativ durch die Reihen und filmt alle Anwesenden mit einer Handykamera. Frederico kommentiert: „Die behandeln uns wie Kriminelle.“ Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung sammeln unterdessen die Überreste der Besetzung ein. Am Nachmittag erinnert kaum noch etwas daran, dass hier noch vor zwei Tagen noch hunderte Menschen gelebt haben.
Die Wut über die erneute Vertreibung ist groß. Die Aktivist*innen der MSTB hatten das Gelände besetzt, um gegen die massive Wohnungsnot in Salvador zu demonstrieren – und um endlich ein Dach über dem Kopf zu haben. Für viele dieser Menschen gab es keine andere Möglichkeit, als zu besetzen. Die Armut steht den Versammelten ins Gesicht geschrieben. Auch für Frederico ist die Vertreibung eine Katastrophe. „Ich komme gerade bei Bekannten unter. Ich habe keine andere Möglichkeit – ich muss hierhin zurück.“
Der Befehl für die Räumung kam vom Gouverneur des Bundesstaates Bahia, Rui Costa von der Arbeiterpartei PT. „Die PT hat uns verraten“, schimpft die kleine, quirlige Aktivistin Guimarães. „Erst durch uns, nämlich die arme Bevölkerung, wurde Costa überhaupt gewählt. Nun werden wir wie Hunde behandelt.“ Dass die Räumung während des WSF stattfand, empfinden die Besetzer*innen als zusätzliche Provokation. Und: Das Gelände wurde geräumt, obwohl es für den sozialen Wohnungsbau ausgewiesen ist. Die Besetzer*innen wollen zurückkommen und haben der zukünftigen Besetzung bereits einen Namen gegeben: «Quilombo Marielle Franco». Eine Hommage an die linke Stadträtin aus Rio de Janeiro, die im März ermordet wurden.
Die Auseinandersetzung der «Quilombo Marielle Franco» ist ein typischer Fall für den Kampf um Wohnraum in der drittgrößten Stadt Brasiliens. In Salvador da Bahia sind Zehntausende Menschen wohnungslos – Tendenz steigend. Die Immobilien-und Grundstückpreise sind in den letzten Jahren massiv angestiegen. Gentrifizierungsprozesse machen auch vor der armen Vorstadt nicht halt. Besetzungen von sozialen Bewegungen werden oft mit brutaler Gewalt geräumt – obwohl sie faktisch legal sind. Die progressive brasilianische Verfassung von 1988 legt soziale Grundsätze der Stadt fest: Häuser und Freiflächen müssen demnach eine soziale Funktion erfüllen und Eigentümer können enteignet werden, wenn dies nicht der Fall ist. Mit dem 2001 verabschiedeten Stadtstatut-Gesetz bekam die Verfassung, zumindest theoretisch, Gültigkeit. Anspruch und Wirklichkeit klaffen allerdings weit auseinander. Die Verbindungen zwischen Justiz, Investor*innen und Immobilienspekulant*innen sind ein offenes Geheimnis. Die rechtlichen Möglichkeiten existieren somit häufig nur auf dem Papier. Konsequenz: Immer mehr Menschen landen auf der Straße oder sind von der Räumung bedroht.
Auch die „Quilombo Escada“ kämpft um ihre Zukunft. Die kleine Besetzung befindet sich am Rand einer lauten, stark befahrenen Straße. Ein steiler Pfad führt zu zwei Dutzend einfachen Holzhütten, die von hohen Bananenstauden eingekreist sind. Ein kleiner Bach, der quer über das Grundstück läuft, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Abwasserleitung. Hühner und Hunde haben es sich im Schatten bequem gemacht.
Vor fünf Jahren wurde das Gelände von der MSTB besetzt, heute leben hier 40 Familien. Doch die Zukunft ist ungewiss, die Bewohner*innen sollen weg. „Bei einer Räumung landen wir auf der Straße. Für uns gibt es keine Alternative“, sagt Antônio Conceição Gomes. Der 46-Jährige mit rotem Tanktop, Goldkette und Rosen-Tattoo wohnt seit fünf Jahren mit seiner Familie auf dem Gelände. Früher befand sich hier ein Energieunternehmen, heute gehört das Grundstück der Stadt. Diese will nun eine Gesundheitsstation auf dem Land bauen. „Das ist absurd“, schimpft Gomes. ,„Auf der anderen Seite der Straße gibt es bereits eine Gesundheitsstation – die aber seit mehreren Monaten geschlossen ist.“
Polizei und Stadtverwaltung bleiben hartnäckig. Vergangene Woche versuchten sie die Bewohner*innen auszutricksen. Den Besetzer*innen, von denen viele nicht lesen können, wurde eine Liste präsentiert, mit der sie sich offiziell registrieren lassen konnten – dachten sie anfänglich zumindest. Die Liste entpuppte sich als Schwindel, niemand unterschrieb. Gomes meint: „Wir werden hier nur weggehen, wenn wir eine alternative Unterkunft bekommen.“
Die MSTB kämpft jedoch nicht nur für Wohnraum, wie der Vollzeit-Aktivist Moreira betont. Die Bewegung will die Wurzeln der Probleme angreifen. Ein Hauptproblem in Salvador ist weiterhin der tiefankerte Rassismus. Die krassen Unterschiede in der afrobrasilianischen Hauptstadt Brasiliens, in der vier von fünf Bewohner*innen schwarz sind, sind augenscheinlich. Während in den reichen Stadtteilen überdurchschnittlich viele Weiße wohnen, leben in der armen Vorstadt fast ausschließlich schwarze Brasilianer*innen. Alle Besetzungen der MSTB tragen den Beinamen Quilombo. So hießen zur Kolonialzeit Niederlassungen von entflohenen Sklav*innen. Moreira meint: „Damit wollen wir an unser afrikanisches Erbe erinnern.“
Auch die Gewalt trifft vor allem die schwarze Bevölkerung. Salvador hat eine der höchsten Mordraten Brasiliens. Drogengangs und Polizei liefern sich regelmäßig schwere Gefechte. Auf dem Gelände einer MSTB-Besetzung wurden unlängst 12 Leichen gefunden, die wahrscheinlich Opfer der Polizei oder einer Drogengang wurden. Für die Bewegung ist die Gewalt eine große Herausforderung. Allerdings ist es gelungen den Drogenhandel aus den Besetzungen fernzuhalten. „Das war ein langer Prozess von über 15 Jahren. Wir leisten immer auch ein Stück Sozialarbeit“, sagt Moreira.
Dass die Bewegung durchaus Erfolge feiert, zeigt auch die Besetzung „Quilombo Paraíso“. Die Besetzung befindet sich am äußersten Zipfel von Salvador in einem grünbewachsenen Tal. Vor acht Jahren wurde das Gelände von der MSTB besetzt, heute leben hier 120 Familien. Die Gemeinde gleicht einem kleinen Dorf. Von oberhalb der Besetzung hat man einen atemberaubenden Blick auf das Meer und ein angrenzenden Naturschutzgebiet. Auf einer mit Palmen gesäumten Weide grasen Pferde. Unterhalb befinden sich die Holzhütten der Besetzer*innen. Eine improvisierte Stromleistung läuft oberhalb von einer Schotterstraße. In der Besetzung gibt es mehrere Gemeinschaftsgärten. Die ökologische Landwirtschaft und der Naturschutz stehen auf der Agenda der Bewegung.
Rita Ferreira war damals dabei, als das Gelände besetzt wurde. Bei einem Rundgang über das Gelände sagt die charismatische Aktivistin mit den markanten Gesichtszügen: „Unser Kampf dreht sich nicht nur um die eigenen vier Wände. Wir kämpfen auch für das Gute Leben.“ Die MSTB versucht in ihren Besetzungen Konzepte wie das indigene „Buen Vivir“ oder afrobrasilianische, alternative Lebensweisen umzusetzen.
Der jahrelange Kampf der MSTB scheint sich zu lohnen. Nach acht Jahren steht endlich der Bau von Sozialwohnungen in Sicht. Mit einem Infrastrukturprogramm soll bald mit dem Bau begonnen werden. Ferreira ist jedoch skeptisch. Mehrmals wurde bereits die Errichtung von Sozialwohnungen versprochen – passiert ist bisher nicht. Die MSTB hat nun ein Ultimatum gestellt: wenn wieder nichts geschieht, baut die Bewegung eben selbst. Ein Prototyp für die zukünftigen Wohnungen gibt es schon. Unterstützung erhält die Bewegung von einer Architektur-Fakultät. Aber Rita meint: einfach nur Wohnungen zu bauen, bringt nichts. „Wir brauchen auch Schulen und Gesundheitseinrichtungen.“ Viel zu oft sind Besetzer*innen nämlich aus Sozialwohnungen wieder ausgezogen – wegen der schlechten Qualität, der peripheren Lage und der Gewalt.
Und wie geht es weiter für die Wohnungslosen aus Salvador? Die aktuelle politische Lage verspricht nichts Gutes. Als sich Moreira verabschiedet, sagt er: „Gerade jetzt müssen wir kämpfen.“ Kurz denkt er nach, führt aus: „Denn nur wenn wir kämpfen, können wir etwas verändern.“
Fotos: MSTB, Verena Glass