Wem nützt das EU-Mercosur-Abkommen?

Detlef Nolte & Gerhard Dilger

 

Pro: Geopolitisches Pfund

Das Abkommen wird auf beiden Seiten Gewinner und Verlierer produzieren, aber nach einer Studie der LSE (im Auftrag der EU) insgesamt den Handel ausweiten und den Wohlstand in beiden Regionen, wenn auch bescheiden, steigern. Es gilt die Chancen zu nutzen und nicht nur auf die Risiken zu verweisen. Handelsabkommen stehen einer aktiven staatlichen Politik zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Exportförderung nicht im Wege; zumal bestimmten Branchen lange Übergangszeiten eingeräumt werden.

Das Abkommen sollte auch unter geoökonomischen und geopolitischen Gesichtspunkten bewertet werden. Im Spannungsfeld zwischen China und den USA müssen sich Europa und Südamerika positionieren. Es geht um die Durchsetzung von Normen und Regeln im Handel und in den internationalen Beziehungen. Die südamerikanischen Staaten müssen miteinander kooperieren, um in der internationalen Politik eigenständig bestehen zu können. Der Mercosur braucht den Außenanker EU; andernfalls erhöht sich das Risiko, dass der Wirtschaftsblock auseinanderfällt.

Die EU ist nicht der wichtigste Handelspartner und Importeur von Rohstoffen aus dem Mercosur, sondern China. Dies gilt insbesondere für agrarische Produkte wie Soja und Rindfleisch, die für die Abholzung von Regenwald verantwortlich gemacht werden. China ist auch der Hauptexporteur von industriellen Produkten, die den einheimischen Produzenten in den Mercosur-Ländern Konkurrenz machen. Der ehemalige uruguayische Präsident José „Pepe“ Mujica, einer der intellektuellen Köpfe der Linken, hat immer wieder gefordert, Europa müsse ein Gegengewicht zu China in Lateinamerika bilden, und das Mercosur-EU-Abkommen explizit unterstützt.

Die EU ist der zweitwichtigste Handelspartner des Mercosur, vor den USA. Und europäische Unternehmen sind die wichtigsten ausländischen Investoren in der Region. Mit dem Abkommen kann sich die EU in Südamerika geoökonomisch und geopolitisch gegenüber China und den USA behaupten und den offenen, regelbasierten Welthandel verteidigen. Damit können europäische Umweltstandards durchgesetzt werden, zumindest bei Produkten, die in die EU exportiert werden.

Handelsverträge können einen politischen Hebel an die Hand geben, den es zu nutzen gilt. Es ist leichter, den Regenwald zu schützen, wenn Brasilien und die anderen Mercosur-Staaten in Abkommen eingebunden werden, um Netzwerke zum Schutz der Umwelt auszubauen und gemeinsam Druck auf Brasilien auszuüben. Umweltschutz und Handel schließen sich nicht aus. Europa hat als Handelsmacht Gewicht, und die EU verfügt damit über Gestaltungsmacht, die sie auch nutzen sollte.

Prof. Dr. Detlef Nolte ist Associate Fellow im Amerika-Programm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

 

Contra: Neokoloniales Projekt

Unter dem Motto „Global Europe“ versucht die EU-Kommission seit 2006, „ihre“ Firmen wettbewerbsfähiger zu machen und dem Globalen Süden eine neoliberale Handelspolitik aufzuzwingen. Durch das im Juni 2019 angekündigte Assoziationsabkommen mit dem Mercosur würde die Rekolonialisierung Südamerikas weiter vorangetrieben. Dies aber liegt nicht im Interesse der Menschen. Sollte der Deal tatsächlich unterzeichnet und ratifiziert werden, wäre das vor allem ein Triumph transnationaler Konzerne und ihrer Profitlogik.

In der internationalen Arbeitsteilung spielt Lateinamerika überwiegend die Rolle des Rohstofflieferanten. Darauf sollen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay nach den Emanzipierungsversuchen des frühen 21. Jahrhunderts offenbar wieder dauerhaft festgenagelt werden. Von der schrittweisen Senkung der Zollschranken profitieren dort bestenfalls das Agrobusiness und der Importsektor; Kleinbauern, Arbeiterinnen und Indigene bezahlen die Festschreibung des Systems mit der weiteren Zerstörung ihrer Rechte und Lebensgrundlagen.

Die geplante Liberalisierung des Handels würde Lohndrückerei und Stellenabbau verschärfen, europäische Firmen sollen jährlich vier Milliarden Euro Abgaben einsparen. Neue Geschäftsmöglichkeiten verspricht man sich auch im Telekom- und IT-Bereich. Sollen nun auch Autoteile um die halbe Welt geschippert werden? Neben einer auch ökologisch unsinnigen Ausweitung des Welthandels beharren die EU-Verhandler auf verschärftem Patentschutz, was die Versorgung der Südamerikaner etwa mit bezahlbaren Generika aushöhlen würde. Bei Regierungskäufen, die oft zur Stärkung einheimischer Produzenten genutzt werden, sollen EU-Firmen gleichberechtigt mitspielen können. Für Mitverantwortung bei Umweltverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen sind aber keine Sanktionen vorgesehen.

Mit den rechten Regierungen Brasiliens, Paraguays und Uruguays hat die EU leichtes Spiel. Es ist skandalös, dass Jair Bolsonaro und seine Militärs strategische Partner eines demokratischen Europas sein sollen. Argentiniens sozialdemokratischer Präsident Alberto Fernández ist selbstbewusster, doch er braucht politische Unterstützung bei Umschuldungsverhandlungen.

„Vampirverträge“ hat Susan George von Attac die „Freihandels“abkommen genannt. Kommen sie nämlich ans Tageslicht, steht es schlecht um sie, einer demokratischen Debatte halten sie nur selten stand. Auch deshalb werden die Details des EU-Mercosur-Abkommens nur scheibchenweise bekanntgemacht. Will sich die EU des Friedensnobelpreises würdig erweisen, muss sie sich vom neoimperialen Geist verabschieden, der auch diesen Vertrag prägt.

Gerhard Dilger leitet das Cono-Sur-Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires.

Internationale Politik 4, Juli/August 2020; S. 112-113

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